J. G. Fichte, Wissenschaftslehre 1811. 2. Teil, 11. u. 12. Vorlesung,  Kommentar (in Stichworten)

11. Vorlesung

Bis jezt ist die Sache gar leicht, und noch ungehindert vorwärts gegangen. Es ist schlechthin nur Ein Seyn: nur Eins ist, das absolute, Gott; u. dessen Seyn geht nie heraus aus ihm, u. bleibt ewig in ihm selbst. Und so würde denn gar nichts seyn, ausser ihm; wie denn auch in der That nichts ist ausser ihm. (ebd. S 68 Z 26f)

S 69 – Es wird die Erscheinung als „Seyn ausser Gott“ weiter beschrieben. (

Das absolute Erscheinen Gottes ist, und wird nicht.

S 70 Da aber ein Produkt der Vollziehung eines Vermögens angenommen wird, ist das „Seyn ausser Gott“, die Möglichkeit einer Erscheinung der Erscheinung – der die transzendentale Reflexion nachgehen will.

Es wird die ontologische Differenz zum Sein Gottes immer gewahrt: Diese Erscheinung ist kein „hineintreten zum Seyn, u. sich verwandeln in Seyn“, es ist Schema 2, Abbild des Seyns“ (Z 10)

S 71 Wir stehen vor zwei Denkmöglichkeiten: a) Von der phänomenalen Mannigfaltigkeit des Seienden auszugehen und reduktiv alles auf die absolute Einheit zurückzuführen („per inductionem“ – ebd. Z 6),

oder b) deduktiv von oben vorzugehen und daraus die Mannigfaltigkeit abzuleiten.

Fichte möchte letzteren Weg hier gehen, „ganz rein (den Weg der Deduktion) vorlegen, sogar mit tabellarischer Uebersicht diese Deduktion ausstatten.“ (ebd. S 71 Z 31)

De-duzieren heißt ableiten aus einer Idee. Diese Idee wird mittels Synthesis gefasst, oder besser gesagt, soll mittels einer solchen Synthesis gefasst werden, in der die formalen Bedingungen späterer Vielheit und Mannigfaltigkeit gleichfalls enthalten sind.

Anders gesagt: Es soll nicht eine bloß oberflächliche Synthesis phänomenaler Elemente behauptet werden, sozusagen eine bloße theoretische Zusammenstellung der Mannigfaltigkeit, sondern es soll eine Funktion gebildet werden, d. h. eine „Deduktion“ durchgeführt werden, aus welcher und in welcher nach Gesetzen der Erscheinung des göttlichen Seins die formale Mannigfaltigkeit des Seins ebenfalls in ihrer materialen Wert- und Sinnbestimmung hervorgeht bzw. auf absolute Einheit wieder zurückgeführt werden kann.

M. a. W., die Funktion soll die Bildung einer anschaulichen Disjunktionseinheit zeigen, wie aus Einheit die Mannigfaltigkeit genetisch einsehbar hervorgeht und umgekehrt, aus der Mannigfaltigkeit in die Einheit zurückgegangen werden kann (ohne die Mannigfaltigkeit zu verlieren und ohne Relativierung des Absoluten).

Die Sichtbarkeit einer einheitlichen Form – und disjunktiv davon unterschieden, aber gewusst unterschieden, der Sinngehalt und Soll-Gehalt der Mannigfaltigkeit der Erscheinung – das macht die analytisch-synthetische Einheit und das System der WL aus.

Dies wird ein langer Weg der Veranschaulichung und Verbegrifflichung werden, d. h. wie die Folgerungsketten von Begriffen sich über einen Faktor „X“ – dem Satz vom Grunde – ableiten und sich in inneren Denkschritten wie äußeren Anschauungen bewähren lassen.

Eine Synthesis, sage ich, die Einheit (im Princip) einer Mannigfaltigkeit (in der Erscheinung]]: und zwar ein sehr reicher, und, wie es scheinen möchte, sehr verwikelter synthetischer Periode. Bedenken Sie, wenn dem mit solchen Forschungen gar nicht bekannten, die Aufgabe gestellt würde, alles, was jemals von aller Zeit her im Bewußtseyn vorgekommen, was in alle Ewigkeit fort in ihm vorkommen wird, als Eins zu begreifen, u. auf Eins zurükzuführen; u. zwar nicht etwa zum Scheine, indem er die Mannigfaltigkeit eben liegen ließe, sondern wirklich, u. in der That, indem er sie wirklich gelten ließe, u. rechtlich erklärte, so würde ein solcher ohne Zweifel vor einer solchen Aufgabe erschreken: u. doch ist dies gerade die unsrige. [Der Weg sei] Historisch angegeben: Die Erscheinung der Erscheinung = das Wissen, bleibend dasselbe Eine Wissen, u. seinen innern Zusammenhang nie verlierend, spaltet sich in zwei GrundFormen, zufolge deren einer es sich spaltet ins Unendliche, zufolge der andern in ein fünffaches. Die ganze Unendlichkeit aber erstrekt sich über das Fünffache, u. die Fünffachheit wieder über die Unendlichkeit: (…) (ebd. S 72 Z 5ff)

Die Erklärung der Erscheinung (als Erscheinung) hängt dabei unmittelbar mit dem Begriff des „Bildes“ (griech. Idee) zusammen. Die logische Selbstständigkeit der Vorstellung, die alle Logiker und Mathematiker selbstverständlich voraussetzen, kann nur in einem Bildverhältnis ausgedrückt werden. Aber nicht nur für eine Logik und Mathematik, sondern für alles Denken und Reden und Können, Entscheiden und Tun, Vorstellen, praktisches Handeln, wird diese Reflexivität im Bilden vorausgesetzt, sonst könnte nicht erkannt und gehandelt und etwas gewollt werden.

Ich zitiere hier J. Widmann zum Begriff der „Deduktion“: Die anfängliche Gesetzesgenesis führt zum reinen Begriff des „Bildes“. Durch die Realität des Begriffes kann nun der Begriff des Möglichen neu bestimmt, durch dessen neue Bestimmung das Gesetz weiter differenziert werden, das macht eine neue Negationsunterscheidung möglich – und dies führt zum Begriff der „Idee“. Der Vorgang lässt sich ins Unabsehbare wiederholen und wird jeweils eine neue Bestimmung der „Idee“ hinzufügen. Aber er wird die Grundform der Idee nicht verlassen oder durchbrechen können: denn die reine Begriffsform der Idee ist nichts anderes als die Nachkonstruktion des bloßen Gesetzesgenesis und ihrer reinen Begriffsfolgen (Negation, Bild)“ 1.

S 73 Die Erscheinung der Erscheinung ist das Wissen und bleibt immer dasselbe und spaltet sich als Wissen doppelt: Ins Unendliche und in eine Fünffaches der Wissensformen, je nach Blickwinkel des Seh-aktes.

Die Unendlichkeit erstreckt sich über das Fünffache und die Fünffache wieder über die Unendlichkeit – je nach Ansicht.

So gibt es ein doppeltes, wechselseitig sich bestimmendes Gesetz.

Aufgabe für das Denken ist, die reine Anschauung zu denken, d. h. die Dekonstruktion des Wissens und der synthetisierenden Anschauung zu leisten, d. h. um sie als das Leben der Anschauung zu begreifen.

Das Wissen in seiner absoluten Form erzeugt sich selbst und sieht dieser Erzeugung in sich selbst zu – mit dem Ergebnis des anschaulichen Faktums.

12. Vorlesung
Das Sein der Erscheinung und das Soll und das Als des Denkens.

Ein Bilden (verbal bilden) gibt es nur, inwiefern das Vermögen wirklich „u. in der That ist“ (ebd. S 74 Z 13). Das Vermögen bildet und bildet durch sich ein Bild. Die Frage ist, wie kann aus der absoluten, seienden, nicht werdenden, unwandelbaren Einheit der Erscheinung zu einer zweiten Erscheinung derselben übergangen werden? Wie spaltet sich die unwandelbare Einheit in eine Zweiheit durch das Bilden?

Ich schlage wieder den Weg der Deduktion ein. [Zur] Form: dass der Fassungspunkt in der Deduktion nicht vollständig, u. umfassend ist, wird sich zeigen; wäre er es, nun so wären wir eben in der strengen Methode.“ (ebd. S 74 Z 26f).

Fichte führt jetzt in sehr eindringlicher Rede und Reflexion des eigenen Denkaktes zum Begriff des Gesetzes und zum Begriff des „Solls“ (ebd. S 77 Z 16) – als Gesetz für die Freiheit. (vgl. ebd. S 74 – 78)

Der Begriff des „Soll“ ist die Idee für die Deduktion schlechthin, „(…) ein Soll, das die Freiheit stehen läßt, nicht ein Muß, das sie aufhebt. Das Soll ist die Form des Seyns, die Freiheit durchdringend, u. mit ihr vereinigt, das synthetische Glied beider (sc. des Gesetzes und der Freiheit).“ (S 78 Z 24f)

Das Soll ist das „fortdauernde absolute Erscheinen Gottes in der Freiheit.“ (ebd. S 80 Z 20)

Das Soll zu denken heißt eine Synthesis des Möglichen in Bezug auf die Wirklichkeit in einer Konkretion zu sehen und vorwegzunehmen, heißt, ein „Als“ (ebd. S 81 Z 7) zu denken.

In der Erscheinung der Erscheinung, vom Schema 1 zu Schema 2, von der unwandelbaren Einheit zum Schema 2, konnte genau gesagt dieses vollziehende Schema eines „Als“ noch nicht behauptet werden, „obwohl es implicite, u. als unsichtbarer factor allerdings drin lag?
Antwort: Weil es als absolutes mit dem Schema zu Einem verschmolzen war, conkrescirt damit aufgehend; ohne Unterscheidung, in seinem besondern Seyn durch das Schema verdekt. – Dieser
Konkrescenz also müste abgeholfen werden: Das Schema müste drum zufördert besonders, und mit seinem Charakter der Absonderung, als Schema erscheinen. W.D.E.W.“ (ebd. S 81 Z 12f)

Hinter die Erscheinung des Seins (und dem damit verbundenen Bild des Seins und erneuten Bild des Bildes vom Sein) kann nicht zurückgegangen werden und der Begriff des Seins ist selbst zufolge der schematisierenden Erscheinung, „(…) wie die Erscheinung ist, so ist er, denn er ist zufolge des ursprünglichen Seyns der Erscheinung. Sie macht nicht das Seyn, sondern die Erscheinung des Seyns macht sich selbst in ihr, (…)“ (ebd. S 82 Z 28ff)

Die Form dieser Erscheinung im Schema und im Bilden zu erfassen als solches Schema oder Sein, heißt „Denken“. (ebd. S 83, Z 6)

Die Erscheinung des Seins durch sich selbst im Schematisieren und Bildens ist aber damit begründet und bildhaft weiter gedeutet als „bestimmtes Vermögen der Freiheit“ (ebd. S 85 Z 10), denn bestimmt ist die Freiheit a) innerhalb des allgemeinen Erscheinens des Seins überhaupt – weil Gott erscheint – und bestimmt

b) im „Als“ der Erscheinung des Seins. „Gott kann erscheinen nur in der Freiheit: in dieser nun erscheint er allerdings, unabtrennbar von ihr, und nicht auszutilgen; denn er ist ihr Träger: (…)“ (ebd. S 85 Z 5 6f)

(c) Franz Strasser, 

1Vgl. dazu J. Widmann, Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens, a. a. O., S 164.

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser