J. N. Jaenecke bindet deutlich die ersten beiden Hauptteile der genetischen Phänomenologie der Erscheinung a) vom absoluten Sein zum Sein des absoluten Dasein und b) vom absoluten Dasein zur Begrifflichkeit des Ich und der Reflexion der Reflexion (4.-5.Vorlesung) mit dem weiteren Verlauf der AzsL zusammen, vor allem mit der 10. Vorlesung, in der c) die “Stufenlehre” der Rückkehr des bloßen Daseins und der Reflexion und der fünf Weltsichten in das absolute Sein der Erscheinung Gottes sich vollendet.
Es entsteht ein geschlossenes Ganzes, eine originäre Zusammenfassung aller bisherigen Wln als ganzheitliche Erscheinungslehre des Absoluten – nicht nur als Religionslehre oder Religionsphilosophie.
Es stellt sich wiederholt die grundsätzliche Frage, “(…) ob die Offenbarung des Absoluten im Ich mit einer unüberwindbaren Entäußerung des Ich aus dem Absoluten einhergeht. Diese Frage muss entschieden mit einem „Nein“ beantwortet werden, da die zehnte Vorlesung (SW, ebd. S 538 – 551) genau mit dem endet, womit die erste Vorlesung anhob, nämlich mit der Liebe.” 1
Zentral ist nämlich immer wieder ab der 5. Vorlesung – wobei ich hier nicht näher auf die 6. – 9. Vorlesung eingehen kann -, dass die Liebe in allen Weltsichten das sich äußernde Wesen, die Kraft und das Licht des Absoluten ist.
Nur ein Beispiel – 8. Vorlesung: “ 1. Da jene Selbständigkeit und Freiheit des Ich zum Sein desselben gehört, jedes Sein aber im unmittelbaren Bewußtsein seinen Affekt hat, so ist, inwiefern ein solches unmittelbares Bewußtsein der eignen Freiheit stattfindet, notwendig auch ein Affekt für diese Selbständigkeit, die Liebe derselben und der daraus folgende Glaube daran vorhanden.”(ebd. S. 513)
“Offenbar führt nun dieses Sein des Daseins, so wie alles Sein, bei sich seinen Affekt; es ist der stehende, ewige und unveränderliche Wille der absoluten Realität, so sich fortzuentwickeln, wie sie notwendig sich entwickeln muß. 2. Solange nun aber irgendein Ich noch in irgendeinem Punkte der Freiheit steht, hat es noch ein eigenes Sein, welches ein einseitiges und mangelhaftes Dasein des göttlichen Daseins, mithin eigentlich eine Negation des Seins ist, und ein solches Ich hat auch einen Affekt dieses Seins, und einen dermalen unveränderlichen und stehenden Willen, dieses sein Sein zu behaupten. Sein immerfort vorhandner Wille ist daher gar nicht Eins mit dem stehenden Affekte und Willen des vollendeten göttlichen Daseins, 3. Sollte nun ein Ich auf diesem Standpunkte dennoch vermögen, jenem ewigen Willen gemäß zu wollen, so könnte dies schlechthin nicht geschehen durch seinen immer vorhandenen Willen, sondern dieses Ich müßte durch ein drittes, dazwischen tretendes Wollen, das man einen Willens-Entschluß nennt, diesen Willen sich erst machen. –“ (8. Vorlesung, ebd. S. 517)
Wie sich das Wollen-Können entscheidet, ergeben sich die fünf Standpunkte der Weltsichten: a) Die sinnliche Selbstliebe oder b) der Standpunkt der Legalität, c) der Standpunkt der Moralität, d) der Religion und der e) Wissenschaft:
Im Denken verlangt jetzt sozusagen die ganze bisherige, praktische Lebensphilosophie einen theoretischen Abschluss.
Dieser wird von Fichte eingelöst in der 10. Vorlesung. Die Liebe soll das Band sein aller Reflexion der Reflexion und aller fünf Standpunkt der Weltsichten, aller Bildlehre und Ich-Begrifflichkeit, die Liebe, die zum absoluten Ursprung zurückreicht.
Die Liebe bringt es zur Zusammenschau der genetischen Phänomenologie der Erscheinung des Absoluten: “(…) setze nur statt alles Wie ein bloßes Daß. Sie hängt schlechthin zusammen; es gibt schlechthin ein solches Band, welches, höher denn alle Reflexion, aus keiner Reflexion quellend und keiner Reflexion Richterstuhl anerkennend, mit und neben der Reflexion ausbricht. In dieser Begleitung der Reflexion ist dieses Band Empfindung, und da es ein Band ist, Liebe, und da es das Band des reinen Seins ist und der Reflexion, die Liebe Gottes. In dieser Liebe ist das Sein und das Dasein, ist Gott und der Mensch Eins, völlig verschmolzen und verflossen (sie ist der Durchkreuzungspunkt des obengenannten A und B); des Seins Tragen und Halten seiner Selbst in dem Dasein ist seine Liebe zu sich,(…)” (10. Vorlesung, ebd. S. 540)
Der angedeute Durchkreuzungspunkt (siehe in der 8. Vorlesung) zwischen dem Sein und dem Ich ist durch die Liebe ein Einheits- und Disjunktionspunkt allen Denkens und Lebens:
“Diese, nicht die seinige, noch die unsrige, sondern diese erst uns beide zu zweien scheidende, sowie zu Einem bindende Wechselliebe ist nun zuvörderst die Schöpferin unsers oft erwähnten leeren Begriffs eines reinen Seins oder eines Gottes. Was ist es denn, das uns hinausführt über alles erkennbare und bestimmte Dasein und über die ganze Welt der absoluten Reflexion? Unsere durch kein Dasein auszufüllende Liebe ist es. Der Begriff tut dabei nur dasjenige, was er eben allein kann; er deutet und gestaltet diese Liebe, rein ausleerend ihren Gegenstand, der nur durch ihn zu einem Gegenstande wird, von allem, was diese Liebe nicht befriedigt, nichts ihm lassend als die reine Negation aller Begreiflichkeit, nebst der ewigen Geliebtheit. “ (ebd. S. 540)2
Das Ergebnis kommt zurück auf den Ausgang und Anfang des transzendentalen Reflektierens und Nachdenkens:
“Die Liebe daher ist höher, denn alle Vernunft, und sie ist selbst die Quelle der Vernunft und die Wurzel der Realität und die einzige Schöpferin des Lebens und der Zeit; und ich habe dadurch, E.V., den höchsten realen Gesichtspunkt einer Seins- und Lebens- und Seligkeitslehre, d.i. der wahren Spekulation, zu welchem wir bis jetzt hinaufstiegen, endlich klar ausgesprochen.” (ebd. S. 541.542)
“Die Darstellung der genetischen Phänomenologie endet also mit dem höchsten realen Gesichtspunkt einer Seyns- und Lebens- und Seeligkeitslehre, d.i. “der wahren Spekulation“ , der sich konzentriert in dem Satz „die Liebe ist selbst Gott“ (10. Vorlesung, ebd. S. 542) 3
Die obige organische Einheit (vgl. 1. Vorlesung) von absolutem Sein und Dasein im Begriff des Lebens ist zu ihrer selbstbewussten, klaren Explikation in der organischen Einheit von Liebe, Sein und Leben und Seligkeit gekommen.4
Nicht hier von Fichte erwähnt, aber das las ich bei R. Lauth: Ein eigenes Problem wird es geben, wenn die andere Person nicht zu einem Liebesschluss zustimmen will. Indirekt ist die mit der Pluralität der Individuen geschaffene Prekarität aber angesprochen. 5
„Wir mussten freilich gestehen, dass, wegen der durch das Reflexionsgesetz unabänderlich gesetzten Trennung des Einen göttlichen Wesens in mehrere Individuen, jedes besondern Individuums Handeln nicht umhin könne, einen von ihm allein nicht abhängenden Erfolg ausser sich in der übrigen Welt der Freiheit anzustreben; dass jedoch auch durch das Aussenbleiben dieses Erfolges die Seligkeit dieses Individuums nicht gestört werde, (…) (ebd. S 538.539)
Es ist damit „niemals das Seyn an sich, sondern das Seyn in unserer Form als Wesen.“ (10. Vorlesung, ebd. S 539) reflektiert. Das Band zwischen absolutem Sein und Dasein bleibt, liegt höher als jede Reflexion (vgl. ebd. S 540)
„In dieser Begleitung der Reflexion ist dieses Band — Empfindung; und, da es ein Band ist, Liebe, und, da es das Band des reinen Seyns ist und der Reflexion, die Liebe Gottes. In dieser Liebe ist das Seyn und das Daseyn, ist Gott und der Mensch Eins, völlig verschmolzen und verflossen (…)“ (ebd. S 540)
Entscheidend ist ebenfalls, dass die in allen Wln verankerte Trieb- und Affektenlehre erhalten bleiben muss und sich stufenförmig entfaltet.
Zum Affekt des Seins – siehe z. B. viele Stellen in der 8. und 9. Vorlesung.
Z. B. “Alles Sein führt seinen Affekt bei sich und seine Liebe; und so auch das in der Form der Unendlichkeit heraustretende unmittelbare göttliche Sein.” (9. Vorlesung, ebd. S. 525) Die Liebe ist Affekt des Seins.
Höchste Form der Liebe ist die Liebe Gottes, die sich in uns, unter Bedingungen der Freiheit, selbst bejaht und liebt: „(…) des Seyns Tragen und Halten seiner selbst in dem Daseyn, ist seine Liebe zu sich; die wir nur nicht als Empfindung zu denken haben, da wir sie überhaupt nicht zu denken haben.“ (10. Vorlesung, ebd. S. 540)
Kraft dieser Bedingung der Wissbarkeit der göttlichen Liebe erkennen wir erst, was die Liebe ist, „(….) unsere Liebe zu ihm; oder, nach der Wahrheit, seine eigne Liebe zu sich selber in der Form der Empfindung; indem wir ihn nicht zu lieben vermögen, sondern nur er selbst es vermag, sich zu lieben in uns.“ (ebd.)
Alles transzendentale Wissen von Gott, alle Kraft und Form der Reflexivität, alle in unserem Wollen liegende Triebhaftigkeit, leitet sich ab von dieser Transzendenz der Liebe Gottes:
„Diese, nicht die seinige, noch die unsrige, sondern diese erst uns beide zu zweien scheidende, so wie zu Einem bindende Wechselliebe, ist nun zuvörderst die Schöpferin unseres oft erwähnten leeren Begriffs eines reinen Seyns oder eines Gottes. Was ist es denn, das uns hinausführt über alles erkennbare und bestimmte Daseyn, und über die ganze Welt der absoluten Reflexion? Unsere durch kein Daseyn auszufüllende Liebe ist es.“ (ebd. S. 540)
Der Begriff der “Liebe” im Denken ist dabei noch schwach, nur nachträgliches Begreifen, ausschließende Negation der Begreifbarkeit.
„Was ist es denn, das uns Gottes gewiss macht, ausser die schlechthin auf sich selbst ruhende und über allen nur in der Reflexion möglichen Zweifel | erhabene Liebe? Und was macht diese Liebe auf sich selber ruhen, ausser das, dass sie unmittelbar das Sichtragen und Sichzusammenhalten des Absoluten selber ist? — Nicht die Reflexion, E.V., welche vermöge ihres Wesens sich in sich selber spaltet, und so mit sich selbst sich entzweit; nein, die Liebe ist die Quelle aller Gewissheit, und aller Wahrheit und aller Realität. (ebd. S 540. 541)
Der Begriff und das Denken ist nachträgliche Deutung. Ja, so muss gefolgert werden, dass die Liebe der Grund der nur so möglichen Reflexibilität und Deutungsmöglichkeit des Denkens ist, „(…)weil sie ja nichts anderes ist, als das Sichselbsthalten des absoluten Seyns.“ (ebd. S 541)
In der Reflexion und im Denken kommt der Gehalt und der Stoff der Liebe zur Sichtbarkeit und Deutung – ins Unendliche hinaus.
„Dieser Gehalt und Stoff der Liebe nun ist es, welchen die Reflexion des Lebens zuvörderst zu einem stehenden und objectiven Wesen macht, sodann, dieses also entstandene Wesen in die Unendlichkeit fort wiederum spaltet und anders gestaltet, und so ihre Welt erschafft. Ich frage: was giebt denn für diese Welt, an der die Form des Wesens und die Gestalt offenbar das Product der Reflexion sind, den eigentlichen Grundstoff her? Offenbar die absolute Liebe; die absolute: — wie Sie nun sagen wollen — Gottes zu seinem Daseyn, oder — des Daseyns zum reinen Gotte. Und was bleibt der Reflexion? — ihn objectiv hinzustellen und ins unendliche fortzugestalten. Aber selbst in Absicht des letzteren, was ist es, das die Reflexion nirgends stillstehen lässt, sondern sie unaufhaltsam forttreibt von jedem Reflectirten, bei dem sie angekommen ist, zu einem folgenden, und von diesem zu seinem folgenden? Die unaustilgbare Liebe ist es zu dem, der Reflexion nothwendig entfliehenden, hinter aller Reflexion sich verbergenden, und darum nothwendig in alle Unendlichkeit hinter aller Reflexion aufzusuchenden, reinen und realen Absoluten; diese ist es, welche sie forttreibt durch die Ewigkeit, und sie ausdehnt zu einer lebenden Ewigkeit. Die Liebe daher ist höher, denn alle Vernunft, und sie ist selbst die Quelle der Vernunft und die Wurzel | der Realität, und die einzige Schöpferin des Lebens und der Zeit;“ (ebd. 541. 542)
Es kommt zum Begriff der Wahrheit und der Gewissheit und zum Begriff der Wissenschaft. Wenn sich die Reflexion und das Denken vollständig klar werden, erkennen sie die Liebe als Quelle ihrer selbst:
„ Vollendete Wahrheit ist Wissenschaft: das Element aber der Wissenschaft ist die Reflexion. So wie nun diese letztere sich selbst klar wird als Liebe des Absoluten, und dasselbe, wie sie nun nothwendig muss, erfasset als schlechthin über alle Reflexion hinausliegend und derselben in jeder möglichen Form unzugänglich, geht sie erst ein in die reine, objective Wahrheit; so wie sie eben dadurch allein auch fähig wird, die Reflexion, die sich ihr vorher noch immer mit der Realität vermischte, rein auszuscheiden und aufzufassen, und alle Producte derselben an der Realität erschöpfend aufzustellen und so eine Wissenslehre zu begründen. — Kurz, die zu göttlicher Liebe gewordene und darum in Gott sich selbst rein vernichtende Reflexion ist der Standpunct der Wissenschaft; (…)“ (ebd. S 542)
Fichte kommt wieder auf den Johannes-Prolog zu sprechen (wie in der 6. Vorlesung): Er deutet das „im Anfange“ und das „Wort“ als das Dasein der Liebe.
„(…) das wahre aber und absolute Daseyn in seiner eigen|thümlichen Form (haben wir) als Liebe (sc. deduziert): sprechen wir jene Worte also aus: im Anfange: höher denn alle Zeit und absolute Schöpferin der Zeit, ist die Liebe, und die Liebe ist in Gott, denn sie ist sein Sichselbsterhalten im Daseyn: und die Liebe ist selbst Gott, in ihr ist er und bleibet er ewig, wie er in sich selbst ist. Durch sie, aus ihr, als Grundstoff, sind vermittelst der lebendigen Reflexion alle Dinge gemacht, und ohne sie ist nichts gemacht, was gemacht ist; (…)“ (ebd. S 543)
Per theoretischer Idealform wird die Möglichkeit universaler oder göttlicher Liebe objektiviert – und ebenso nach dem Vorbild 1. Johannesbrief beschrieben (nicht nur Joh 1)
„Inwiefern daher der Mensch die Liebe ist, — und dies ist er in der Wurzel seines Lebens immer und kann nichts anderes seyn, obwohl er die Liebe seiner selbst seyn kann; — und inwiefern insbesondere er die Liebe Gottes ist, bleibt er immer und ewig das Eine, Wahre, Unvergängliche, so wie Gott selbst, und bleibet Gott selbst; und es ist nicht eine kühne Metapher, sondern es ist buchstäbliche Wahrheit, was derselbe Johannes sagt: wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott, und Gott in ihm.“ (ebd. S 543)
Diese Idealform der Liebe kann nur individuell und interpersonal gelebt, aber nicht selbst direkt angeschaut werden, insofern Gottes Erscheinungs-Wirklichkeit und die Reflexionsform des Denkens den Gehalt der göttlichen Liebe in sich selbst verdecken.
„Seine Reflexion nur ist es, welche dieses sein eignes, keinesweges ein fremdes Seyn ihm erst entfremdet, und in der ganzen Unendlichkeit zu ergreifen sucht dasjenige, was er selbst, immer und ewig und allgegenwärtig, ist und bleibt. Es ist daher nicht sein inneres Wesen, sein eigenes, ihm selbst, keinem fremden angehöriges, das da ewig sich verwandelt, sondern nur die Erscheinung dieses Wesens, welches im Wesen der Erscheinung ewig unerschwinglich bleibt, ist es, was sich verwandelt. Das Auge des Menschen verdeckt ihm Gott und spaltet das reine Licht in farbige Strahlen, haben wir zu seiner Zeit gesagt; jetzt sagen wir: Gott wird durch des Menschen Auge ihm verdeckt, lediglich darum, weil |er selbst sich durch dieses sein Auge verdeckt wird, und weil sein Sehen nie an sein eigenes Seyn zu reichen vermag.“ (ebd. S 543.544)
Es folgen interessante Erklärungen grundsätzlicher Art zum transzendentalen Erkennen: Die Reflexion und Reflexibilität, die Transzendentalität und das Sich-Wissen, sie sind nur durch die göttliche Liebe ermöglicht. Gerade das ist der Zugang zu einer übersinnlichen Welt:
„Die Liebe tritt nothwendig ein in der Reflexion und erscheinet unmittelbar als ein Leben, das eine persönlich sinnliche Existenz zu seinem Werkzeuge macht, also als ein Handeln des Individuums; und zwar als ein Handeln in einer durchaus ihr eignen, über alle Sinnlichkeit hinaus liegenden Sphäre, in einer völlig neuen Welt.“ (ebd. S 544)
Der deduktive Zusammenhang zum genetischen Ursprung in und aus der Liebe Gottes ist konstitutiv für alles Erkennen und moralische Handeln:
„Wo die göttliche Liebe ist, da ist nothwendig diese Erscheinung; denn so erscheint die erstere durch sich, ohne ein dazwischentretendes neues Princip; und wiederum, wo diese Erscheinung nicht ist, da ist auch die göttliche Liebe nicht. Es ist durchaus vergeblich, dem, der nicht in der Liebe ist, zu sagen: handle moralisch; denn nur in der Liebe geht die moralische Welt auf, und ohne sie giebt es keine; und ebenso überflüssig ist es, dem, der da liebt, zu sagen, handle: denn seine Liebe lebet schon durch sich selbst, und das Handeln, und das moralische Handeln, ist bloss die stille Erscheinung dieses seines Lebens.“ (ebd.)
Das Handeln entfließt der Liebe. Man kann an das scholastische Prinzip denken: „agere sequitur esse“.
Auch die Spaltung der göttlichen Liebe in die Mehrheit von Individuen muss in der Erscheinung und für die Erscheinung zurückgenommen werden auf die Form eines einzigen Prinzips:
„Darum ist auch — hierdurch kommen wir zu dem Puncte zurück, bei welchem wir in der vorigen Rede stehen blieben, — darum ist auch die Spaltung des Einen göttlichen Lebens in verschiedene Individuen keinesweges in der Liebe, sondern sie ist lediglich in der Reflexion. Das sich unmittelbar als handelnd erscheinende Individuum sonach und alle ausser ihm erscheinende Individuen sind lediglich die Erscheinung der Einen Liebe, keinesweges aber die Sache selbst. In seinem eigenen Handeln soll die Liebe erscheinen, ausserdem wäre sie nicht da: das moralische Handeln anderer aber ist nicht die ihm unmittelbar zugängliche Erscheinung der Liebe; „(ebd. S 545).
Bemerkenswert scheint mir, dass Fichte unter der gelebten und praktizierten Liebe keineswegs eine romantische Liebe beschreibt, eine „Alles-gut-Mentalität“, aber auch nicht z. B. zu spirituellen Formen der christlichen Liebe kommt wie Gebet, monastisches Leben?!
Es genügt manchmal eine Art toleranter Lebenshaltung: „(…) desselben Ermangeln (sc. einer romantischen Liebe) beweiset gar nicht unmittelbar die Abwesenheit der Liebe; darum wird, wie wir schon in der vorigen Rede uns ausdrückten, die Moralität und Religiosität anderer nicht unbedingt gewollt, sondern mit der Bescheidung in die Freiheit anderer; und die Abwesenheit dieser allgemeinen Moralität stört nicht den Frieden der durchaus auf sich selber ruhenden Liebe.“(ebd.)
Prinzipiell zeigt aber die Form der Liebe eine sittliche Wertung an und klare, wahrheitsgemäße Grenzen, die durch Reflexion festgelegt werden: „Die Moralität und Religiosität des ganzen übrigen Geisterreichs hängt mit dem Handeln jedes besondern Individuums zunächst zusammen, wie zu bewirkendes mit seiner Ursache. Der moralisch Religiöse will Moralität und Religion allgemein verbreiten. Die Absonderung aber zwischen seiner und der andern Religiosität ist lediglich eine Absonderung in der Reflexion. Seine Affection durch den Erfolg oder Nichterfolg muss daher nach dem Gesetze der Reflexion erfolgen. Aber wie wir schon oben bei einer andern Gelegenheit ersehen haben, der eigenthümliche Affect der Reflexion ist Billigung oder Misbilligung, welche freilich nicht eben kalt seyn muss, sondern die um so leidenschaftlicher wird, je liebender der Mensch überhaupt ist.“ (ebd. S 545)
„ Zuvörderst ist von dieser religiösen Menschenliebe nichts entfernter, als jenes gepriesene gut seyn und immer gut seyn und alles gut seyn Lassen. Die letzte Denkart, weit entfernt die Liebe Gottes zu seyn, ist vielmehr die in einer frühern Rede sattsam geschilderte absolute Flachheit und innere Zerflossenheit eines Geistes, der weder zu lieben vermag, noch zu hassen. — Den religiösen Menschen kümmert nicht — es sey denn sein besonderer Beruf, für eine würdige Subsistenz der Menschen Sorge zu tragen, — die sinnliche Glückseligkeit des Menschengeschlechts, und er will kein Glück für dasselbe ausser in den Wegen der göttlichen Ordnung. (…)“ (ebd. S 546)
„Ihr wähnet, sagt Jesus, ich sey gekommen, Frieden zu bringen auf Erden, — Frieden: eben jenes Gutseynlassen alles dessen, was da ist; — nein, da ihr nun einmal seyd, wie ihr seyd, bringe ich euch das Schwert. Auch ist der religiöse Mensch weit entfernt von dem gleichfalls bekannten und oft empfohlenen Bestreben derselben erwähnten Flachheit, sich über die Zeitumgebungen etwas aufzubinden, damit man eben in jener behaglichen Stimmung bleiben könne; sie umzudeuten und ins Gut, eins Schöne hierüber zu erklären. Er will sie | sehen, wie sie sind in der Wahrheit, und er sieht sie so, denn die Liebe schärft auch das Auge; er urtheilt streng und scharf, aber richtig, und dringt in die Principien der herrschenden Denkart.“ (ebd. S 546.547)
Psychologisch sehr feinsinnig: Es ist ein selbstgemachtes Elend, kennt man die göttliche Liebe nicht; es ist „der Fanatismus eigener Verkehrtheit“ (ebd. S 547), es ist eine Art Narzissmus u. a. m. (vgl. ebd. S 547).
Es bleibt diese beständige Hoffnung und Liebe(1 Kor 13) :
„Endlich, ganz entschieden, unveränderlich und ewig sich gleich bleibend, offenbaret im Religiösen die Liebe zu seinem Geschlechte sich dadurch, dass er schlechthin nie und unter keiner Bedingung es aufgiebt, an ihrer Veredlung zu arbeiten, und, was daraus folgt, schlechthin nie und unter keiner Bedingung die Hoffnung von ihnen aufgiebt. Sein Handeln ist ja die nothwendige Erscheinung seiner Liebe; wiederum aber geht sein Handeln nothwendig nach aussen und setzt ein Aussen für ihn, und setzt seinen Gedanken, dass in diesem Aussen etwas wirklich werden solle.“ (ebd. S 548)
Die Liebe Gottes ist unveränderlich, unerschütterlich – und sobald der Mensch will, „ (kann er) den sichersten Frieden und die unzerstörbarste Ruhe einladen (…) in seine Brust, sobald er ihrer begehrt.(…)“ (ebd. S 548)
„Endlich — und wo ist denn das Ende? — endlich muss doch alles einlaufen in den sichern Hafen der ewigen Ruhe und Seligkeit; endlich einmal muss doch heraustreten das göttliche Reich, und seine Gewalt und seine Kraft und seine Herrlichkeit.
Und so hätten wir denn die Grundzüge zu dem Gemälde des seligen Lebens, soweit ein solches Gemälde möglich ist, in einen Punct vereinigt. Die Seligkeit selbst besteht in der Liebe und in der ewigen Befriedigung der Liebe, und ist der Reflexion unzugänglich: der Begriff kann dieselbe nur negativ ausdrücken, so auch unsere Beschreibung, die in Begriffen einhergeht. Wir können nur zeigen, dass der Selige des Schmerzes, der Mühe, der Entbehrung frei ist; worin seine Seligkeit selbst positiv bestehe, lässt sich nicht beschreiben, sondern nur unmittelbar fühlen. „ (ebd. S 549)
Paränetisch-aufmunternd spricht Fichte die Hörer und Leser nochmals an: Unselig macht uns nur der Zweifel. „Der Religiöse ist der Möglichkeit des Zweifels und der Ungewissheit auf ewig entnommen. In jedem Augenblicke weiss er bestimmt, was er will und wollen soll; denn ihm strömt die innerste Wurzel seines Lebens, sein Wille unverkennbar ewig fort unmittelbar aus der Gottheit:“ (ebd. S 549)
In vertrauensvoller Weise fügt sich der gläubige, gottergebene Mensch:
„In ihm ist keine Furcht über die Zukunft, denn ihn führt das absolut Selige ewig fort derselben entgegen; keine Reue über das Vergangene, denn inwiefern er nicht in Gott war, war er nichts, und dies ist nun vorbei, und erst seit seiner Einkehr in die Gottheit ist er zum Leben geboren; inwiefern er aber in Gott war, ist recht und gut, was er gethan hat. Er hat nie etwas sich zu versagen, oder sich nach etwas zu sehnen, denn er besitzt immer und ewig die ganze Fülle alles dessen, das er zu fassen vermag. (…)“ (ebd. S 550)
Im Schlussabsatz weist Fichte nochmals darauf hin, dass seine Ausführungen in keiner Weltflucht enden mögen. Er wollte eben mit den Mitteln der Philosophie und der Erkenntnis die Prinzipien des Handelns aufzeigen.
„Es ist sehr wahr, dass man über diesen Gegenstand noch lange fortreden könnte, und dass es besonders sehr interessant seyn würde, den moralisch-religiösen Menschen, nachdem man ihn im Mittelpuncte seines Lebens kennen gelernt hat, von da aus zu begleiten in das gewöhnliche Leben, bis auf die gemeinsten Angelegenheiten und Umgebungen, und da ihn anzuschauen in seiner ganzen, wahrhaft rührenden Liebenswürdigkeit und Heiterkeit.“ ( 10. Vorlesung, ebd.)
(c) Franz Strasser, 12. 10. 2025
1J. N. Jaenecke, ebd. S. 209.
2 Das sind m. E. schöne Beschreibungen des Hl. GEISTES!
3J. N. Jaenecke., ebd. S. 211.
4J. N. Jaenecke gibt eine Zusammenfassung der aus der Erscheinung des Absoluten folgenden Stufenlehre: „Sinnlichkeit (sinnliche Selbstliebe des Ich) → Legalität (selbstständiges Gesetz des Ich) → Selbstvernichtung des Ich → Moralität (lebendiger Wille Gottes) → Religion (Geisterwelt vernünftiger Individuen) → Wissenschaft (absolute Liebe).“ (ebd. S. 212)
5Wie eine konkrete Werttheorie in der Liebe zum Nächsten inklusiv konflikthaft-prekäre Beziehung aussehen kann –siehe dazu R. Lauth, Ethik, Stuttgart 1969.