Die Begründung des Zweckbegriffs im REINEN WILLEN erhält absteigend ab § 13 die Funktion, die Versinnlichung und Verzeitung des REINEN Willens darzustellen und zu zeigen. Oder anders formuliert: Der Zweckbegriff erhält die Aufgabe, die Deduktion der Versinnlichungs- und Verzeitungsformen des REINEN WILLENS zu applizieren und zu konkretisieren. Das im Aufstieg zur Einheit des Wissens zweckgerichtete Wollen (in der Dialektik von Vorentwurf und Handeln), das im reinen Willen das Ziel seines Strebens in vollkommener Erfüllung gefunden hat, theoretisch wie praktisch, wendet seinen Blick von der Gewissheit und Einheit des Wissens jetzt ab – in der „prima philosophia“ der späteren WLn ab 1801/02 natürlich noch besser durchdrungen – und kommt zur Erkenntnis der Erkenntnis in der Applikation und Konkretion der Begriffe. Der Wille ist nicht eine metaphysische, dunkle Macht, unbekannt in seiner Herkunft, in seinem Wesen (wie bei SCHOPENHAUER), sondern ist um das im absoluten Soll gesetzten Zweckes willen und seiner freien Realisierung. Der auf § 12 folgende „Abstieg“ ist deshalb wiederum ein analytisches und synthetisches Vorgehen und eigentlich ein Aufstieg, weil die für das Sehen der Philosophie reflektierten Bedingungen als Synthesisbegriffe von idealer Selbstbestimmung und realer Bestimmung im Aufruf und in der sinnlichen Empfindung und im Körper und der dazugehörenden Körperlichkeit erst (analytisch) gefunden und (synthetisch) konkretisiert werden müssen.
Die verwirklichte Wollenssetzung im Resultat des § 12 ist die ideelle Vollendung. Das konkret individuelle Wollen erreicht diese Vollendung aber erst in der geschichtsbestimmenden Tat, durch zeitliche und räumliche Teilsetzungen und unter sinnlichen und intelligiblen Sichtbarkeitsbedingungen.
Die ideell analytisch-synthetische Einheit soll in einer Unendlichkeit der Urteilskraft und in einer Fünffachheit der Gliederung von Selbstbestimmung und Bestimmung aufgeschlüsselt und realisiert und konkretisiert werden. Der Zweckbegriff hat wieder den erkenntnisleitenden, praktischen Zweck, sinnliche und intelligible Kausalität und zeitliche Substantialität (und Akzidentialität) innerhalb der Wechselwirkung der Bestimmung zu positionieren (nachzukonstruieren).
„Reelle Wirksamkeit ist nur möglich nach einem Zweckbegriff, u. Eine Zweckbegriff ist nur unter Bedingungen der Erkenntniß – diese Erkenntniß nur unter Bedingungen einer REELLEN Wirksamkeit möglich;“ (Beginn § 13, S 145)
Die erste „Anschlussstelle“ und Sichtbarkeit der reellen Wirksamkeit ist unter den ideellen Bedingungen der Selbstbestimmung, wie sie im Aufstieg zu § 12 analysiert wurden, die interpersonale Wechselwirkung.
„Dieser reine Wille ist etwas blos intelligibles. Wird aber in wiefern er sich doch durch ein Gefühl des SOLLENS äußert u. zufolge desselben gedacht wird – aufgenommen in die Form des Denkens überhaupt als BESTIMMTES im Gegensatz eines BESTIMMBAREN. Dadurch werde Ich – das Subjekt dieses Willens – INDIVIDUUM; und als BESTIMMBARES dazu entsteht mir ein Reich vernünftiger Wesen – Aus diesen REINEN BEGRIFFEN läßt sich ableiten und aus ihnen muß abgeleitet werden das GESAMMTE BEWUSSTSEYN.“ [Beginn § 13, S 145].
In dieser Sphäre der interpersonalen Bestimmbarkeit kann ich nicht alleine festsetzen, was zweckhaft ist, sondern bin auf die dialogische, wechselseitige, und nochmals religiös zu fundierende Zweckrealisierung der Vernunft angewiesen. Es kann in diesem Bereich nur von einer an-determinierenden Bestimmung ausgegangen werden, einer „Aufforderung zu einem freien Handeln“ wie es später heißen wird. (§ 15, 177)
Es kommt hier eine sehr schöne Stelle zum Zweckbegriff. Er ist uns gegeben!
„Der erste Begrif ist meine Aufforderung zum handeln. Der Zweck wird uns gegeben, und mit dem Begrif der Auffoderung ist Handeln nothwendig verknüpft (….) den ersten Zweckbegrif machen wir nicht selbst, wir bekommen ihn doch nicht so daß uns der Zweck als etwas bestimmtes gegeben werden, sondern er wird uns nur überhaupt der Form nach gegeben als etwas woraus wir auslesen sollen. Dies ist die Auffoderung zu einer freyen Handlung. Diese Satz ist sehr wichtig wegen der Folgerungen, die in der Rechtslehre davon abgeleitet werden.“ (Wlnm § 15, S 177.178)
Das Ich (oder der freie, formale Wille) sieht sich nicht notgedrungen durch eine sinnliche, empirische Wahrnehmung zur Anerkennung anderer Vernunftwesen gezwungen, sondern die Erkenntnis und Anerkenntnis anderer Vernunft ist eine „Aufforderung zu einer freyen Handlung“, und erfolgt durch das freie Wollen der Vernunft selbst.1
Die Erkenntnis des Aufgefordertseins zu einem freien Wollen innerhalb eines gegenseitigen Aufforderns muss überzeitlich gedacht werden, also transzendental einer bloß zeitlichen Aufforderung vorausgehen. Das Ich wird nur darum realiter aufgefordert und kann nur so aufgefordert werden, weil es als Individuum unter Individuen ein intelligibles (ursprüngliches, vorzeitliches) Aufgefordert-Sein schon ist und aus konkreter Erfahrung kennt.2
Auffallend ist vielleicht,
c) dass diese grundsätzlich abgeleitete notwendige Idee einer Bestimmbarkeit des Ichs in der Sphäre der Interpersonalität nicht nach seiner intelligiblen Seite in § 13 weiterverfolgt wird, sondern zügig wird zur Analyse des Willens und der sinnlichen Wirksamkeit fortgegangen. Es entsprach eben der konsequenten Absicht FICHTES, das „empirische Bewusstsein“ (siehe Teil 1) vorzüglich abzuleiten. Die weitere genetische Lozierung der Interpersonallehre und dessen Anwendungen soll ja dann, fast zeitgleich, in der Rechtslehre 1796, und tlw. noch in der Sittenlehre 1798, folgen. (Um die religiöse Darstellung hat man ja FICHTE leider mit dem Atheismusvorwurf gebracht. Diese wäre höchst interessant gewesen auf der Grundlage der WLnm!)
Es folgt deshalb in § 13, neben den wesentlichen, vielleicht zu kurz geratenen Hinweisen zur idealen Reihe der Bestimmbarkeit anhand der Interpersonalität, die reale Reihe der sinnlichen Erfahrung überhaupt. (Andeutungsweise werden Winke gegeben zu einer Sittenlehre, Rechtslehre und Religionslehre.) 3
(c) Franz Strasser, 25. 5. 2018
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1FICHTE hat von allem Anfang an gegenüber dem Empirismus seiner Zeit das apriorische Vorwissen [pro-eidenai] im Bewusstsein verteidigt, worin Evidenz „von allen“ und „für alle“ und „zu allen Zeiten“ behauptet werden kann.
2Vgl. P. Baumanns, Von der Theorie der Sprechakte zu Fichtes WL. In: Der transzendentale Gedanke, Hamburg 1981, S 183). Es ist bei FICHTE hier zu bewundern, dass er ein göttliches Aufgefordertsein sogar angesprochen hat, aber aus gewissen Gründen hielt er das für nicht „aufzufassen“. “Die Gottheit ist auch solche reine Thätigkeit wie die Intelligenz, nur ist die Gottheit [/] etwas nicht aufzufassendes, die Intelligenz aber ist bestimmt, […]“ [Wlnm, ebd., 240] Dies ist im nachhinein zu kritisieren, denn damit behielt er einen gewissen transzendenten Objektivismus in seiner sonst so konsequenten transzendentalen Linie bei.
3Anhand des Registers der GA seien folgende Verwendungen des Zweckbegriffs kurz aufgelistet: Reiner Zweck (ebd. S 208), Zweck schlechthin (S 170.193), wirklicher Zweck (S 208), für das Denken (S 192, 193), für das Handeln (S 130, 174. 187, 188f), für das Objekt (s 220, 225), für das Sichbestimmen (S 223. 224), für die Tätigkeit (S 210), für das Wollen (181f, 193-195, 221), für die Begreifbarkeit der Zeit (S 187f, 192, 193, 194. 221)Siehe ebenfalls S 47.48.49.53.62.64.66.69.70.76.80.92, 129, 129. 144. 145.146.168.189.195.200 bis 210, 217.220.223. 230.234f, 243. 244.249.255.