Evolutionstheorie – 8. Anfrage; geschichtliches Sein und Sinnidee

Das Schweben der Einbildungskraft zeigt sich nach der WISSENSCHAFTSLEHRE nova methodo (1796-97) in fünffacher Weise: Indem das Ich seinen Zweckbegriff entwirft und seine Tätigkeit vom ursprünglichen Schweben aus mit einer praktischen Wahl beginnt, setzt es einen Grenzpunkt der idealen Reihe mit dem Sichherausgreifen aus der vernünftigen „Masse“ (ebd.). Es bildet das ursprüngliche, zum Selbstbewusstsein aufgerufene, frei sich bestimmbare Ich – innerhalb einer interpersonalen Aufruf-Antwort-Sphäre und innerhalb des ordo ordinans des göttlichen Willens. 

Die auf der Gegenseite der Wechselbestimmung liegende reale Reihe führt zur sinnlichen Anschauung der Natur und der leiblichen und moralischen Konstitution einer dynamischen Natur der Sittlichkeit.
Der fünfte Standpunkt wäre die durch den Denkakt selbst vermittelte Einheit aller vier Standpunkte.

Quer zu den vier materialen Bereichen des Denkaktes liegt die geschichtliche Konzeption der Einheit des Denkaktes. Dies würde jetzt nach der Konzeption der WL eine umfangreiche Analyse erfordern, die ich hier nicht leisten kann, aber ganz allgemein gesagt: Die Möglichkeiten der Realisationen der Vernunft  auf idealer wie realer Seite des Bewusstseins sind nochmals durch die geschichtlichen Freiheitsentscheidungen untereinander und vergleichsweise zusammengestellt und geprägt:  Die sinnliche und gesellschaftliche Natur, die religiöse und sittliche Natur – sie werden zusammengehalten und bestimmt durch eine geschichtliche Reihe der Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung durch Freiheit.

Um speziell bei der geschichtlichen Sinnidee jetzt zu bleiben: Die Zeit kann nur in der Einheit eines zuerst überindividuell, als sittliche Forderung zu denkendem Ich, und dann aktuell in einem invididuellen Ich gesetzt und gedacht werden. Geschichte entsteht, wo die bloßen, historisch apponierten Fakten (Daten) vom Bewusstseins-Akt innerhalb des überzeitlich identischen Ichs prinzipierend und prinzipiert erkannt und gebildet werden.  Eine geschichtliche Dimension in einem realen System des Natur-Lebens („Naturgeschichte“) oder Gesellschafts-Lebens kommt nur insoweit zustande, als das gegenwärtig zeitliche Vorstellen  das a) vergangene Sein und kraft eines übergehenden Wollens b) das zukünftige Sein in einer Einheit integriert und vorstellend erinnert – und dann auf die sinnliche Natur oder gesellschaftliche Natur überträgt. 1

Das heißt damit nicht, dass automatisch eine Entwicklung feststellbar ist, geschweige ein sogenannter „Fortschritt“ in der Geschichte.  Es könnte die geschichtlich-gesellschaftliche Selbstbestimmung von Freiheit – die Natur-Geschichte lasse ich hier einmal außen vor – jederzeit auf die Stufe einer bereits verlassenen Determination wieder zurückfallen – und der „Fortschritt“ ist ein Rückschritt geworden.   (Siehe meinen Blog zur Interpretation der 1. Vorlesung „Bestimmung der Gelehrten“ von 1811.)

Das zeitliche Werden des Selbstbewusstsein ist ein Übertragen und Entäußern und Entfremden ichlicher Momente nach außen, auf  eine verobjektivierte Natur und auf eine interpersonale Wirklichkeit. 2 

Im Manuskript PRACTISCHE PHILOSOPHIE wird die Denkbewegung eindringlich geschildert: FICHTE kommt über die Differenzierungen des äußerlich und innerlich Schönen (ebd. S 229), des Erhabenen, (ebd. S 230f), zu einer , wie er  sagt, „dynamischen“ Charakterisierung der Zeit und des Raumes, der Kategorien (ebd. S 231), zum „Mittheilungstrieb“ (ebd. S 233f) und zum

Trieb nach Wahrheit, Einheit, Zusammenhang, (der) empirisch in der menschlichen Seele zu bemerken (ist); theils sind ja hier Theile, die glaub‘ ich durch den categorischen Imperativ, als höchsten aller Triebe, erst vereinigt, in Ordnung gebracht, zu einem gemacht werden müßen.“ (Hervorhebungen von mir, ebd. S 233), sodass ein „regulatives Princip“ (ebd.) der praktischen und geistigen Selbstbestimmung des Ichs durch die Einbildungskraft gesetzt wird. 

Dadurch, dass die sog. Evolutionstheorie alles Werden auf die sinnliche Natur zurück-projiziert, und gerade umgekehrt, in und aus der sinnliche Natur  das interpersonale und geistige Sein erklären will,  verfällt sie, so paradox das klingen mag, ipso facto einem zeitlosen Mechanismus eine abstrakt gedachten, gar nicht mehr werdenden Natur. Sie perzipiert statisch und analytisch, verliert jede Dynamik freier Projektion, erinnert nichts mehr, projiziert nichts mehr, und kann eigentlich ein zeitliches und geschichtliches Werden nicht mehr fassen.

Das Erinnerungsvermögen und das Denken einer Dynamik ist  konstitutiv erst im Bewusstsein gegeben: „(…) denn unser Bewusstsein ist in keinem neuen Augenblick seiner Existenz mehr dasselbe, weil es sich erinnert.“ 3

Die Geschichte ist immer in uns präsent und ereignet sich in jedem Reflexionsakt.

Mit einer Konstitution der Zeit im Bewusstsein und dem Aufbau eines Geschichtsbewusstseins mittels freier Entscheidungsreihen ist einerseits einem blinden Fortschrittsglauben eine Absage erteilt, andererseits ist eine wirkliche Zeit, im Sinne von wahrnehmbarer Wirksamkeit z. B. in der eigenen Lebenszeit, in der Wahrnehmung der Natur, in der Beschreibung von Geschichtsperioden, eröffnet.  Das Leben der Freiheit ist ein Wahrfinden des Vergangenen und Gegenwärtigen.

Das stellt insofern eine höchst prekäre Situation dar, da die Geltungsansprüche der Vernunft selbst nicht zeitlich und veränderlich sind, wir hingegen uns zeitlich konstituieren müssen – und deshalb auch irren können. Wir verzeiten und versinnlichen uns über unsere Freiheit als Medium der Geltungsansprüche der Wahrheit und der sein sollenden Realisierungen von Vernunft – die für sich  unveränderlich und ungeschichtlich sind – und treffen oft gewaltige Fehlentscheidungen!  Es gibt keine von selbst ablaufende, evolutionäre Zeitreihe der Bestimmung der äußeren wie inneren Natur, sondern erst durch einen absolut-pertinenten Bestimmungsgrund, worin es uns immer und in jedem Fall im Wollen geht, wird die Zeit erfasst und dynamisiert und verstanden.

Die Frage des Fortschritts oder Rückschritts oder einer zeitlichen Dauer kann eine per se realistische oder rationalistische Evolutionstheorie gar nicht stellen. Sie hat im Grunde kein Zeit-Bewusstsein.

Gerade in der Ableitung des „empirischen Bewusstseyns“ in der Wlnm (1796-1799) eröffnet FICHTE  nicht von ungefähr die geschichtliche Sinnidee,  wodurch  die sinnliche wie die intelligible Welt erklärt und begründet werden können. (Siehe Blog zum Kommentar zur Wlnm).  Später wird die Geschichtsphilosophie sein direktes Thema werden, durch die äußeren historischen Ereignisse um Napoelon gezwungen (1805/1806), siehe aber z. B. bereits die letzten §§ der WL 1801/02, wo er vom „Weltenplan“ spricht.

Aus der WLnm: Die letzte synthetische Einheit von idealer Tätigkeit (durch den Zweckbegriff immer präsent) und realer Tätigkeit (durch das Wollen präsent) ist der reine Wille. Diese Wille kann –  als einsichtiger Grund des Übergehens und des Wollens – weder bloß idealistisch supponiert noch bloß realistisch vorausgesetzt werden, sondern muss allem Bewusstsein transzendental vorhergehend gedacht werden, damit er einsichtiger, pertinenter Bestimmungsgrund eines Selber-Übergehens in Freiheit bleibt. Der höchste Grund, die „Synthesis“, aus der alles Bewusstsein/Selbstbewusstsein genetisiert werden kann, ist nicht mehr ein vermitteltes Grund-Folge-Verhältnis, sondern eine alle Synthesis des Denkens und Wollens erst ermöglichende Thesis, ein durch sich selbst bestimmter Grund, eine sittliche Forderung, woran der Wille in der Erscheinung partizipiert. (Siehe diverse andere Blogs zum Satz vom Grunde oder zum übergeordneten Soll in den späteren WLn; siehe z. B. zur WL 1811 – die „infinitas des absoluten Solls…..“ )

Um nur ein Zitat zum REINEN WILLEN zu bringen, Ende des § 12:

[Wlnm §12, 134. 135] „[es gibt kein Übergehen mehr vom Bestimmbaren zum Bestimmten], sondern ein reines wollen […], das die Erkenntniß seines Objekt[s] nicht erst voraussezt sondern gleich bey sich führt, dem kein Objekt gegeben ist, sondern das es sich selbst giebt, das auf keine Berathschlagung [/] sich gründet, sondern das ursprünglich u. reines wollen ist – u. ohne alles zuthun als empirischen Wesen [,] bestimmte[s] wollen, es ist ein Fodern – aus diesem wollen geht alles empirische wollen erst hervor.“.

In der HL. SCHRIFT vollzogen die PROPHETEN diese vorreflexive Schau einer alles begründenden, prinzipiellen Vernunftrealisation in concreto. Die Philosophie eines PLATONS reflektierte in abstracto die Begrifflichkeit der Prinzipien der Freiheit und des Seins. Die Transzendentalphilosophie nach DESCARTES, KANT und FICHTE ging  ebenfalls von derselben platonischen Einheit des Wissens aus,  in der sowohl eine theoretische, wie eine praktisch sich vollziehende, im wahrhaftigen Tun und Bilden  sich bewährende Vernunftrealisation gesetzt ist. 4 Hinzukommend ist jetzt durch FICHTE, speziell durch die schärfere Durchdringung des Schwebens der Einbildungskraft, die praktisch wie theoretisch sich vollziehende, geschichtliche  Vernunftrealisation einer Sinnidee, worauf sich die Reflexion des Bewusstseins bzw. das Bilden des Bewusstseins im appositionellen Kausieren notwendig (modal) beziehen muss. Diese Sinnidee liegt in konkreter und geschichtlicher Weise dem apriorischen Wissen (dem Bewusstsein) als Urbild voraus, damit es sich selbst als freies Reflexions-Wissen (als Abbild  – Gen 1, 27 –  und Sich-Bilden) darauf beziehen kann (nicht muss). 5

Oben (6. und 7. Anfrage) bin ich auf die Ursprünge des Linienziehens und des Deklinierens als formale Elemente der Zeitanschauung (mittels Einbildungskraft) kurz eingegangen. Es wurde festgehalten: Durch die leibliche Vermittlung und leibliche Kraft kommt der Zeit eine konkrete und praktische Funktion zu: Die Zeit ist die ordinale Reihe der Dependenz, sinnlich angeschaut in der Kausalität des Wollens und als Übergehen von der Bestimmbarkeit zur Bestimmtheit. Sie ist ideal und wird so real. 

Zeit ist sonach nur die Form der Anschauung des Mannigfaltigen in Vereinigung vermittelst der DEPENDENZ. Durch dieses Verfahren entsteht der Einbildungskraft eine Zeit. Das erste ungetheilte Wollen wird wiederhohlt, u. gleichsam über das Mannigfaltige ausgedehnt u. dadurch entsteht ein Zeitreihe. Das Ich als das Bestimmende in dieser SYNTHESIS des MANNIGFALTIGEN fällt sonach selbst () in die Zeit.“(§ 11, S 120)

Ich müsste jetzt noch viel mehr Anfragen stellen, wie Zeit und Geschichte ideal und real zugleich sind: Zeit und Geschichte sind durch Einbildungskraft und Begriff erzeugt und gewirkt, stehen intentional unter einem Wollen, und sind letztlich von einer praktischen Sinnidee eines durch sich selbst bestimmten Willens bzw. einem pertinenten Bestimmungsgrund geleitet,  der sich urbildlich im zeitlichen und geschichtlichen Sich-Bilden des Bewusstseins  offenbaren  und realisieren will.
Eine evolutionäre Sicht der Natur oder
gesellschaftlichen-kulturellen Geschichte kennt letztlich keinen Zeitbegriff, ist dogmatisch, bricht den Denkprozess vorzeitig ab, und wird früher oder später autoritär.

23. 1. 2016 © Franz Strasser

————-

1Literatur dazu: Marco Ivaldo, Zur Geschichtserkenntnis nach der Transzendentalphilosophie. In: Fichte-Studien, Bd. 6, 1994, S 303 – 319.

Siehe ebenfalls R. LAUTH, die Konstitution der Zeit im Bewusstsein, Hamburg 1981.

2Ich erinnere an vorige Aussagen oben: „An sich entsteht die Welt nicht (…) in der Zeit; sie ist fertig.“ (PLATNER-VORLESUNG, GA IV, 1, 409.) Für uns aber fällt ihr Fortgang und die Entstehung neuer Produkte in die Zeit, u. wir müssen die Bildung der Welt auch in die Zeit setzen.“ (ebd.)

3R. LAUTH, Der Vorrang des transzendentalen Zugangs zur Philosophie, in: Der transzendentalphilosophische Zugang zur Wirklichkeit, Stuttgart 2001, R. LAUTH, S 37 . Zur näheren Begründung im ganzen System der WL: „Die Lehre von der reflektierenden Urteilskraft bestimmt im ästhetischen Bereich die faktische und praktische Bedeutung der Gefühle, und geht von da hinauf über die Leistungen der Bildungs- und Urteilskraft (z. B. Ableitung des Körpers als Sphäre der Wirksamkeit des Ichs auf das Nicht-Ich, PRACTISCHE PHILOSOPHIE, GA II, 3, S 194 ff,) zu den Ideen und der Tätigkeit des praktischen Vernunft als solcher. „Hier schon erkennt Fichte, dass wir diese praktische Seite auf den höheren Stufen im Objekte selbst tätig erblicken. So erschloss sich ihm die Interpersonalität.“. (ebd. S 35)

4 MARTIN HEIDEGGER unterstellte KANT, dass dessen Akt des „Ich-denke“ letztlich selbst zeitlich ist. Eine temporale Konstitution zeichnet das ganz Bewusstsein aus. Die Zeitlichkeit des Daseins ist unser Konstituens. FICHTE würde hier sagen: Die Zeit selber konstituiert nicht realistisch/idealistisch das Bewusstsein, wiewohl das Bewusstsein (Selbstbewusstsein) sich  zeitlich konstituiert. Die Einbildungskraft liefert zwar den Stoff für Anschauung und Begriff, d. h. sie  liefert in Zusammenarbeit mit der Hemmung bzw. der Aufforderung den Stoff der Kontinuitätsanschauung einer Zeit und eines Raumes, aber deshalb ist die Zeit- und Raumanschauung letztlich im Begriffe nur gedacht, nicht realistisch zu supponieren. Das Kontinuum der Zeit und des Raumes ist nicht vorgegeben (wie bei HEIDEGGER), sondern wird erst eo ipso durch einschauende Übergehen im Wollen geschaffen. In diesem Übergehen macht sich ein überzeitlicher  Geltungsanspruch  sichtbar, der, obwohl selber unbildbar, so paradox das fürs Erste klingen mag, in einem geschichtlichen Abbild doch konkret wahrnehmbar und erkennbar sein muss, wenn das Sich-Bilden des Bewusstseins die überzeitliche Synthesis  und Sinnidee eines durch sich selbst bestimmten Willens nachbilden will. Hier wäre der Ansatz des Denkens von einer positiven Offenbarung.  

5Die Sinnidee wird nach R. LAUTH als objektiv gültiges Urteil in der Erfahrung beschrieben. Er spricht auch berechtigt von einem „Prinzip des Sinns“, insofern aus diesem erkannten Prinzip abgeleitet werden kann. Ein Soll der praktischen Forderung wird mit dem Ist des Daseins vereinigt; zu erwarten steht natürlich, dass die kritische Philosophie die theoretische Erkennbarkeit der Freiheit leugnet, doch ein grundsätzliches Dass einer praktischen Freiheit [in der Erfahrung] wird sogar von KANT zugegeben; zumindest stellt er diese Sinnforderung. Mit dem Begriff der Sinnidee spreche ich jetzt aber nochmals eine explizit christliche Realisierung von Vernunft und reinen Willen an. Sowie sich aufgrund des strebenden Fühlens die Suche nach einem anderen „fühlenden“ Ich konkret ableiten lässt, so muss sich im geschichtlichen Erkennen einer konkreten Person und einer konkreten Tat  die zu suchende Sinnidee ableiten lassen. FICHTE hat in seiner „Staatslehre“ klar die christliche Zeitenwende erkannt, wenn er der Person JESU CHRISTI in concreto die entsprechende Bedeutung zuschreibt.  Der Rückbezug auf Sinnrealisierungen in concreto, nicht bloß abstrakt!, ist wesentlich, denn nur so ist vollständige und auch sittlich vollkommene und ganze Einheit im Wollen gesetzt.

Print Friendly, PDF & Email

Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser