Zur kantischen Rechtslehre

1) Die ganze Crux der kantischen Rechtslehre liegt meines Erachtens darin, wie aus einem formalen Gesetz der praktischen Vernunft, formuliert als Kategorischer Imperativ, zu einer Idee von individuellen Freiheits-Rechten und zu einer Idee sozialer Gerechtigkeit übergegangen werden kann, da eine konkrete Einsicht in die andere Person und ihrer Rechte und der daraus folgenden, praktisch-logischen Konsequenz der Gerechtigkeit nicht möglich ist.

Anders gesagt: Es ist zwar über Umwegen eventuell möglich, dem Wollen der praktischen Vernunft eine Einsicht in andere Personen zu unterstellen und sich zu einem sich-selbst-verpflichtenden Wollen durchzuraffen,1 trotzdem wird mit dem Insistieren auf eine bloße formale Gesetzgebung in der Begründung der Moral und des Rechtsbegriffes ständig das fehlende Prinzip konkreter Interperson und konkreter Einsicht in eine Wertwirklichkeit verschoben bzw. nur supponiert.

Warum soll ich mich einem höchst komplexen, formalen Gesetz unterwerfen – „mache die Maxime deines Handelns zur allgemeinen Gesetzgebung“ – wenn ich gar nicht spontan durch Freiheit einen sittlichen Wert auf eine andere Person beziehen kann, bzw. eine andere Person als solche mit eigener Freiheit und eigenem Recht nicht erkennen kann? Wenn ich erst durch Prüfung einer Maxime, ob sie allgemeintauglich ist oder nicht, erkenne, was rechtens und gut ist, ist das nicht ein sehr prekäres und unsicheres Unternehmen? Nach welchen Kriterien erkenne ich nach der Tauglichkeitsprüfung eines allgemeinen Gesetzes den sittlichen und rechtlichen Wertcharakter eines Gebrauches von Freiheit? Wäre nicht jeder Gebrauch der Freiheit schon auf eine vorhergehende Einsicht in den Wert und Sinn des Gebrauches (des Handelns) abhängig? Ein freies Handeln (ein sittlicher und rechtlicher Gebrauch der Freiheit) kann doch nur als Folge eines schon erkannten Zweckbegriffes erkannt und beurteilt werden?

Die geistigen Turnübungen der Prüfungen des Gebrauches der Freiheit erlauben m. E. immer erst nachträglich und zu spät die Erkenntnis anderer Freiheit und die Erkenntnis von Wert, und selbst wenn solche Erkenntnis als „Erkenntnis“ dann ausgegeben werden soll, so ist diese Beurteilung wiederum nur einem bereits vorgegebenen Schema allgemeintauglicher Wertanschauungen geschuldet, nicht von sich her als werthaft eingesehen!? Ich verstehe gut die intuitive Kritik eines Nietschzes, der gesagt haben soll, der Kategorische Imperativ ist eine gefährliche Drohung.

Es ist viel zu umständlich und langatmig, etwas auf seine Rechtmäßigkeit und Sittlichkeit erst dann zurückführen zu können, wenn man den diesbezüglichen Gebrauch der Freiheit einer Tauglichkeitsprüfung unterworfen hat. Das ist eine typische Frage für einen Verfassungsgerichtshof, der stets eine Beschwerde oder Klage anhand des verfassungsmäßigen Gleichheitsprinzip auf Recht oder Unrecht prüft. Wir können aber darauf nicht warten, sondern im geistigen Akt ist die Intention des anderen erkennbar mit allen Implikationen übertragener Freiheit und dynamisch geforderter Gleichberechtigung. 2

Wird mir ein Recht oder ein Ethos und generell eine andere Person erst durch das Denken eines formalen Gesetzes bewusst, durch Vermeidung eines inneren Widerspruches, eventuell noch durch Denken eines Endzweckes und durch ein sich-selbst-verpflichtendes Wollen, so wird die sittliche Einsicht erschlichen (petitio principii).

Durch das Fehlen einer ausdrücklichen Interpersonallehre – nach Fichte in dem Wechselspiel von Auffordern und Aufgefordertsein zu begründen – versteigt sich Kant m. E.:

  1. a) nicht nur in eine abstrakte, äußerliche Rechtsbegründung, sondern ebenso b) in eine eigenartige Postulatenlehre von der Existenz Gottes, was die sittliche Begründung moralischen Handelns – und indirekt somit die Begründung rechtlichen Handelns – betrifft.

Der „praktische“ Gottesbeweist verläuft in dieser Richtung: Da dem endlichen Vernunftwesen zwar das formale Gesetz unter allen Umständen auferlegt ist, kategorisch, es aber nicht garantieren kann, dass die Natur nach diesen Gesetzen bestimmt werden könne, bedarf es der Existenz Gottes, der sowohl Urheber des Sittengesetzes wie des Naturgesetzes ist. Gottes Existenz vermag die Einheit von formalem Gesetz und materialer Erfüllung im Begriff des höchsten Gutes, wenn auch mit dem Vorbehalt der Würdigkeit zu dieser Glückseligkeit, garantieren und herzustellen. Das aus dem „Kategorischen Imperativ“ folgende Sittengesetz bekommt aber damit einen eigenartigen Geschmack von Eudaimonismus, gerade etwas, das Kant mit einer bloß formalen Gesetzgebung ja vermeiden wollte. (Schopenhauer, der einmal Kant hoch emporhebt, um ihn ihm nächsten Augenblick wieder fallen zu lassen, hat hier wohl zurecht diese Glückseligkeitslehre kritisiert.)

2) Ich möchte jetzt anhand konkreter Definitionen und Zitate die Rechtsauffassung Kants darstellen, um meine obigen Bedenken zu untermauern.
Es ist zweifellos eine auffallende, ehrenwerte Tugend Kants, dass er seinen philosophischen Ausführungen und Erörterungen überreiche Definitionen der Begriffe vorangehen lässt! Hier ist er einmalig und unübertroffen! So besonders auch am Beginn der „Metaphysik der Sitten“ (1. Auflage A 1797; 2. Auflage B 1798).
Er beginnt auf der sinnlichen Ebene der Begehrungsvermögen und der Lust und Unlust (des Gefühls) (ebd. A, S 1 – 4), schreitet dann voran zu Begriffen der praktischen Vernunft wie Willkür und Wunsch (ebd. S 5), um schließlich zum Hauptbegriff der späteren Begründung von Recht zu kommen, zum Begriff der Freiheit (ebd. S 6.).
Deren Gebrauch begründet (anscheinend) positiv das Recht : „(…) das Vermögen der reinen Vernunft für sich selbst praktisch zu sein“. Aber, so meine Bedenken: Das ist nur abstrakt und verkürzte Rede, bloß gedacht ohne anschaulichen Übergang zu einer anderen Person und ohne Übergang zu einer Werthaftigkeit der Liebe und zur Anschauung von Gerechtigkeit.

„Die Freiheit der Willkür ist jene Unabhängigkeit ihrer Bestimmung durch sinnliche Antriebe; dies ist der negative Begriff derselben. Der positive ist: das |Vermögen der reinen Vernunft für sich selbst praktisch zu sein. Dieses ist aber nicht anders möglich, als durch die Unterwerfung der Maxime einer jeden Handlung unter die Bedingung der Tauglichkeit der erstern zum allgemeinen Gesetze. Denn als reine Vernunft, auf die Willkür unangesehen dieser ihres Objects angewandt, kann sie als Vermögen der Principien (und hier praktischer Principien, mithin als gesetzgebendes Vermögen), da ihr die Materie des Gesetzes abgeht, nichts mehr als die Form der Tauglichkeit der Maxime der Willkür zum allgemeinen Gesetze selbst zum obersten Gesetze und Bestimmungsgrunde der Willkür machen und, da die Maximen des Menschen aus subjectiven Ursachen mit jenen objectiven nicht von selbst übereinstimmen, dieses Gesetz nur schlechthin als Imperativ des Verbots oder Gebots vorschreiben. Diese Gesetze der Freiheit heißen zum Unterschiede von Naturgesetzen moralisch. So fern sie nur auf bloße äußere Handlungen und deren Gesetzmäßigkeit gehen, heißen sie juridisch; (…)“ (I. Kant, Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Bd. 8, hrsg. v. Wilhelm Weischedl, 19782, (abk.=MdS), S 318=AB 6.7) (Hervorhebungen von mir).

Die Bedingungen der Tauglichkeit oder ein allgemeines Gesetz der Kompatibilität von Freiheit zu anderer Freiheit (endlicher Vernunft) soll fortan der Bestimmungsgrund der Freiheit in der Willkür sein. Was heißt das wirklich? Was ist dessen transzendentale Bedingung der Wissbarkeit?

Es geht um die Herausarbeitung eines eigenen Gegenstandes der menschlichen Erkenntnis, um die Bestimmung des Rechts und der damit verbundenen Systematik seiner Entfaltung. MdS:

§ B Was ist Recht? Der Begriff des Rechts, sofern er sich auf eine ihm correspondirende Verbindlichkeit bezieht, (d.i. der moralische Begriff desselben) betrifft erstlich nur das äußere und zwar praktische Verhältniß einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Facta aufeinander (unmittelbar oder mittelbar) Einfluß haben können. Aber zweitens bedeutet er nicht das Verhältniß der Willkür auf den Wunsch (folglich auch auf das bloße Bedürfniß) des Anderen, wie etwa in den Handlungen der Wohlthätigkeit oder Hartherzigkeit, sondern lediglich auf die Willkür des Anderen. Drittens, in diesem wechselseitigen Verhältniß der Willkür kommt auch gar nicht die Materie der Willkür, d.i. der Zweck, den ein jeder mit dem Object, was er will, zur Absicht hat, in Betrachtung, z.B. es wird nicht gefragt, ob jemand bei der Waare, die er zu seinem eigenen Handel von mir kauft, auch seinen Vortheil finden möge, oder nicht, sondern nur nach der Form im Verhältniß der beiderseitigen Willkür, sofern sie bloß als frei betrachtet wird, und ob durch die Handlung eines von beiden sich mit der Freiheit des andern nach einem allgemeinen Gesetze zusammen vereinigen lasse.Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann. (MdS, ebd. S 336.337 = A 31.32) (Hervorhebungen von mir).

Nach dieser kurz zitierten gegebenen Definition des Rechtes, das sozusagen schon das Ergebnis und Endprodukt bisherigen Begriffszerlegungen darstellt (MdS, AB S 1 – 31), hat es den Anschein, als sei das Recht ein rein äußeres, „praktisches“ Verhältnis von Personen zueinander und entsprechend in formalen Regeln und Positivismen darstellbar.

Hier zu Beginn des Rechtsbegriffes und der folgenden Systematik des Begriffes scheint noch eine vage Verschränkung von rechtlichem und moralischem Handeln auf, aber ist diese Verschränkung methodisch eingeholt und beibehalten? (In Klammer rutscht Kant ein intuitives „moralisch“ hinein: „Der Begriff des Rechts, sofern er sich auf eine ihm correspondirende Verbindlichkeit bezieht, (d.i. der moralische Begriff desselben) betrifft erstlich nur das äußere und zwar praktische Verhältniß einer Person gegen eine andere.“)3

  1. a. W., das Rechthandeln ist im weitesten Sinne noch eine moralische Pflicht, ein Kategorischer Imperativ, aber für sich betrachtet und zunehmend mit der Beschreibung des Rechtsbegriffes weicht die moralische Begründung und das äußere Verhältnis von Freiheit zu Freiheit genügt: „Das strikte Recht kann auch als die Möglichkeit eins mit jedermanns Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmenden durchgängigen wechselseitigen Zwanges vorgestellt werden.“ (ebd. S 339 =AB 36).

Wenn allein der Gebrauch der Freiheit nach einer allgemeinen Regel den Rechtsstatus und den Rechtsbegriff wesentlich konstituiert und festlegt – und nicht ein moralisches und rechtliches Empfinden interpersonaler anderer Freiheit und rechtlich abgeleiteter Gerechtigkeit – welches kritisches Korrektiv gäbe es noch, diese rechtlichen Regeln selbst einzuschränken?
Wenn man diese ersten §§ der MdS weiterliest, kommen man bald zu recht autoritären Aussagen: So heißt es z. B. in § 42 der MdS hinsichtlich des Naturzustandes: „Niemand ist verbunden, sich des Eingriffs in den Besitz des anderen zu enthalten, wenn dieser ihm nicht gleichmäßig auch Sicherheit gibt, er werde ebendieselbe Enthaltsamkeit gegen ihn beobachten (…)“ (ebd. S 424). Also muss zwangsweise die Autorität des Staates eingeführt werden! Wird hier nicht sehr misstrauisch vom Menschen gedacht? Kant fährt fort: „(…) es ist nicht nötig, die wirkliche Feindseligkeit abzuwarten; er ist zu einem Zwange gegen den befugt, der ihm schon seiner Natur nach damit droht.« (ebd. S 425). Es ist das Gedankengut eines Hobbes, der keine andere Möglichkeit sah, als mit übergroßer Gewalt und Macht das Recht und die Freiheit des einzelnen zu garantieren. 4

Wenn ich an das Ergebnis von oben § B, A 33 (MdS, ebd. S 336) nochmals anknüpfe und dazu zu § C übergehe (MdS, ebd. S 337), so scheint mir der Mangel an Erkenntnis anderer Freiheit und der Mangel an Werthaftigkeit der Beziehung und werthafter Gerechtigkeit immer stärker hervorzutreten: Das „allgemeine Gesetz“ verhindert geradezu, einen moralischen (intentionalen) Übergang zu einer anderen Person in einem geistigen Akt zu gewinnen – und unterdrückt jedes kreative Denken, größere Freiheit und Gerechtigkeit zu erreichen. Die Vernunft, d. h. ein bereits depravierter Begriff von Vernunft, wird so beschrieben, dass sie nur als einschränkendes Werkzeug des Gebrauches von Freiheit verstanden werden kann, anstatt als ursprüngliche und vielseitige Kraft der Selbstbestimmung und des Austausches, der Kommunikation, der Liebe, der Gerechtigkeit.
Hier zum eingeschränkten Vernunftbegriff:

„ § C (….) Also ist das allgemeine Rechtsgesetz: handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne, zwar ein Gesetz, welches mir eine Verbindlichkeit auferlegt, aber ganz und gar nicht erwartet, noch weniger fordert, daß ich ganz um dieser Verbindlichkeit willen meine Freiheit auf jene Bedingungen selbst einschränken solle, sondern die Vernunft sagt nur, daß sie in ihrer Idee darauf eingeschränkt sei und von andern auch thätlich eingeschränkt werden dürfe; und dieses sagt sie als ein Postulat, welches gar keines Beweises weiter fähig ist. — Wenn die Absicht nicht ist Tugend zu lehren, sondern nur, was recht sei, vorzutragen, so darf und soll man selbst nicht jenes Rechtsgesetz als Triebfeder der Handlung vorstellig machen. (MdS. ebd. S 337.228) (Hervorhebungen von mir).

Für das Rechtsgesetz darf es keine „Triebfeder“, d. h. keine sinnliche Kraft geben, vielmehr ist durch die Vernunft und das Rechtsdenken die Sphäre eines „Postulates“ entworfen, „welches gar keines Beweises weiter fähig ist.“ Der Begriff „Postulat“ ist hier sehr interessant und wichtig, wenn auch unzureichend eingeholt. Ebenso ist dieser selbsteinschränkende Vernunftbegriff interessant und zugleich höchst fraglich. Es liegt diesem Vernunftbegriff eine anscheinend allgemeingültige Regel zugrunde: Dass der Freiheitsgebrauch durch die praktische Vernunft nach einem Autonomiegesetz geregelt ist. Es ist hier für mich nicht Zeit und Raum, das zu kritisieren. Der dauernde Rekurs auf die Maxime unsittlichen oder sittlichen Gebrauchs der Freiheit in allen vier Hauptstücken der RGV holt nie mehr a) den Problemhorizont dieser autonomen Gesetzgebung ein, noch b) das Referenzprinzip der zu gebrauchende Freiheit, nämlich in Hinsicht interpersonaler Liebe und der Idee von Gerechtigkeit und Sinn. Es läuft immer auf einen ausschließenden, disjunktiven Begriffe von Freiheit hinaus, was gesetzestauglich und verallgemeinerungsfähig ist und was nicht. Was der Verallgemeinerung einer subjektiven Maxime zuwiederläuft, widerspricht der Selbstgesetzgebung der Freiheit bzw. der praktischen Vernunft, was erlaubt ist, ist Äußerung der freien Selbstgesetzgebung. Das hat aber nichts mehr mit dem originären Begriff der Religion oder mit einer höheren Sinnidee durch positiven Offenbarung zu tun.

3) Zur Verwendung des Begriffes „Postulat“ möchte ich verweisen auf andere Schriften Kants. Kant ist wieder bemerkenswerter Definitionskünstler: Postulate sind Forderungen bestimmter theoretischer Voraussetzungen (KpV, A 220. 216, 238). Sie sind Voraussetzungen eines bestimmten Daseins (KpV, A 241. 242). Auf den Einwand eines Philosophen, ob das Postulieren nicht ein einfaches Wünschen sei, gibt KANT die Antwort:

„(…) Hier aber ist es ein Vernunftbedürfniß, aus einem objectiven Bestimmungsgrunde des Willens, nämlich dem moralischen Gesetze, entspringend, welches jedes vernünftige Wesen nothwendig verbindet, also zur Voraussetzung der ihm angemessenen Bedingungen in der Natur a priori berechtigt und die letztern von dem vollständigen praktischen Gebrauche der Vernunft unzertrennlich macht. Es ist Pflicht, das höchste Gut nach unserem größten Vermögen wirklich zu machen; daher muß es doch auch möglich sein; mithin ist es für jedes vernünftige Wesen in der Welt auch unvermeidlich, dasjenige vorauszusetzen, was zu dessen objectiver Möglichkeit nothwendig ist. Die Voraussetzung ist so nothwendig als das moralische Gesetz, in Beziehung auf welches sie auch nur gültig ist.“ (KpV A 259; Bd VII, 278)

KANT nennt die postulierten Objekte „in der Natur der Dinge liegende „Bedingungen der Möglichkeit des höchsten Gutes, aber nicht zum Behuf einer beliebigen spekulativen Absicht, sondern eines praktisch notwendigen Zweckes des reinen Vernunftwillens, (…)“ (KpV A 258, Bd. VII, 277)

Die Postulate gehen unmittelbar aus dem sittlichen Willen, mittelbar aus dem Sittengesetz hervor: „Die (Postulate)gehen alle vom Grundsatz der Moralität aus, der kein Postulat, sondern ein Gesetz ist, durch welches Vernunft mittelbar dem Willen bestimmt, welcher Wille eben dadurch, dass er so bestimmt ist , als reiner Wille, diese nothwendige Bedingungen der Befolgung seiner Vorschrift fodert“ (KpV A 238; Bd VII, 264)

Die Postulate sind etwas „dessen Begrif in keiner für uns möglichen Erfahrung, mithin für den theoretischen Vernunftgebrauch hinreichend, seiner objectiven Realität nach bewiesen werden kann, dessen Gebrauch aber zu bestmöglichen Bewirkung jenes Zwecks doch durch practische reine Vernunft geboten ist, und mithin als möglich angenommen werden muß.“ (KdU, B 457f)

Der Postulatsbegriff ist nach Kant deshalb nicht leer, sondern drückt ein ganz bestimmtes Verhältnis eines praktischen Gesetzes zur Realität aus.

Aber wie wäre das methodisch zu begreifen? Hier rekurriere ich jetzt auf die Analyse von R. Lauth. 5

  1. Lauth arbeitet verschiedene Modi der Erkenntnis heraus. Es ist ein Unterschied, ob nur theoretisch die Vernunft eine Beziehung zum Dasein der Dinge setzt, oder ob eine praktische Forderung vorliegt, wodurch implizit eine Synthesis zwischen praktischem Gesetz und Dasein vorausgesetzt wird. Kant spricht zwar von Möglichkeit einer praktischen Bestimmung, doch nach Ansicht Lauths ist diese praktische Bestimmung des Willens in ihrem Rechtsgrund methodisch nicht durchreflektiert und begründet. Wie eine praktische Setzung in der Art der sittlichen Forderung im praktischen Gesetz möglich sein soll, das setzt nicht nur einen theoretischen Begriff von Freiheit voraus, sondern bedeutet auch, durchaus mit kantischen Ausdrücken erklärt, „Formung“, „Übereinstimmung“, „Unterworfensein“. Lauths nennt diese Formung oder Übereinstimmung eine Wirklichkeit, weil das praktische Gesetz wirkt und wirklich die Realität bestimmt. Kant verschleiere mit seinen Wendungen wie „nur in praktischer Hinsicht“ diese Wirklichkeit einer gesetzten Synthesis zwischen praktischem Gesetz und Realität. Aber gerade das wäre die wesentliche Aufgabe der Transzendentalphilosophie, die „eigentümliche Bedeutung der Wirklichkeitserkenntnis zu klären.“6

Das Verhältnis des reinen praktischen Gesetzes zur Wirklichkeit, worin der Begriff einer anschaulichen Bestimmtheit des Erfahrungsgegenstandes erkennbar ist (im Erkenntnisvermögen), ist eine a priori notwendige Idee, d. h. die Sinnidee oder der Sinnbegriff.

Die Sinnidee oder der Sinnbegriff des Rechts muss für den Rechtsbegriff somit im Hintergrund konstitutiv notwendig vorausgesetzt werden.

Die eine Synthesis von Wollen und praktischer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit durch die Sinnidee (den Sinnbegriff) ist letztlich ein Verhältnis von Wert und Interpersonalität im Geist der Liebe. Prinzipiell geht somit – untergeordnet dem moralischen Verhältnis – die Deduktion des Rechtes nicht autoritär von monarchischen oder parlamentarischen Gesetzesversammlungen aus, sondern von der sittlichen Interperson und von einem sittlichen Wert.

Anders gesagt: Kant verschleiert mit seinem „praktischen Gesetz“ der Vernunft die methodische Konsequenz, dass es doch eine vorausgehende Erkenntnis anderer Freiheit und intentionaler Gemeinsamkeit geben müsse, mithin eine theoretische Sichtbarkeit und Erkennbarkeit von anderer Freiheit, wechselseitige Anerkennung, gemeinsame Wertanschauung, ehe ein Rechtsverhältnis abgeleitet werden kann und ein „praktisches“ Gesetz der Vernunft des Rechts für alle folgt.
Als Gegenantwort zur theoretischen Sichtbarkeit und Erkennbarkeit von Freiheit und Wert und Sinn ist aus der Sicht der KrV wahrscheinlich der Einwand zu erwarten, dass die kritische Philosophie die theoretische Erkennbarkeit der Freiheit leugnet, doch ein grundsätzliches Dass einer praktischen Freiheit (in der Erfahrung) wird selbst von Kant zugegeben; zumindest stellt er diese, so können wir jetzt transzendental-präziser sagen, Sinnforderung.

„Wie ein solches (Freiheitsvermögen) möglich sei, ist nicht eben so nothwendig beantworten zu können, da wir uns eben sowohl bei der Causalität nach Naturgesetzen damit begnügen müssen, a priori zu erkennen, daß eine solche vorausgesetzt werden müsse, ob wir gleich die Möglichkeit, wie durch ein gewisses Dasein das Dasein eines andern gesetzt werde, auf keine Weise begreifen und uns desfalls lediglich an die Erfahrung halten müssen.“ (KrV A, 449; Bd IV, 430)

5) Die Rechtsbegründung Fichtes erfolgt aus der höheren Warte einer apriorischen Vernunftgesetzgebung, wodurch eindeutig der Begriff des Rechts ein synthetischer Begriff a priori ist – und nicht erst durch Tauglichkeitsprüfung und nachfolgendem Staatsgesetz (Zwangsgesetz) begründet werden kann.
M. a. W.: Der apriorische, jeder endlichen Vernunft zukommende Rechtsbegriff, wird aus dem Wesen der endlichen Vernunft selbst abgeleitet. Die Freiheit des einzelnen ist ein Naturrecht, abgeleitet aus der Vernunft des Denkens von Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung. Naturrecht und Vernunftrecht sind im Prinzipiellen eins.

Philosophisch einsichtig zu machen wäre das jetzt durch die Interpersonalitätstheorie und der ihr spezifischen Erkenntnislehre. Dazu verweise ich auf andere Blogs: Der Beweis wird dort so geführt, dass als Bedingung der Möglichkeit (der Wissbarkeit) des Selbstbewusstseins die apriorische Notwendigkeit einer Vielheit von Personen und die Einheit einer höchsten Werthaftigkeit vorausgesetzt werden muss, wodurch die Einheit und Vielheit individueller Selbstbestimmung ausgegliedert werden kann. Eine – nicht die einzige – Folge dieser mannigfaltigen Einheit in einem höchsten Wert ist dabei das Wechselverhältnis freier Personen im Begriff des Rechts.

Das Wechselverhältnis im Rechtsbegriff ist bereits eine materiale und formale Ableitung aus der über-individuellen Vernunfteinheit, woraus ein „Urrecht“ jedem Individuum a priori zukommt. Somit entstammt der Rechtsbegriff nicht einem Algorithmus der Allgemeinheit oder einem staatlichen Sanktionsmechanismus, sondern ist eine übergeordnete Idee oder Regelung des Wechselverhältnisses (des wechselvollen Zusammenlebens) zwecks Realisierung einer apriorischen Sinnidee, oder anders gesagt, zwecks Realisierung von Gemeinsamkeit und Liebe.

Ein nachfolgendes Zwangsgesetz in einem Staate muss deshalb nicht dieser ursprünglichen Intention des Rechtsbegriffes widersprechen; ja, es ist unter gewissen Umständen ebenfalls als notwendig zu deduzieren.
Die primäre Grundlegung und die Sinnbegründung des Rechts liegt aber in dieser Erlaubnisgesetzgebung größtmöglicher individueller wie gemeinsamer Freiheit und Liebe, d. h. auch in der Freiheitsgewährung größtmöglicher Gerechtigkeit.

Da es in der Interpersonallehre keine notwendige Determiniertheit des Anderen als solchen geben darf, gibt es auch in der Rechtslehre keine vollständige, totalitäre Bestimmtheit des freien Vernunftwesens. Die anschauliche Bestimmtheit einer freien Wirkung und freien Zwecksetzung im notwendigen Anerkennen anderer Personen kann nicht und darf nicht eine totalitär bestimmte sein, weil, ex definitione, apriorisch notwendig im Denken (nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre) eine freie Wirkung der anderen Person angesetzt werden muss.

Das persönliche Ur-Recht ist deshalb nicht durch ein formales, allgemeines Gesetz bedingt, oder darf nicht beliebig unter ein allgemeines Gesetz subsumiert oder staatlich reglementiert werden.
Dies jetzt weiter zu verfolgen und durchzuspielen, wäre eine lohnenswerte Aufgabe: Das Naturrecht, gleich Vernunftrecht, als Synthesis des Sinns von freier Wirkung (Wollen) und Realität in interpersonaler Liebe und interpersonale Werthaftigkeit gesehen, wird den Rechtsbegriff sozial und dynamisch auffassen: Was erzieht und fördert die Freiheitsverwirklichung des einzelnen wie eines ganzen Staates, und was hindert diese Freiheitsverwirklichung.

© Franz Strasser, 17. Mai 2023

 

1Bernward Grünewald, Praktische Vernunft, Modalität und transzendentale Einheit. Das Problem einer transzendentalen Deduktion des Sittengesetzes. Erschienen in: Kant. Analysen – Probleme – Kritik, hrsg. v. H. Oberer und G. Seel, Hans Wagner gewidmet, Würzburg 1988, S 127 – 167. B. Grünwald deutet Kants Formulierungen eines Kategorischen Imperativs als formales allgemeines Gesetz eines sittlichen Handelns von einem sich-selbst-verpflichtenden Wollen her.

2 R. Lauth hat in seiner Ethik das so beschrieben: „Daß die Intention des Anderen im Bewußtsein nicht unerkennbar bleiben kann, ist durch die Transzendentalität des Bewußt-Seins bedingt. Die Fremdintention tritt ja nicht von außen (als von einem Ding an sich herkommend) ins Bewußtsein ein, sondern die konkret miteinander kommunizierenden Personen greifen in demselben einen Bewußt-Sein akthaft ineinander. Wir haben den Anderen nur, wenn wir ihn in unserer Vorstellung konstituieren, also seine Intention selber setzen, d. i. mit Akten unseres Gemüts erstellen. Ineins damit aber muß die so angeschaute und verstandene Intention eine solche im Gemütsakt des Anderen sein. Das bedeutet, da im Bewußtsein alles aufeinander bezogen ist, daß wir die einzelne Intention des Anderen, die wir als seine erfassen, nur konstituieren, wenn wir sie als im Nexus aller sei- ner Intentionen stehend und von seiner Grundintention getragen erstellen.“ R. Lauth, Ethik, Stuttgart 1969, S 80.

3 Wenn der Rechtsbereich später vom moralischen Bereich zunehmend getrennt und als Gegenstandsbereich sui generis herausgearbeitet wird, so gibt es in den anfänglichen Rechtbeschreibungen noch diese Verschränkung von Recht und Moral – siehe z. B. Auch: (MdS, ebd. S 338) „Es folgt hieraus auch: daß nicht verlangt werden kann, daß dieses Princip aller Maximen selbst wiederum meine Maxime sei, d.i. daß ich es mir zur Maxime meiner Handlung mache; denn ein jeder kann frei sein, obgleich seine Freiheit mir gänzlich indifferent wäre, oder ich im Herzen derselben gerne Abbruch thun möchte, wenn ich nur durch meine äußere Handlung ihr nicht Eintrag thue. Das Rechthandeln mir zur Maxime zu machen, ist eine Forderung, die die Ethik an mich thut.“ (Hervorhebung von mir) Das moralische Rechtsdenken steigert sich leider zu autoritären Rechtspositivismen.

4 Weitere Literatur siehe bei Richard Schottky, Untersuchungen zur Geschichte der staatsphilosophischen Vertragstheorie im 17. und 18. Jahrhundert: Hobbes, Locke, Rousseau, Fichte : mit einem Beitrag zum Problem der Gewaltenteilung bei Rousseau und Fichte, 1995. Zu den Zitaten von mir, siehe ebd. Anm. 11, S 121. 122.

5 Zur ganzen Textkritik und Systematik der Postulate bei KANT siehe hervorragend dargestellt: R. LAUTH, Die Bedeutung des Sinnbegriffes in Kants praktischer Postulatenlehre. In: Transzendentale Entwicklungslinien von Descartes bis zu Marx und Dostojewski, Meiner Verlag, Hamburg 1989, S 123 – 139.

6 R. LAUTH, Die Bedeutung des Sinnbegriffes, ebd., 132.

Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser