Zum Begriff des Transzendentalen – 6. Teil

KANT, vorgeprägt durch eine rationalistische Metaphysik, fühlte sich stark hinterfragt durch den Empirismus HUMES, ferner durch die naturwissenschaftlichen Erkenntnissen seiner Zeit, und wollte jetzt eine befriedigende Antwort auf die Frage nach dem Wissen und der Wissbarkeit überhaupt geben, mithin nach einer  synthetisch begründeten Einheit des Wissens vom Sein, „dass nie nur einfachhin nach dem Gegenstand gefragt wird, und sei dieser Gegenstand das Erkennen selbst, sondern nach dem Zusammenhang zwischen dem Gegenstand, den man zu erkennen versucht, und der Weise seiner Erkenntnis.“ (Vgl. W. Schüler, Grundlegungen der Mathematik, 1983, ebd., S 88).

Kann es allgemeingeltende und  objektiv-gültige, mithin synthetische Erkenntnisse a priori geben, mithin eine kritische Metaphysik –  wo doch z. B. der englische Empirismus nur die Wahrnehmung als Quelle des Wissens behauptet bzw. die Naturwissenschaft das nur angebliche experimentelle, induktive Wissen kennt?  Oder umgekehrt gesagt, von der anderen Seite her gesehen: Eine idealistische Philosophie trifft zwar apriorische Aussagen, aber die Existenz des Gedachten kann sie nicht beweisen und die Konkretion in ihrem Prinzip nicht durchschauen?

Wenn nach PLATON die Idee des Guten sowohl die Wahrheit des Seins (realistisch) wie die Erkennbarkeit der Wahrheit (ihres Wesens, idealistisch) enthalten soll, so muss doch transzendentallogisch der Implikation des Denkens eine Apposition der Anschauung zugeordnet werden können und umgekehrt, aus der Anschauung auf das Denken geschlossen werden können, worin Sein und Erkennen eins sind? Es ist bei PLATON bereits unverkennbar, dass mit der Idee des Guten ein Sollensanspruch erhoben ist. Erkenntnis soll sein, weil die Wahrheit (des Seins) sein soll – wodurch das Gute stets als Sollen dem notgedrungen reflexiv-diskursiv verfahrenden Denken und Wissen als transzendentale Bedingung der Möglichkeit des Erkennens wie des vorausgesetzten Seins vorausgeht. Wie kann aber jetzt – umgekehrt skeptisiert – dieser Sollensanspruch der Idee des Guten behauptet werden, wenn nicht wiederum erst innerhalb der (relativen) Reflexion des Wissens?   

Um den Weg zum Begriff des Transzendentalen und dessen Wissen abzukürzen, darf ich wieder ANSELM zitieren: Er definiert in „De Veritate“: „veritas est rectitudo mente sola perceptibilis“ (DV 11 u. 13), d. h. als die allein mit dem Geiste erkennbare Richtigkeit.1

Im Geiste, mithin im Wissen und Bewusstsein, muss die Wahrheit  zu erkennen sein,  wobei die Erkennbarkeit der Wahrheit eben durch die „rectitudo“ (Richtigkeit) normiert ist. Die „rectitudo“ stellt eine Norm dar, ist eine übergeordnete Einheit des Solls. Wer die Wahrheit bloß als Begriff oder regulative Idee fasst, als bloß  erschlossene, erdachte Bedingung eines Unbedingten zu einem Bedingten, verendlicht die Wahrheit bereits zu Bedingungen dieses seines Denkens.

Wenn sie erkennbar ist, dann wird sie die Form einer anderen Identitätslogik aufweisen müssen als die einer bloß logischen Identität.
M. a. W., derjenige,  der Aussagen macht, vollzieht zwar immer schon diese Norm, die Wahrheit zu beanspruchen (ANSELM) –  wenn er sie explizit auch wieder verwerfen und verleugnen mag – aber wie realisiert er sie wirklich? Unter
endlichen und zeitlichen Bedingungen wird nie letztgültig entschieden werden können, ob die Norm der Wahrheit im Erkennen, Wollen und Handeln erfüllt ist oder nicht, aber nichtsdestotrotz, mit den Begriffen der platonischen Anamnesislehre ausgedrückt, es ist allein das Transzendentale der Wahrheit und des Guten, das den Erkenntnis- und Wollensaktes (Vorstellen, Wollen, Handeln) ermöglicht und daran „erinnert“ (anamnesis).

FICHTE hat hier natürlich das auf den Begriff gebracht, was PLATON metaphorisch ausgedrückt hat: Das Transzendentale unter zeitlichen Bedingungen: Dies ist eine Frage des  notwendigen Schwebens der Einbildungskraft. Sie vermittelt ursprünglich nicht nur faktisch zwischen Reflexion und Hemmung, sondern schwebt auch praktisch zwischen unendlicher und an ihr Ende gekommener Tätigkeit, weshalb dieses Schweben nie fixiert werden kann in einer letzten Erfüllung. Dies wird auch für die Ewigkeit gelten. Wenn großspurig von der Erkennbarkeit der Norm der Wahrheit gesprochen werden soll, so bleibt die menschliche Einsicht in das Richtige der Wahrheit durch das Schweben der Einbildungskraft  begrenzt. Es kommt stets die Zeit dazwischen und in der Ewigkeit die zeitlose Reflexionsform des Selbstbewusstseins, sodass jede definite Identitätsbestimmung unter der Freiheit weiterer Reflexionsbestimmungen steht.

Oder ein längeres Zitat noch aus der Schlussvorlesung der „Thatsachen des Bewußtseins“ von 1811 – 43. Vorlesung:

Das Seyn erscheint unmittelbar immer; die Erscheinung die da erscheint, ist die Erscheinung des Seyns. Im unendlichen Wissen kommt es niemals zum Seyn sondern zum Bilde des Seyns, zu einem Bilde welches möglich ist in diesem Momente. Aus der Reflexion, aus dem Sicherscheinen der Erscheinung stammt das ganze factische Wissen. vom Soll an. Das Gesetz einer Ichheit der Erscheinung ist das oben hin gestellte factische Gesetz, welchem die Erscheinung anheim fällt. Die Ichform ist der absolute factische Grund der Erscheinung. Durch diese ein doppeltes; theils eine gegebene Anschauung: das Ich mit dem Triebe und die ganze Welt dieses Ich[;) 2) Freiheit, reale Freiheit, Grundbestimmung der Erscheinung selbst. Freiheit des Sichlosreißens, welches giebt das Gesetz hervorzubringen das unmittelbare Bild des absoluten Seyns.“ (StA -2, ebd. S 389, Z 10ff)

(c) Franz Strasser 29. 10. 2015

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Siehe wieder M. ENDERS, in: zur debatte, 1/2010, S 18-20,: „Diesem klassischen Text zufolge (Politeia 508/509) teilt das Gute dem Erkannten, d. h. den Ideen, Wahrheit und dem Erkenntnissubjekt das Vermögen zur Erkenntnis der Ideen mit. Dabei wird das Gute als die Ursache für das Zustandekommen des Erkenntnisaktes und der Wahrheit bezeichnet. Das Gute selbst aber überragt in seiner Erhabenheit und Größe noch die Erkenntnis und die Wahrheit. Wie also das Licht der sichtbaren Sonne den Sinnesdingen ihre Sichtbarkeit verleiht, so verleiht analog das Gute den Ideen ihre Erkennbarkeit, d. h. ihre Wahrheit. Durch das Entsprechungsverhältnis zwischen der Kausalität der Sonne und der des Guten ist es vorgegeben, dass die „Wahrheit“ als die geistige Sichtbarkeit der Ideen, d. h. als ihre Unverborgenheit, verstanden werden muss, weshalb „im Rahmen dieses Gleichnisses wohl auch die etymologische Assoziation von ,ἀ-λήθεια‘ mit Un-verborgenheit intendiert“ (J. Szaif, art. cit., Sp. 50) ist. Platon versteht also im Gefolge des Parmenides unter „Wahrheit“ die Erkennbarkeit des vollkommenen Seins (der Ideen) und vertritt daher wie dieser primär ein ontologisch-gnoseologisches Wahrheitsverständnis.“

 
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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser