Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters – 2. Vorlesung

Von einer apriorischen Zeit-Einheit und „Weltplan“ geht Fichte jetzt weiter zu einer Explikation des substantiellen Gattungsbegriffes (oder universellen Subjektsbegriffes) und kommt bereits zur Beschreibung seines gegenwärtigen Zeitalters. Es wird als Zeitalter vollständigen „Sündhaftigkeit“ beschrieben. Warum so abwertend und negativ?

1) Es beginnt wieder mit dieser eigentümlichen disjunktiven Situation, dass a) Fichte zwar den übergeordneten, apriorischen Konstitutionsstandpunkt der Zeit und Geschichte behaupten, aber b) zugleich den eigenen zeitbedingten Status einbeziehen und analysieren will.

Der zeitüberhobene Status horcht sich so an: „Wenn er wohl verstanden, und wahr gefunden und im Gedächtnisse behalten hätte folgendes: Das Leben der menschlichen Gattung hängt nicht ab vom blinden Ohngefähr, noch ist es, wie die Oberflächlichkeit gar oft sich vernehmen lässt, sich selbst allenthalben gleich, so dass es immer gewesen wäre, so wie es jetzt ist, und immer so bleiben werde: sondern es geht einher und rückt vorwärts nach einem festen Plane, der nothwendig erreicht werden muss, und darum sicher erreicht wird. Dieser Plan ist der: dass die Gattung in diesem Leben mit Freiheit sich zum reinen Abdruck der Vernunft ausbilde. Ihr gesammtes Leben zertheilt sich, – gesetzt, dass man auch die strenge Ableitung dieser Zertheilung nicht scharf gefasst oder vergessen hätte, – es zertheilt sich in fünf Hauptepochen: (…)“ (SW, Bd. VII, ebd. S 17; Hervorhebung von mir)

Der Fokus liegt jetzt auf der Analyse der Gegenwart.

„Ferner, auch wenn man noch folgendes wüsste: in irgend eine dieser fünf Epochen muss unser gegenwärtiges Zeitalter, welchem eigentlich die ganze angestellte Betrachtung gilt, fallen; der Grundbegriff dieser Epoche nun muss vorzüglich vor dem der übrigen vier, die wir, ausser inwiefern wir ihrer zur Erklärung der gewählten bedürfen, fallen lassen, herausgehoben, und aus ihm die Phänomene des Zeitalters, als seine nothwendigen Folgen, entwickelt werden, und an dieser Stelle muss der zweite Vortrag anheben.“ (ebd. S 17.18, Hervorhebung von mir)

Jede Form der Anschauung und Versinnlichung und Zeitschematisierung ist in der Grundeinheit der Vernunftkonstitution beschlossen, d. h. in einem apriorischen Schema von Aufruf und Antwort, die konkrete Weiterführung dieses apriorischen Schemas fällt aber unter den Vorbehalt freier und diskursiver, kontingenter und schöpferischer Weiterführung.

Es kommt zur Beschreibung seiner gegenwärtigen Epoche: (…) die gegenwärtige Zeit steht meines Erachtens in der Epoche, welche nach meiner früheren Aufzählung die dritte war, und die ich mit folgenden Worten charakterisirt habe: die Epoche der Befreiung, unmittelbar von der gebietenden äusseren Autorität, mittelbar von der Botmässigkeit des Vernunftinstincts und der Vernunft überhaupt in jeglicher Gestalt: das Zeitalter der absoluten Gleichgültigkeit gegen alle Wahrheit, und der völligen Ungebundenheit ohne einigen Leitfaden: der Stand der vollendeten Sündhaftigkeit. – Unsere Zeit steht meines Erachtens in dieser Epoche; es versteht sich mit den Einschränkungen die ich auch schon oben beigefügt, dass ich dadurch nicht alle dermalen lebende Individuen, sondern nur diejenigen zu treffen begehre, welche Producte der Zeit sind, und in denen ihr Zeitalter sich rein und klar ausspricht.“ (ebd. S 18)

Es müssen damit nicht alle Individuen der gegenwärtigen Zeit gleich getroffen sein, aber auf die typischen „Producte der Zeit“ wird geschaut.

Es ist Fichte hier geradezu ein psychologisches Bedürfnis, die Charakteristik seines Zeitalters einmal sagen zu dürfen. (vgl. ebd. S 19, oben)

Es geht ihm, wie er immer wieder betont, um das apriorische Prinzip und seine Anwendung. Damit ist gleichzeitig und diskursanalytisch eröffnet, wie sieht der Wirklichkeitsbezug seiner HörerInnen selber aus, wenn an diesem Maß des apriorischen Prinzips die Analyse durchgeführt werden soll?
Anders gesagt, es geht nicht darum, wie vielleicht historisch die „Weltgeschichte“ (ebd. S 20) diese Zeit vorher oder nachher beschrieben haben würde, sondern wie jetzt die Zeit verstanden wird: 

„(…) Nicht, ob die oben von uns gesagten Worte vor Jahrhunderten schon die Wirklichkeit geschildert haben würden, falls sie damals jemand gesagt hätte, noch ob sie nach Jahrhunderten ebenso die Wirklichkeit schildern werden; sondern nur, ob sie dieselbe heute schildern, ist die Frage, worüber das Endurtheil Ihnen angetragen wird.“ (ebd. S 20)

2) Das Prinzip der apriorischen Vernunftidee strebt Freiheit und Befreiung an. Die Befreiung liegt schon im Begriffe und im klaren Erkennen: „Befreiung, also der Zustand da die Gattung sich erst allmählig frei macht, bald in diesem bald in jenem Individuum, bald von diesem bald von jenem Objecte, in Rücksicht dessen die Autorität sie in Fesseln legte, keinesweges aber schon durchaus frei ist; sondern höchstens nur in denen es ist, oder sich wähnt, welche an der Spitze des Zeitalters stehen, und die übrigen anführen, leiten und zu sich herauf zu erheben suchen. Das Werkzeug dieser Befreiung von der Autorität ist der Begriff; denn das Wesen des dem Begriffe entgegengesetzten Instincts besteht darin, dass er blind ist, und das Wesen der Autorität, vermittelst welcher er im vorhergegangenen Zeitalter herrschte, darin, dass sie blinden Glauben und Gehorsam forderte. Demnach ist die Grundmaxime derer, die auf der Höhe des Zeitalters stehen, und darum das Princip des Zeitalters selber, dieses: durchaus nichts als seyend und bindend gelten zu lassen, als dasjenige, was man verstehe und klärlich begreife.“ (ebd. S 20.21)

Der Begriff überhaupt, duch Freiheit gebildet, führt dann von selbst zur vierten Epoche, zur Wissenschaft, und schließlich zur Vernunftkunst (vgl. ebd. S 21).

3) Die dritte, Fichtes gegenwärtige Epoche, ist das Zeitalter „der leeren Freiheit“. (ebd. S 21, gesperrt von Fichte). Es ist ein nur positivistisches Begreifen und Messen – während des Zeitalter der wahren Wissenschaft (der 4. und 5. Epoche) das Sein selbst bedenkt und das „ihm anzumuthende Begreifen.“ (ebd. S 21)

4) Charakteristisch für dieses dritte Zeitalter ist ebenso eine individualistische Verengung des Vernunftstrebens, das als solches aber nicht im „Vernunftinstincte“ liegt. „(…) Dieser Vernunftinstinct aber geht, wie wir gleichfalls schon oben angemerkt haben, durchaus nur auf die Verhältnisse und das Leben der Gattung als solcher, keinesweges auf das Leben des blossen Individuums. Auf das letztere geht der blosse Naturtrieb der Selbsterhaltung und des persönlichen Wohlseyns (welcher letztere aus dem ersten folgt).“ (ebd. S 22) (vgl. ebenso S 23)

Das Individuum kann als solches nur als Teilbestimmung und Ausgrenzung aus dem Ganzen einer Vernunft gesehen werden „ Dieses erwähnte Eine und sich selber gleiche Leben der Vernunft wird, – wovon gleichfalls die höhere Philosophie den Grund, sowie die Art und Weise angiebt, – es wird, sage ich, lediglich durch die irdische Ansicht und in derselben, zu verschiedenen individuellen Personen zerspaltet, welche Personen nun durchaus nicht anders, als in dieser irdischen Ansicht und vermittelst derselben, keinesweges aber an sich und unabhängig von der irdischen Ansicht, da sind und existiren“ (ebd. S 24)

Die angestrebte Wissenschaft der Vernunft hat das Wohl und das Recht und die Sittlichkeit der ganze Menschheit im Auge.

5) Es folgt eine gute Rekapitulation des bisherigen Weges der Reflexion (vgl. ebd. S 25) – und dann nähere Charakteristik des dritten Zeitalters. Das Prinzip dort ist der „Trieb der Selbsterhaltung und des Wohlseyns.“ (ebd. S 26). Das ganze Welt- und Glaubenssystem wird diesem individuellem Glückseligkeitsstreben untergeordnet. (vgl. ebd. S 27).

Dieses charakteristische Bewusstsein der 3. Epoche kann dabei manchen durchaus unbewusst bleiben, bleibt oft ganz „verborgen“. (ebd. S 27.)

Dem Vernunftwesen fehlt aber a) der besondere Instinkt eines Tieres (vgl. ebd. S 27), und wenn b) die „Ideen a priori“ (ebd.) ebenfalls noch mangeln, so bleibt nichts anderes übrig, „(…) als dass man versuche, oder andere auf ihre eigene Unkosten versuchen lasse, was da wohl bekommen werde, und was übel, und es sich für ein andermal merke. Es ist daher aber ganz natürlich und nothwendig, dass von einem Zeitalter, dessen ganzes Weltsystem lediglich durch die Mittel der persönlichen Existenz erschöpft wird, die Erfahrung, als die einzig mögliche Quelle aller Erkenntniss, angepriesen werde, indem ja allerdings jene Mittel, welche allein dieses Zeitalter erkennen will und kann, nur durch die Erfahrung erkannt werden. In der blossen Erfahrung, – von welcher sodann sorgfältig die Beobachtung und das Experiment unterschiedenen werden muss, denen sichs ein Begriff a priori, nemlich dasjenige, wonach gefragt wird, beigemischt ist, – in der blossen Erfahrung kommt nichts vor, als die Mittel der sinnlichen Erhaltung; und umgekehrt, diese Mittel können allein durch die Erfahrung erkannt werden: daher giebt allein die Erfahrung dem Zeitalter seine Welt, und wiederum deutet seine Welt hin auf die Erfahrung, als ihren einigen Urquell, und so geht beides durcheinander auf.“ (ebd. S 28, gesperrt von Fichte)

6) Der Wahrheitsbegriff dieser dritten Epoche ist eingeschränkt auf die Erfahrung– in einem oberflächlichen, bloß sinnlichem Verstande. Wenn die „Erfahrung“ genau geprüft würde, z. B. in einem Experiment, würden die apriorischen Begriffe in ihr sofort zutage treten.

Falls dann „inconsequenterweise“ (ebd. S 29) apriorische Ideen, die über die Erfahrung hinausgehen, zugegeben werden, werden sie angezweifelt. (vgl. ebd. S 29) Es entsteht eine Pseudo -“Neutralität“, eine „unbestechbare Gleichgültigkeit für alle Wahrheit“ (vgl. ebd. S 29).

Die Staatsverfassungen sind auf „leere Abstractionen“ (ebd. S 30) aufgebaut, auf „weitschallende Phrasen“ (ebd.)

Schließlich verwandelt sich sogar die Religion in eine reine „Glückseligkeitslehre“ (ebd. S 31)

In Summa, und um es mit Einem Worte auszusprechen: ein solches Zeitalter steht auf seiner Höhe, wenn ihm nun klar geworden, dass die Vernunft, und mit ihr alles über das blosse sinnliche Daseyn der Person hinausliegende, lediglich eine Erfindung sey gewisser müssiger Menschen, die man Philosophen nennt.“ (ebd. S 31)

7) Zuletzt beschreibt Fichte nochmals sehr eindringlich und pointiert diese Überheblichkeit einer positivistischen Weltsicht:

Nur noch eine, die Form betreffende charakteristische Eigenheit desselben darf hier nicht übergangen werden, die folgende: dieses Zeitalter wird in seinen ächtesten Repräsentanten seiner Sache so sicher und so unerschütterlich gewiss seyn, dass es darin sogar von der eigentlichen Wissenschaft nicht übertroffen zu werden vermag. Es wird mit unaussprechlichem Mitleid und Bedauern herabsehen auf die früheren Zeitalter, in denen die Menschen noch so blödsinnig waren, durch ein Gespenst von Tugend und durch den Traum einer übersinnlichen Welt den ihnen schon vor dem Munde schwebenden Genuss sich entreissen zu lassen; auf diese Zeitalter der Finsterniss und des Aberglaubens, als  sie noch nicht gekommen waren, diese Repräsentanten der neuen Zeit, und noch nicht die Tiefe des menschlichen Herzens von allen Seiten durchsucht und erforscht hatten; (…)“ (ebd. S 31.32)

Wenn man nie etwas anderes wahrgenommen hat, „als das Gefühl (…) persönlich sinnlichen Existenz“ (ebd. S 33), wie könnte die Freiheit alle Verhältnisse in sichtbarer Vernunft einrichten?

Fichte beschließt mit einer „einzigen tröstenden Ansicht“ (ebd. S 33), dass die apriorische Vernunftidee und der „Funke des göttlichen Lebens“ (ebd.) doch nicht gänzlich erlöschen kann.

In replikativer Erinnerung an das apriorische Vernunftprinzip entschuldigt er teils sogar das Denken seiner Zeit, weil diese Zeit- und Geschichtserscheinung in einem notwendigen Vernunftprozess beschlossen liegt.

Und sonach, und zufolge alles Gesagten, beruht diese Denkart keinesweges auf einem Fehler des Denkens und des Urtheilens, welchen man dadurch, dass man dem Zeitalter den Fehlschluss, den es macht, nachweise, und es an diejenigen Regeln der Logik, gegen die es etwa verstösst, erinnere, verbessern könnte; sondern diese Denkart beruht auf dem ganzen mangelhaften Seyn des Zeitalters und derjenigen, in denen es zum Durchbruch gekommen. Nachdem jenes und diese einmal sind, was sie sind, so müssen sie nothwendig auch denken also, wie sie denken; und sollten sie auf andere Weise denken, so müssten sie vor allem vorher etwas anderes werden.“ (ebd. S 33)

© Franz Strasser, 4. 2. 2025

 

Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser