Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, Lektüre 3. Teil. Willensakt und Normen.

1) Es ist in der Rechtswissenschaft gang und gäbe, von Willensakten auszugehen, um ein Urteil über eine Handlung sich zu bilden. 1 Es ist doch bemerkenswert – obwohl in der Philosophie der Streit seit Jahrtausenden geht, ob es überhaupt einen freien Willen gibt –, dass die Rechtssprechung und Rechtsgebung wie selbstverständlich den (freien) Willen annimmt. Möglichst unemphatisch kann dabei der Wille als Ursache in der Rechtslehre verstanden werden, sozusagen nur als gedankliches, logisches Moment einer Zustimmung zu einer Handlung, aber immerhin, diese  Implikation in einem Urteilsakt ist notwendig. Ohne (freien) Willen könnte eine Handlung als Handlung nicht ausgeführt und eine Absicht als solche nicht verstanden werden. (Die emotionale Seite in einem Entschluss des Willensaktes muss auch nicht ausgeschlossen werden, aber der logische Ent-Schluss im Willensakt ist notwendig und entscheidend.) 

Um einen Willensakt noch genauer zu bestimmen, ist auf den Unterschied einzugehen zwischen Wünschen und Wollen, wie K. Hammacher weiter ausführt. (Anm. 1)  Das Wünschen hat im Grunde keine Grenzen, das Wollen aber muss auf einen handlungseffizienten, zweckmöglichen Sinn hingerichtet sein. Wollen kann ich nur das, was auch möglich ist. Unsere Wünsche hingegen können auf weitere Handlungsmöglichkeiten ausgreifen z. B. Morgen wünsche ich mir schönes Wetter“, die ich aber nicht wollen kann. Unser Wille geht nur auf das in die Tat Umsetzbare und manifestiert sich dann im Handeln.

Im Hinblick auf die Definition und Theorie des Rechts in der Positiven Rechtslehre eines H. KELSEN, vorallem im Hinblick auf das hermeneutische Verstehen des Rechts aus und in einem Normensystem, tauchen für mich aber jetzt viele Ungenauigkeiten und Äquivokationen auf, die unmittelbar mit dem durch die Norm bedeutungsgebenden Akt zusammenhängen. Das Recht (der Rechtssatz) wird (nach H. KELSEN) durch einen normgebenden Bedeutungsakt erzeugt, wodurch auch der hinter der Handlung liegende Willensakt von vornherein durch diesen normgebenden Akt bestimmt wird. Der Willensakt wird aber damit nicht seiner transzendentalen Möglichkeit nach begriffen, sondern in einer durch die Norm vorgegebenen Sinn-Ordnung interpretiert.

Diese Interpretation eines der Handlung zugrundeliegenden Willensaktes, äußerlich dargestellt als sprachlicher Rechtssatz, fällt natürlich relativ nach dem je verschiedenen normgebenden System und Rechtssystem aus und ich darf mich nicht wundern, wenn es geradezu unendlich viele Methoden der Auslegung eines positiv geäußerten Rechtssatzes gibt, wie ich z. B. schön aufgeschlüsselt bei M. POTACS, Rechtstheorien, Wien 2015, 2nachlesen kann. Es kommt in den veräußerten Sprachformen des Rechts aber damit notwendig zu einem hermeneutischer Zirkel des Verstehens, was den subjektiven, und bei H. KELSEN besonders und entscheidend den objektiven Willensakt“ betrifft!?  Die Norm bestimmt den Willensakt im hermeneutischen Auslegen, d. h. interpretiert das sprachlich ausgedrückte Recht (den Rechtssatz, die Rechtsordnung), was es dem Sein nach sein soll – und umgekehrt IST das sprachlich ausgedrückte Recht der Sinn der Norm.

Wenn ich das Wort „Wille“ und „Willensakt“ aber ernst nehmen würde, so kann ich diesen Zirkel nicht durchgehen lassen: Der Wille oder der Willensakt ist ein transzendental-sicheres Wissen und eine Gewissheit mit absolutem Geltungsgrund, und nicht bloß ein aus einem vorhergehenden Sinnzusammenhang eines Normensystems abgeleiteter und hineingelegter Sinn.3

Der Wille in seiner reinen Form als Sein muss das abbilden, was das Wollen weiß und will: sich selbst. Und umgekehrt, das Wollen muss das sein, als welches es im Wollen gewusst und gewollt wird.

2) Um H. KELSEN nicht verkürzt zu interpretieren, gehe ich auf ein paar weitere Begriffe in diesem Zusammenhang von „Willensakt“ und sinngebender Norm ein. Dazu zuerst aus der „Reinen Rechtslehre“ von 1934 (=RR1) und dann RR2 von 1960:

Eine Pflanze kann dem sie wissenschaftlich bestimmenden Forscher nichts über sich selbst mitteilen Sie macht keinen Versuch, sich selbst naturwissenschaftlich zu erklären. Aber ein gesellschaftlicher Akt kann sehr wohl eine Selbstdeutung, d. h. eine Aussage darüber mit sich führen, was er bedeute. Denn der den Akt setzende Mensch verbindet selbst mit seinem Akt einen bestimmten Sinn, der sich in irgendeiner Weise ausdrückt und der von den anderen, an die sich der Akt wendet, verstanden wird. Die zu einem Parlament vereinigten Menschen können ausdrücklich erklären, ein Gesetz beschließen, zwei Private die Absicht aussprechen, ein Rechtsgeschäft eingehen zu wollen. Die das Recht begreifende Er­ kenntnis findet zumeist schon eine Selbstdeutung des Materials vor, die der von der Rechtswissenschaft zu leistenden Deutung vorgreift.

Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, zwischen dem subjektiven und dem objektiven Sinn eines Aktes zu unterscheiden. Der subjektive Sinn kann, muß aber nicht mit dem objektiven Sinn zusammenfallen, der diesem Akt im System aller Rechtsakte, d. h. im Rechtssystem zu­ kommt.“ (RR1, S 3 – 4) (…..)

Den spezifisch juristischen Sinn, seine eigentümliche rechtlicheBedeutung erhält der fragliche Sachverhalt durch eine Norm, die sich mit ihrem Inhalt auf ihn bezieht, die ihm die recht­ liche Bedeutung verleiht, so daß der Akt nach dieser Norm gedeutet werden kann. Die Norm. fungiert als Deutungsschema. Sie wird selbst durch einen Rechtsakt erzeugt, der seinerseits wieder von einer anderen Norm her seine Bedeutung erhält. (RR1 S 5)

In der 2. Auflage der RR (RR2 1960) fügt H. KELSEN dazu einen erklärenden Abschnitt zur Norm hinzu. Norm und Normerzeugung“,

Es sind – in diesem Sinne verstanden – Willensakte. Wenn ein Mensch durch irgend einen Akt den Willen äußert, daß ein anderer Mensch sich in bestimmter Weise verhalte, wenn er dieses Verhalten gebietet oder erlaubt oder ermächtigt, kann der Sinn seines Aktes nicht mit der Aussage beschrieben werden, daß sich der andere so verhalten wird, sondern nur mit der Aussage, daß sich der andere so verhalten soll.“ (ebd. S 4)

RR2 S 5 „Dabei ist zu beachten, daß die Norm als der spezifische Sinn eines intentional auf das Verhalten anderer gerichteten Aktes etwas anderes ist als der Willensakt, dessen Sinn sie ist. Denn die Norm ist ein Sollen, der Willensakt, dessen Sinn sie ist, ein Sein. Darum muß der Sachverhalt, der im Falle eines solchen Aktes vor liegt, in der Aussage beschrieben werden: der eine will, dass sich der andere in bestimmter Weise verhalten soll. Der erste Teil bezieht sich auf ein Sein, die Seins-Tatsache des Willensaktes, der zweite Teil auf ein Sollen, auf eine Norm als den Sinn des Aktes. Darum trifft nicht zu – wie vielfach behauptet wird – die Aussage: ein Individuum soll etwas, bedeute nichts anderes als: ein anderes Individuum will etwas; das heißt, dass sich die Aussage eines Sollens auf die Aussage eines Seins reduzieren lasse.“

Zunächst einmal ist jedes „Sollen“ der „subjektive“ Sinn eines Willensaktes, der intentional auf das Verhalten anderer gerichtet ist.

Aber nur eine „objektiver Sinn“ eines Willensaktes stellt für KELSEN eine „Norm“ dar. (RR2 S 7) Ein „objektiver Sinn“ bedeutet, dass dieser Willensakt im Rahmen einer Anordnungssystems Geltung besitzt. Unter „Geltung wiederum ist nach KELSEN die „spezifische Existenz“ einer Norm in einem solchen Normensystem zu verstehen. (RR2, S 9)

Für den Begriff „Intention“ („intentionales Verhalten“) schaue ich jetzt bei einem Vortrag von F. BRENTANO nach, den vermutlich H. KELSEN gelesen haben wird (nach K. Hammacher). 4 F. BRENTANO unterschied dreierlei Arten von Intentionalität, a) ein mehr gegenstandbezogenes Verhalten, b) eine „intentionale Beziehung“ als „Anerkennung“ oder „Verwerfung“, und c) eine emotionale Beziehung, wie Lieben oder Hassen, mit der eine Betätigung des Willens einhergeht. 5

Der zweite Begriff, nach „intentional“,  den H. KELSEN verwendet, ist der des „Verhaltens“. Dazu muss weiter ausgeholt werden. Ich entnehme das ebenfalls K. HAMMACHER in seiner Analyse des Glücksbegriffes 6

Wenn zwar alle nach dem Glück streben (ARISTOTELES), so ist natürlich auffallend, dass es diesen eklatanten Unterschied zwischen Wünschen und Willen gibt. Per Zwang und durch Willen lässt sich das Glück nicht herbeiführen, das erzwungene Glück oder Gemein-Wohl“ würde geradezu zerstörerisch werden.  7

Die rechtliche Freiheit, die mit dem Akt einer Anerkennung intentional zusammenhängt (nach BRENTANO. 2. Sinnstufe), ist, so jetzt in der Argumentation H. KELSEN – wie mir das vorkommt – durch die Norm und Normgebung semantisch bestimmt und als Recht bzw. Rechtssprechung gekennzeichnet und identifizierbar. Die Norm bestimmt und beschreibt, bei vorausgesetztem Glücks- und Nutzenstreben, den erstrebten Wert der Güter. Da aber die subjektiven Rechte als solche von einem Staat oder einer Rechtsordnung nicht garantiert werden können und sollen, da ja das Glücksstreben sich geradezu ins Gegenteil verkehren würde, muss der Staat den Rahmenvertrag eines Gemein-Nutzens sichern, allerdings in dem für mich subjektiv-hermeneutischen Sinne, dass das Wesen der Norm das Sein des Rechts und der Rechtsordnung semantisch bestimmt.

Was geschieht aber durch diese Bedeutungsgebung des Rechts durch die Norm? Eine Verobjektivierung des intentionalen Strebens und Anerkennens (sei es für die 2. Stufe, oder auf jeder einzelnen Stufe der „Intention“ nach BRENTANO) auf eine Normgebung, die ihrerseits von persönlichen Motiven und politisch-einseitigen Perspektiven und naturrechtlichen und theologischen Aversionen nicht frei ist. Systematisch können aber solche Fragen nicht ausgeklammert werden. Die bestimmte Rechtsordnung, die in sprachlich verobjektivierter Form vorliegt und zur hermeneutischen Interpretation vielfältigst einlädt, ist nicht frei von geltungstheoretischen Aussagen, die für sich begründet und gerechtfertigt werden müssen. (Siehe oben mein 2. Teil.)  

Ich verweise jetzt nochmals auf K. HAMMACHER, der durch seine umfassende transzendentale Analyse der historischen Rechtsvorstellungen zeigt, dass mit religiösen Geboten in der Rechtsgebung und Rechtssprechung begonnen wurde, sich dann immer mehr der Monarch und Souverän durchsetzte, schließlich der nur aufgrund des Rechts herrschende Staat übrig blieb – aber alles vor dem Hintergrund, dass transzendental-analytisch praktische Begriffe des interpersonalen Austausches, der gegenseitiger Anerkennung, die Mittel des Tausches und des Vertrages, die logische Verbindlichkeit eines Rechtsverhältnisses und den Gedanken des Rechts erzeugten.8Die transzendentale Anerkennungstheorie bestimmte ursprünglich den Sinn und das Wesen des Rechts. Das ist eine ganz andere historische Herleitung und verweist eindeutig auf einen transzendenten Geltungsgrund.

Eine „Norm“ im Sinne H. KELSEN ist hingegen ein abgeleiteter Begriff. K. HAMMACHER beschreibt das so: Die „Normen“ sind bereits (…) verselbständigte Handlungsschemata (…), die auf Legitimationsakte zurückverweisen. Deren Rechtfertigung wiederum kann aber nicht auf willkürliche Entscheidungen zurückgeführt werden, sondern nur auf die im folgenden entwickelte handlungslogische Verbindlichkeit.“9

Die Frage der Legitimation zieht sich durch die ganze Geschichte der Rechtsentwicklung mit ihren wechselnden Theorien,  dass a) einmal das Recht aus der Macht des Staates, der dem Recht erst Geltung verschafft,  oder b) umgekehrt, dass der Staat aus dem Recht abgeleitet wurde, da nicht dem Staat, sondern allein der Ordnung des menschlichen Verhaltens aus dem Recht, Rechnung zu tragen ist.

Die Ordnung des menschlichen Verhaltens, die H. KELSEN möglichst weltanschaulich neutral  aufstellen will, um gerade ungerechtfertigen Herrschaftsansprüchen eines Staates oder diktatorischen Herrschen  zu entgehen, kann sie in einer (endlosen) Hermeneutik der sprachlichen Äußerungen legitimiert werden? Der Geltungsgrund – siehe oben 2. Teil meiner Lektüre – kann nie durch Methoden der Rechtsauslegung gefunden werden,  denn hermeneutisch liegt das Sein des Rechts in seiner sinngebenden Norm, und die sinngebende Norm soll schon das Recht sein  – das ist ein glatter Zirkel. (M. POTACS stellt das sehr leserlich, verständlich, übersichtlich und sympathisch da. Die Frage nach dem Geltungsgrund wird nicht gestellt.) 

3) Das „intentionale Verhalten“ bei H. KELSEN hört sich als ein unverfänglicher Begriff an, auf den das Handeln des Menschen zielt, die logische Begründung der Absicht eines Handelns im „Willensakt“ scheint ebenfalls plausibel, die Sammlung von rechtsdogmatischen Wissensquellen in einem normativen System und in einer Rechtsordnung ist ein schlussfolgerndes Denken – das ist alles sehr einsichtig, aber die Legitimation des in und durch Normen zusammengestellten Rechtssystem kann nicht wieder bloß positiv gesetzt sein!? Das führt m. E. gerade zu manipulierbaren  Formen eines „souveränen“ Staates und seiner Repräsentanten, die im Namen des Gemein-Nutzens, oder nolens volens und tendenziell heute im Namen des demokratischen „Gemein-Wohls“, Normen als Recht verabschieden, ohne  aber beurteilen zu können, ob das noch Recht ist oder schon Unrecht. Der Sinn der Gesetzgebung und Rechtssprechung ist hermeneutisch zirkulär, sobald nur von der Kompatibilität der Normen ausgegangen wird, und deshalb geschichtlich kontingent.

Ein „Willensakt“ ist nicht mehr per se die zugrundeliegende Absicht in einem Urteilsakt bei einer Handlung, sondern die Absicht im Willensakt wird gedeutet im Licht und im Sinn-Begriff der bedeutungsgebenden Norm. Das „intentionale Verhalten“ ist nicht mehr das anthropologische Streben nach Glück und Erfüllung, sondern ist gedeutetes Verhalten auf eine, weiß Gott von woher kommende Norm eines vorgegebenen, allgemeinen  Glücksverständnisses. Die kategorialen Begriffe wie „Intention“, „Willensakt“, „Absicht“  sind in eine eigenartige Mehrdeutigkeit und geschichtliche Relativität gerutscht. Da nun eine „Intention“, ein „Willensakt“, eine „Absicht“  unmittelbar nicht  mehr zugänglich ist, kann sie nur in den Objektivationen im Handeln erkannt werden, das ist erkenntniskritisch klar, aber wie werden sie gedeutet? Durch die Sinnbestimmung einer unausgewiesenen Norm.  

Ein erkenntniskritischer Zugang sieht m. E. anders aus:  In einer transzendentalen Analyse müssen  die interpersonalen und rechtlichen Objektivationsformen des Handelns zuerst verstanden werden – ehe in prozessartigen Schritten auch zu einer rechtlichen, logisch-praktischen Rechtsordnung übergegangen werden kann, die aber wiederum nicht normorientiert gemessen wird, sondern begrifflich nach Recht und Unrecht.

4) Bei H. KELSEN läuft es erkenntniskritisch eigentlich so, dass im Grunde die Freiheit des Individuums schon faktisch vorausgesetzt wird, und deren Handeln wird hermeneutisch im Licht der ebenfalls sprachlich schon vorliegenden, faktischen Äußerung einer Normenordnung beurteilt. Aber es ginge ja gerade bei einer Rechtstheorie und Rechtsphilosophie zuerst darum, die Freiheit des Individuums zuerst überhaupt zu erkennen, um sie dann anwendungsbedingt zu sichern und auszubauen und in eine bürgerliche Rechtsordnung der Freiheit überzuführen. Welcher Geltungsgrund einer Norm könnte aber hermeneutisch die Motivation abgeben, bürgerliche Freiheit anzustreben und auszubauen? Eine bloße, scheinbare „Beobachtung“ einer juridischen Gesetzgebung, einer juristischen Rechtssprechung und einer administrativen Anordnung ist ohne transzendentale Idee eines Naturrechts oder eines Guten und Bösen (Unrecht) nicht möglich.  

Oder kann z. B. von einer Normenordnung (und deren ungeklärter Sinn-Ordnung)  her geklärt werden, wasVerhalten“ letztlich ist? In einer Positiven Rechtslehre wird stillschweigend schon vorausgesetzt, was „Verhalten“ ist, nämlich normgerechtes Verhalten oder nicht.  Aber heißt das z. B., dass, wie im Behaviorismus gesagt wird, das Verhalten letztlich immer auf das Überleben zielt? Liegt das Glücksstreben und das Verhalten über ein rein behavioristisches Verhalten hinaus – wie sollte die Bedeutungsgebung einer Norm das erkennen und entscheiden können? Sie kann ja nur sprachlich geäußerte Rechtssätze interpretieren, aber nicht das Verhalten dem Geltungsgrund nach als rechtlich oder unrechtmäßig beurteilen, als gut oder als böse.  

In einer transzendentalen Analyse hingegen kann geklärt werden, was letztlich hinter dem „Verhalten“ steckt. Dazu wieder K. HAMMACHER: In der „Anerkennung“ oder „Verwerfung“ erkennen wir einen Freiheitsvollzug, der sich im Recht als bürgerliche Freiheit, die sich auf die Verfügungsmöglichkeiten dessen, „was sich ziemt“, stützt, soweit dieses begründeten Erwartungen – wie sie genannt worden sind – entspricht, (…) 10

Wenn der (subjektive oder objektive) Willensakt“ als supponierter freier Wille zwecks Urteilsfindung angenommen wird, „intentional“ die Absicht hinter jeder Handlung von der Gesetzgebung und Rechtssprechung berücksichtigt wird (als „Vorsatz“, wie man dort sagt), ein jedes „Verhalten“ auf Glück ausgerichtet ist und zwischenmenschlich im Handeln sich manifestiert (das Wünschen manifestiert sich nicht), – wenn alle diesen Dimensionen im Recht von H. KELSEN durchaus angesprochen werden, anscheinend alle Komponenten bei ihm enthalten sind, so bleibt die Frage nach dem Geltungsgrund und der Wahrheitsfähigkeit seiner Normentheorie noch immer offen.

5) M. a. W., die reflektierende Urteilskraft eines H. KELSEN vertauscht  die Begriffe eines substantiellen, jedem einzelnen Individuum von Natur aus zukommenden Rechts („Naturrecht“) mit der akzidentiellen Bestimmung eines erst durch die Normen gedeuteten Rechtsordnung und gedeuteten Rechts.
Anders gesagt: Sie vertauscht die Wirksamkeit eines interpersonalen Handelns mit der Ursache, dass angeblich erst durch die normative Ordnung die Wirksamkeit, z. B. eines Rechtsgeschäft, gültig
garantiert ist, anstatt die Wirksamkeit und Gültigkeit eines Vertrages aus dem interpersonalen Handeln abzuleiten.  

Ich zitiere genau das Wort von oben, aber genau mit diesem hermeneutischen Makel, dass das Sein eines Willensaktes in einer normativen Ordnung vielfach ausgelegt und verdreht! werden darf: RR2, S 5 „(…) Darum trifft nicht zu – wie vielfach behauptet wird – die Aussage: ein Individuum soll etwas, bedeute nichts anderes als: ein anderes Individuum will etwas; das heißt, dass sich die Aussage eines Sollens auf die Aussage eines Seins reduzieren lasse.“ (sc. erst dank der normativen, positiven Rechtsordnung gilt das Wollen und kann von einem Sein des Wollens gesprochen werden? Vorher gibt es kein erkennbares Sein in dem „Ich will etwas – an die Adresse des Anderen gerichtet. Die gedeutete, normative Sollensordnung legitimiert erst, von einem Sein des Wollens zu sprechen? Wissen wir dann noch, was wir wollen, wenn wir etwas sagen?  

H. KELSEN war mit der Kant-Auslegung schlecht beraten. Da ihm, so scheint mir, die kantische Rechtslehre zu formal oder praktisch oder zu naturrechtlich orientiert war, entwickelte er eine leichter zu durchschauende,  schematisierte und verobjektivierte Form der Positiven Rechtslehre. Dies ist ihm irgendwie nachzusehen, wenn man sich nur auf KANT berufen möchte, noch dazu bei dem naturwissenschaftlichen  Einschlag der damaligen Zeit, nach üblen Erfahrungen monarchistischer, autoritärer Herrschaft, psychologischen Erklärungen des Menschenbildes u. a. m. 

KANT fehlt leider das Zwischenglied eines bereits a priori bestehenden Rechts- und realen Wechselverhältnisses von Personen. Entsprechend verobjektiviert und tlw.  autoritär – siehe dann Anhang –  fällt das Rechtsgesetz schon bei KANT aus. Es ist nur „hypothetisch“ gültig. Das formale Rechtsgesetz, nochmals verobjektiviert und in versprachlichter Form einer Normentheorie  dargestellt, führt zu einem ausgeklügelten „Positiven Recht“ im positivistischen Sinne. Wird damit, mit KANT gesprochen, das Rechtsgesetz nochmals  hypothetischer? 

© Franz Strasser, 17. 8. 2021

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Anhang zu KANT: Die grundsätzlichen Definition des Rechts wird in der MdS (1797) im Sinne eines formalen Freiheitsgebrauches geschildert:

Die Pflichten nach der rechtlichen Gesetzgebung können nur äußere Pflichten sein, weil diese Gesetzgebung nicht verlangt, daß die Idee dieser Pflicht, welche innerlich ist, für sich selbst Bestimmungsgrund der Willkür des Handelnden sei, und, da sie doch einer für Gesetze schicklichen Triebfeder bedarf, nur äußere mit dem Gesetze verbinden kann.“ (Ausgabe Weischedel, Bd. VIII, MdS AB S 15)

Der Begriff des Rechts, sofern er sich auf eine ihm correspondirende Verbindlichkeit bezieht, (d.i. der moralische Begriff desselben) betrifft erstlich nur das äußere und zwar praktische Verhältniß einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Facta aufeinander (unmittelbar oder mittelbar) Einfluß haben können. Aber zweitens bedeutet er nicht das Verhältniß der Willkür auf den Wunsch (…) sondern nur nach der Form im Verhältniß der beiderseitigen Willkür, sofern sie bloß als frei betrachtet wird, und ob durch die Handlung eines von beiden sich mit der Freiheit des andern nach einem allgemeinen Gesetze zusammen vereinigen lasse. (ebd., A 33 § B)

Ein strictes (enges) Recht kann man also nur das völlig äußere nennen. Dieses gründet sich nun zwar auf dem Bewußtsein der Verbindlichkeit eines jeden nach dem Gesetze; aber die Willkür darnach zu bestimmen, darf und kann es, wenn es rein sein soll, sich auf dieses Bewußtsein als Triebfeder nicht berufen, sondern fußt sich deshalb auf dem Princip der Möglichkeit eines äußeren Zwanges, der mit der Freiheit von jedermann nach allgemeinen Gesetzen zusammen bestehen kann. — Wenn also gesagt wird: ein Gläubiger hat ein Recht von dem Schuldner die Bezahlung seiner Schuld zu fordern, so bedeutet das nicht, er kann ihm zu Gemüthe führen, daß ihn seine Vernunft selbst zu dieser Leistung verbinde, sondern ein Zwang, der jedermann nöthigt dieses zu thun, kann gar wohl mit jedermanns Freiheit, also auch mit der seinigen nach einem allgemeinen äußeren Gesetze zusammen bestehen: Recht und Befugniß zu zwingen bedeuten also einerlei.“(ebd. § E AB 36f)

Der bloß legal handelnde Mensch befolgt das Rechtsgesetz, so müsste man im Gegensatz zum moralischen Kategorischen Imperativ sagen, hypothetisch. Es ist nicht kategorisch von innen her geboten, sondern nur formal, äußerlich im Sinne eines kompatiblen Freiheitsgebrauches und mit Rücksicht auf die eigene Sicherheit und auf den eigenen Rechstschutz.  Das Rechtsgesetz ist mit einem „Bestimmungsgrunde der Willkür überhaupt im Subjekte verbunden“ (MdS, AB 15), sie kennt nur eine gesetzliche Triebfeder.

Diese äußere Form der Bestimmungswillkür, diese gesetzliche Triebfeder – führt sie zu einer Normentheorie einer Positiven Rechtslehre, aber ohne einsehbaren Geltungsgrund – wie H. Kelsen das verstanden hat? 

Kritisch an Kant gerichtet: Das allgemeine Sittengesetz ist nicht transzendental aus einer Einheit eines reinen Willens einsehbar. Es erscheint faktisch als Gesetz in uns und zwischen uns, soll Freiheit mit Freiheit vereint werden – und KANT nennt es ein kategorisches Sollen bzw. einen kategorischen Imperativ, aber er kann nur formal und  faktisch-phänomenologisch dieses Sollsein konstatieren. Geschweige, dass mit diesem Soll und einer darin liegenden praktischen Selbstreflexion die ganze Theorie der Erkenntnis selbst grundlegend verändert würde. 

Bei gutem Willen kann man bei KANT eine materiale Wertethik im sittlichen Handeln (schlussfolgernd) finden, doch theoretisch kann die Freiheit und das Wollen im  Erkennen ausdrücklich nicht eingesehen werden. Theoretisches Erkennen und praktisches Wollen und Handeln haben verschiedene Geltungsgründe – und sofern jetzt eingeschränkt auf den Rechts- und Ethikbereich das Sollen übertragen werden soll, kann es ebenfalls nur faktisch und positivistisch übertragen werden. 

M. a. W., KANT muss seine intellektuelle Anschauung einer transzendentalen Selbsterkenntnis des Wollens und des Willens delegieren auf eine verobjektivierte Sicht eines unbedingten Sollens. Entsprechend verobjektiviert und fällt das Sittengesetz und das Gesetz der Selbstbestimmung als faktisches, allgemeines Gesetz aus. Die Vernunft kann, aus der Sicht des späteren FICHTE, genetisch die Erzeugung ihrer Selbstgesetzgebung nicht mehr durchdringen. KANT, gewissenhaft und genau in seinen vielen Definitionen und Begriffen, spricht deshalb folgerichtig von „Metaphysik“, nicht transzendentaler Erkenntnis von Ethik und Rechtslehre: Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ (GdMS, 1785), „Metaphysik der Sitten“ (MdS, 1797).

Die Antwort bei FICHTE ist, kurz gesagt: Im reinen Willen ist Totalsetzung von Sein und Wesen. Im freien Willen des empirischen Ichs allerdings tritt infolge des sinnlichen Charakters der reine Wille in seiner Einheit als Sollsein hervor. In der Form des Solls (als Geltungsgrund) ist dann die transzendentallogische Einheit im deliberierend-freien Willen gesetzt, weil reflexiv immer schon das freie Wollen zurückbezogen ist auf die Einheit eines prädeliberativ reinen Wollens. Das Sollsein im freien Willen geschieht nicht linear in einer unendlichen Differenz zur Erfüllung und Verwirklichung dieses Solls (eines deliberierenden Aufforderungs-Solls), sondern das reflexive Sich-Wollen und Sich-Bestimmen des freien Willens ist bereits völlig begründet und gerechtfertigt, weil es in und aus der Einheit des reinen, prädeliberativen Willens ermöglicht ist.

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1Mein Hintergrund der Analyse von K. KELSEN ist hier das Buch von K. Hammacher, Rechtliches Verhalten und die Idee der Gerechtigkeit. Ein anthropologischer Entwurf. 2011. Zum Thema Willen und Urteilsakt – vgl. dort S 105ff „Praktizierte Begriffe.

2Das Buch ist eine Darlegung und Weiterführung der Positiven Rechtslehre KELSENS, und teilt letztlich die hermeneutische Grundoption, Recht aus der Norm zu verstehen. Zu den vielen Methoden der Auslegung des sprachlich ausgedrückten Rechtes, siehe ebd. S 155 – 195. M. POTACS spricht von Wortsinninterpretation, Interpretation nach dem Textzusammenhang, Rechtskonforme Interpretationen, Teleologische Interpretation, Sinnvolle Auslegung, Interpretation nach dem effet utile, Historische Interpretation, per Analogie, Reduktionen. Alles ist möglich und es muss abgewogen werden, welche Form zu wählen ist.

3Zum Begriff des Willens bei FICHTE – siehe diverse Blogs in der Kategorie „FICHTE“. Besonders den Blog zum „prädeliberativen Willen“.

4H. KELSEN könnte sogar den Aufsatz direkt gekannt haben, weil er in Wien veröffentlicht wurde als Antwort auf Rudolf von Iherings Vortrag »Über die Entstehung des Rechtsgefühls«, veröffentlicht in Allgemeine Juristenzeitung, 7. Jahrgang, Nr. 11, Wien ,1884. Zitiert nach K. Hammacher, Rechtliches Verhalten, a. a. O., Franz Brentano: Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis (1889), hrsg. von Otto Kraus, ‚1969, S 17. /18.

5Siehe K. Hammacher, Rechtliches Verhalten, a. a. O., S 103.
Franz Brentano: Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, Ausg. Kraus S. 17/18: „Es kommt zu dem Vorstellen eine zweite intentionale Beziehung zum vorgestellten Gegenstande hinzu, die des Anerkennens oder Verwerfens[….] Wenn in der zweiten Grundklasse die intentionale Beziehung ein Anerkennen oder Ver werfen war, so ist sie in der dritten ein Lieben oder Hassen oder (wie man sich ebenso richtig ausdrücken könnte) ein Gefallen oder Mißfallen.[… ] Ein Lieben, ein Gefallen […] haben wir [… ] in jeder Betätigung des Willens vor uns.“

6Siehe den Artikel Glück v. K. Hammacher in:  Handbuch philosophischer Grundbegriffe, hrsg. von Hermann Krings, Hans Michael Baumgartner und Christoph Wild, München 1973, Bd. II S. 606-614. Dort wird Glück“ von mir definiert als das, was Wunsch und Wille entspricht, aber nicht durch den Willen herbeigeführt werden kann. Diese Definition muß »ethisch« verstanden werden, das soll heißen, es muß aufgezeigt werden, dass ein anderes Denken des Glücksbegriffs, etwa ein solches, das diesen, wie im »Utilitarismus« oder »Behaviorismus« als durch den Willen herbeiführbar ansetzen, scheitern muss. Die genauere Argumentation müsste dort nachgelesen werden.

7K. HAMMACHER, Rechtliches Verhalten und die Idee der Gerechtigkeit, Baden-Baden, 2011, S 108-112. K. HAMMACHER weist in seiner rechtshistorischen Analyse des Begriffes „Glück“, Gemein-Wohl“ und „Gemein-Nutzen“ auf die Veränderung des Rechtsbewusstsein seit dem 18. Jhd. (ab Bentham u. a.) hin, dass das subjektive Recht in den Vordergrund rückte, und dementsprechend das Rahmenverständnis für die Sicherung des Rechts durch den Staat sich ebenfalls vom Gemein-Nutzen zum „Gemein-Wohl“ hin veränderte. Der Staat hat dem subjektiven Recht zu dienen, nicht einem allgemeinen Gemein-Nutzen, so zumindest die tendenzielle Ausrichtung.

8Siehe K. HAMMACHER, Rechtliches Verhalten und die Idee der Gerechtigkeit, Baden-Baden, 2011.

9Ebd. , Exkurs, S 112. Die „handlungslogische Verbindlichkeit“ wäre dann das Kernstück seiner Analyse. Siehe dort.

10K. Hammacher, ebd. S 106

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser