1. Kapitel. 1
Vorbemerkung
Ich ging stets mit großem Vorurteil an den „Utilitarismus“ heran – und möchte hiermit etwas Abbitte leisten nach der Lektüre dieses philosophischen Klassikers von J. S. MILL.
Ich sah in dieser Theorie eine auf sinnliche Bedürfnisbefriedigung hinausgehende Moral, sozusagen eine ins Englische übertragene Lehre des EPIKUR. Dabei hätte mich der Epikur der Antike schon stutzig machen müssen, denn in vielem betrachtete ja dieser das „kleine Glück mit Freunden im Garten“ als sehr rational und gut begründet und von hohem moralischen Ansprüchen gekennzeichnet.
Wie sieht jetzt MILL das „Glück“?
Abgesehen jetzt von dem immer zweifach zu lesenden Wort „Glück“ (happiness), als günstiger Zufall, und Glück als „Glückseligkeit“, als innere Erfahrung, gibt es viele Missverständnisse und begriffliche Verwirrungen, die den „Utilitarismus“ in ein schlechtes Licht geraten haben lassen.
Ich will jetzt die kleine Schrift „Utilitarismus“ von J. S. MILL transzendental-kritisch lesen, d. h. nach den Kriterien, dass die Bedingungen eines Begriffes im Wissen analytisch wie synthetisch (in den Anwendungsbedingungen) eingeschaut werden können müssen. Die Methode, die Begriffe, die Rechtfertigung – das sind meine grundlegenden Kriterien der Lesung von „Utilitarianism/Der Utilitarismus“.
Einer empirischen Erkenntnistheorie gebe ich natürlich eine Absage, denn sie erklärt nicht, was sie erklären soll: Wie es zur Vorstellung und zum Denken eines Begriffes kommen kann, das muss in der Reflexivität des Selbstbewusstseins selbst geklärt werden – nicht aus empirischer Beobachtung und Rezeption wie bei LOCKE oder HUME.
Seine Methodik ist mir leider nicht so leicht zu erkennen, weil er, sehr belesen und belehrt, immer wieder abschweift und diese und jene Gedanken hereinbringt. Methodisch und heuristisch kehrt er aber immer wieder zu einem Fragen nach den Bedingungen der Wissbarkeit von „Glück/Glückseligkeit“ zurück. Dieses reduktive Zurückgehen auf Letztbegründung – das würde ich ganz allgemein seine Methode bezeichnen.
Seine Begriffe scheinen mir die Konzeption einer Rechts- und Moral- und gerechten Gesellschaftslehre anzustreben.
Schließlich ist seine Rechtfertigung: Das Büchlein „Utilitarianism“ will die grundlegende Intention und Aufgabe der Philosophie leisten: Eine begriffliche Durchdringung der rechtlichen, moralischen und sozialen Wirklichkeit (zu leisten) und diese in Erkenntnisprinzipien darzustellen.
Bei aller Weitschweifigkeit der Heuristik des Herausfindens von Erkenntnisprinzipien verlangt mir deshalb diese Art des Philosophierens Respekt und Anerkennung ab, weil der Impetus des transzendentalen Zurückfragens und Begründens deutlich herauszuhören ist.2
1) Ich möchte, wie gesagt, den Begriff „Glück/Glückseligkeit“ immer in dieser doppelten Sichtweise im Blick haben: als die Zufälligkeit eines Ereignisses (Glück) und als inneren Seelenzustand. (Glückseligkeit).
Das Wort „Nutzen“ wird nochmals schwerer zu deuten sein – siehe dazu später.
Vorweg: Ich verstehe „Nutzen“ als reine Verstandesrationalität, als kategorialen Begriff einer quantitativen Messung, eine gegenüberliegende Qualität und einen rechtlichen und moralischen und politischen Zweck näher zu bestimmen.
Sowohl das Wort Glück/Glückseligkeit wie der Begriff „Nutzen“ hat einen ambivalenten bis schlechten Klang, wohl durch die Philosophiegeschichte selbst so so herbeigeführt.
2) Ich zitiere hier zuerst eine Kritik des Utilitarismus nach R. Lauth aus dem Philosophieunterricht der 80-iger Jahre: Diese Kritik ist zutreffend, würde ich den Begriff „Nutzen“ selbst als moralischen Wert und Zweck ansehen, und dann nochmals in einem speziellen Sinne eines nur ökonomisch-kalkulierenden Denkens. Aber so versteht m. E. J. S. MILL den Begriff „Nutzen“ nicht. Er ist nur quantitierte Bestimmung eines dahinterliegenden Wertes.
R. Lauth, der einen sagenhaften Philosophieunterricht vortrug, hielt dem „Utilitarismus“ entgegen: “[….] „c) Der Utilitarismus sagt: Es soll dasjenige sein, was ein geeignetes Mittel für meine Zwecke ist. Das Nützliche soll sein. Nimmt man diesen Gedanken unter die Lupe, so sieht man: Ich kann nicht sagen, das Nützliche an sich soll sein, denn das Nützliche ist nur ein Mittelbegriff. Nützlich ist immer nur etwas für etwas anderes. Das Nützliche verweist aus sich immer auf Zwecke, deshalb kann es nie Endzweck sein. Man kann auch nicht sagen, das Nützliche soll sein, denn es verweist immer auf etwas anderes. Also: Prinzipielle Unhaltbarkeit des Utilitarismus, weil das Nützliche wieder auf einen Zweck verweist.
d) Man könnte aber sagen, es geht uns um Zwecke. Sieht man aber auf diese, so zeigt sich: Wir haben Zwecke, die ihrerseits für uns wieder Mittel sind. Straßenbau – die Straße ist wiederum Mittel usw. Wir müssen also bei den Zwecken mindestens weitergehen auf Endzwecke. Denn was nur Mittel-Zweck ist, ist Zweck für noch untergeordnetere Mittel, seinerseits aber wieder Mittel für andere Zwecke. Die Frage verschiebt sich auf die Endzwecke.
e) Sieht man nun auf diesen Endzweck (z.B. der Endzweck allen Lebens ist, ich will genießen), dann zeigt sich, dass alles, was wir im Endzweck realisieren wollen, zwar auch ein Sein ist. Aber der Grund dafür, dass wir diesen Endzweck wollen, liegt nicht im Sein. Das Sein ist nach Abzug der Wertseite indifferent. Wenn wir wollen, dass etwas sei, so ist es der Wert, der für uns das Sein wertvoll macht. Der Endzweck ist daher Sache des Wollens, nicht eine bloße faktische Beschaffenheit. Er ist es, der uns ein Sein wert macht, und das, was macht, dass es uns wert ist, ist der Wert. Bei der Konstitution des Seinsollens geht es also darum, dass Werte realisiert werden sollen. […]“ (Skriptum, 80-iger Jahre)
Meine Sicht jetzt: Wenn ich das Wort „Nutzen“ tatsächlich so gebrauche, wie es wörtlich Prof. Lauth verstand, so ist der „Nutzen“ wahrlich nur ein Mittelbegriff für einen Endzweck. Also kann ein Nutzen nicht Zweck sein oder zu einer begründeten Moral führen. Dieser Kritik ist zuzustimmen.  In der Lektüre von J. S. MILL kommt mir aber der Gebrauch des Wortes „Nutzen“ in einem anderen Sinn vor – als reine Tätigkeit und Funktion des Messens einer moralisch-sittlichen Glücks- und Gerechtigkeitskonzeption. Die Funktion des „Nutzens“ ist umgelegte und angewandte Evaluierung eines sinnlichen oder geistigen Wertes, während der qualitative Wert selbst (meist) unabhängig von dieser Evaluierung vorausgesetzt wird bzw. in letzter Hinsicht, um seiner selbst willen gewollt wird.
Anders gesagt: Der Nutzen ist nur das (quantitierte) MaĂź des erstreben GlĂĽcks, das MaĂź der sichtbaren MĂĽhe und der Verwirklichung des GlĂĽcks.3
Der die NĂĽtzlichkeit erst mit Sinn und Inhalt ausfĂĽllende GlĂĽcksbegriff („GlĂĽck/die GlĂĽckseligkeit“) ist – so jetzt mein Gesamteindruck bei J. S. MILL – die platonische Idee des Guten, die sowohl Wahrheit wie Erkennbarkeit der Wahrheit beansprucht.Â
Ich höre jetzt sofort viele Einwände, dass „GlĂĽck“, „GlĂĽckseligkeit“ doch ein empirischer Begriff sei, unmöglich eine Idee des Guten, „jenseits des Seins“. Je mehr ich mich in J. MILL hineingelesen habe, umso einsichtiger und vernĂĽnftiger wurde mir aber der GlĂĽcksbegriff/die GlĂĽckseligkeit. Die „eudaimonia“ hat einen schlechten Leumund seit der kantischen Gesinnungsethik bekommen, doch interpretiere ich vom Standpunkt des reellen Strebens und der praktischen Philosophie herkommend das Streben selbst als konstitutiven Teilbegriff des Selbstbewusstseins/der Subjektivität. Das GlĂĽck/die GlĂĽckseligkeit sind sinnliche und intelligible Ă„uĂźerungen eines Teilmoments der Realisierung von Vernunft.
Anders gesagt: Das natĂĽrliche Streben nach GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit ist keine empirische Beobachtung und dogmatische Feststellung, sondern reflektierte Teil-Deduktion des Vernunftstrebens ĂĽberhaupt, in sinnlicher Natur, in Interpersonalität und geistigen Werten dargestellt. Die analytischen Bedingungen eines Selbstbewusstseins/der Subjektivität umfassen natĂĽrlich auch Natur/Sinnlichkeit und interpersonales und geistiges Sein – warum sollen die GlĂĽcksgefĂĽhle und sinnlichen GefĂĽhle („Lust“) schlecht geredet werden, wenn sie Voraussetzung der Freiheit sind?
NatĂĽrlich wählt J. S. MILL nicht von vornherein einen deduktiven Weg der BegrĂĽndung und Rechtfertigung des Strebens nach „GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit“. Er könnte aus einem höchsten Vernunftprinzip des Soll-Seins von „GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit“, „Gerechtigkeit“ die Teilmomente wie Recht und Moral und gesellschaftliches Zusammenleben ableiten. Stattdessen reflektiert er ziemlich umfangreich und in einem reduktiven Weg auf ein transzendentales Letztprinzip – auf das GlĂĽcks – und im letzten Kapitel auf das Gerechtigkeitsstreben.Â
Es klingt auf’s Erste die LektĂĽre von MILL naturtheoretisch, psychologisch, doch je mehr ich die Ziele des Autors intentional zu verstehen versuche, umso tiefgrĂĽndiger scheint mir sein Denken zu werden. Die Bezeichnung „utilitarisch“ verwischt oft vorweg die Bedeutung eines Begriffes und erfasst oft nicht den dahinterliegenden transzendentalen Sinn seines Gebrauches.
Ein GlĂĽcksstreben oder generell eine Sinnlichkeit oder ein Trieb, das sind selbst schon transzendentallogische Begriffe, die im System der Vernunft eine konstitutive Teil-Rolle einnehmen und nicht leichtfertig abgewertet werden dĂĽrfen. Ausgehend von einem wie immer anthropologisch aufgefassten Streben nach GlĂĽck steigert sich dieses Streben bald zu rechtlichen und moralischen und gesellschaftlichen Ideen, zu Ideen von Gleichheit und Gerechtigkeit, sodass konstitutiv die platonische Idee des Guten, „jenseits des Seins“, als Voraussetzung vorausgesetzt werden muss.Â
3) Was ist eine Idee?
Durch den Begriff einer Idee wird der Begriff eines Möglichen (hier des „Glücks/der Glückseligkeit“, später dann der Gerechtigkeit) bestimmt, und durch dessen Bestimmung das Gesetz des angeborenen Strebens weiter differenziert.
Das macht stets eine neue (platonische) Negationsunterscheidung möglich, was GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit heiĂźen kann. Sicherlich nicht nur physiologische, psychologische, empirische Befriedigung, denn das Streben nach GlĂĽck bewirkt ja von sich her im Handeln ein Weitergehen zu geistigen „Befriedigungen“ und geistigen Werten, zu Begriffen wie einem „Gewissen“ oder zur Idee von „Gerechtigkeit“, die allesamt nicht empirisch sind, aber von MILL abgeleitet werden. Der Vorgang der Negationsunterscheidung kann ins Unabsehbare wiederholt werden. Stets wird eine neue Bestimmung der Idee „GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit“ und der Idee „Gerechtigkeit“ hinzugefĂĽgt, praktisch begrĂĽndet im angeborenen Streben.
Freilich wird dieser Vorgang einer formalen, theoretischen Deduktion dessen, was „Glück/Glückseligkeit“ und Gerechtigkeit heißen kann, als Grundform einer Idee nicht durchbrochen werden können, denn die reine Begriffsform der Idee ist nichts anderes als die Nachkonstruktion der bloßen Gesetzesgenesis des Strebens und ihrer reinen Begriffsfolgen. Diese Deduktion bleibt immer Produktion von theoretischen und praktischen Gesetzen und bloßen Idealformen, aber immerhin, ein theoretisches Gebäude des intellektuell Durchdringbaren der rechtlichen, moralischen und sozial-politischen Wirklichkeit ist geschaffen, Intention jeder grundlegenden Philosophie.4
1. Kapitel (Ausgabe Reclam, ebd. S 7)
Eine starke Ansage wird gleich zu Beginn getätigt: Was ist das Kriterium von Recht und Unrecht? Es herrscht nach Mill große „Verwirrung und Unsicherheit“ (ebd.), was die Erkenntnisgründe guten Handelns betrifft.
Frage meinerseits: Also, es geht um eine Rechtslehre? Oder doch um eine Morallehre?Â
1. Kap., Allgemeine Bemerkungen: „In kaum einem Punkt entspricht der gegenwärtige Stand der menschlichen Erkenntnis so wenig den Erwartungen, zu denen man sich berechtigt glaubte, und nichts ist so bezeichnend für die Rückständigkeit, in der sich die Auseinandersetzung gerade mit den wichtigsten Problemen der Philosophie befindet, wie der geringe Fortschritt auf dem Weg zu einer Lösung der Streitfrage, welches das Kriterium von Recht und Unrecht ist.“ (ebd. S 7)
Das „Prinzip der Nützlichkeit (principle of utility) oder, wie Bentham es später gesagt hat, das Prinzip des größten Glücks, (greatest happiness) (hat) einen bedeutenden Anteil an den Morallehren selbst derer, die ihm verächtlich alle Verbindlichkeit absprachen.“ (Hervorhebung von mir, ebd. S 13f)
Wie begründet MILL dieses Prinzip des Nutzens? Der Gedanke des Nutzens kann im obigen Sinn a) des bloßen Buchstabens verwendet werden, dass etwas zwar von Nutzen sein kann, aber für sich keinen Wert darstellt, mithin nicht Grund sein kann eines Motivs, einer Absicht, eines Endzwecks. Insofern wäre die Nützlichkeitslehre/Utilitarismus tatsächlich eine Begriffsverwirrung.
Ich kann aber b) ebenso auf den Gebrauch des Wortes „Nutzen“ blicken im Sinne eines Tätigkeits-Prinzips, d. h. dass ich bei allem NĂĽtzlichkeitsdenken auf eine transzendental-konstitutive Idee des GlĂĽcks/der GlĂĽckseligkeit (der Gerechtigkeit) im Hintergrund blicke, und eingedenk dessen, dass ich dieses GlĂĽck/die GlĂĽckseligkeit als Wert gar nicht direkt herbeizwingen und bewirken kann. Der Begriff des Nutzens suggeriert leider vorschnell einen gewissen Wert von etwas, als sei er selber ein Wert, aber diese Wertzuschreibung liegt höherstellig in der Erkenntnis einer Qualität und einer hierarchischen Wertpyramide. Der Nutzen ist nur eine quantitative und regulative Kategorie.Â
Der kategorial-quantitativen Idee des Bestimmens der Qualität des „Guten“, des „GlĂĽcks/der GlĂĽckseligkeit“, also dem „Nutzen“,  entkommt nach J. S. MILL keine Rechts- und Moral- und Gesellschaftslehre, sofern sie einen Vergleich von bestimmten Qualitäts-Erfahrungen („GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit“) konkretisieren und bewirken will. Die Kategorien sind nach KANT bekanntlich notwendige Begriffe der Erfahrung – so auch der Quantitätsbegriff. Es braucht notwendig einen Begriff des Nutzens, soll eine Qualität näher bestimmt werden.Â
Deshalb dann die bei MILL anzutreffende Rede vom größtmöglichen Nutzen im Sinne einer Verwirklichung der Erscheinung von Qualität, in einer Skala der Vergleichbarkeit und Messbarkeit. Â
Der Inhalt und die Konzeption von „Glück/Glückseligkeit“, oder vielleicht auch übersetzbar, der Inhalt eines Sinns, wird durch die Methode a) des reduktiven Rückgangs auf das Glücksstreben und b) der deduktiven Ableitung von Anwendungsbedingungen, wie zu einem glücklichen, sinnerfüllten Leben gefunden werden kann, in einem friedliichen Neben- und Miteinander endlicher Freiheit, aufgewiesen.
MILL lässt immer wieder durchklingen, dass a) das Glück/Glückseligkeit zu einer nicht erzwingbaren interpersonalen Angelegenheit aufrückt und b) das Glück/die Glückseligkeit erst durch sein/ihr Gegenteil, d. h. durch ein Widerfahrnis von Hemmung und Ungerechtigkeit, dynamisch bestimmt und gemessen werden kann. Dies ist scharfsinniges transzendentale Denken zwischen Erscheinung einer Sache und intelligiblem Hintergrund. Die Ursache des Glücksstrebens wird in der Veränderung der Erscheinung erkannt, als positive Glücks/Sinnerfahrung oder als negative Glücks/Sinnerfahrung – das Glücksstreben selbst als Ursache kann nicht eingesehen werden. Die Veränderung oder Verbesserung oder bessere Nützlichkeitserfahrung ist die phänomenale Erscheinung des inneren Strebens und Wollens. Diese ratio essendi einer Nützlichkeits-Moral ist deshalb nicht die ratio cognoscendi des Inhalts von „Glück/Glückseligkeit“ bzw. Sinnerfahrung überhaupt, nur deren quantitative Messbarkeit und Außenseite.
Das Streben und Handeln nach diesem Gut des „Glücks/der Glückseligkeit“, darf nach MILL zurecht im höchsten Sinne als „moralisch“ bezeichnet werden.
„Es gibt keine Denkrichtung, die nicht zugesteht, dass die Bedeutung einer Handlung für die Glückseligkeit (happiness) in vielen Anwendungsgebieten der Moral eine wesentliche und sogar vorrangige Rolle spielt, wie wenig sie auch gewillt ist, in ihr das Grundprinzip der Moral und die Quelle aller sittlichen Verpflichtungen zu sehen. Ja, ich würde noch weiter gehen und behaupten, dass zumindest jene Apriori-Moralisten, die das Argumentieren überhaupt noch für notwendig halten, auf utilitaristische Argumente nicht verzichten können.“(Hervorhebung von mir, ebd. S 15)
Ziemlich vernichtend fällt die Kritik MILLS an KANTS Formel des „Kategorischen Imperativs“, aus, der in der GMS (1785) und KpV (1788) offensichtlich um eine von sinnlichen Bestimmungen unabhängigen MoralbegrĂĽndung bemĂĽht war, damit aber keine inhaltliche GlĂĽck- und GlĂĽckseligkeitsbedingungen mehr anzugeben vermochte, ja geradezu zu „unmoralischen Verhaltensweisen“ – so MILL in seiner inhaltlichen Kritik des „Kategorischen Imperativs“ – eingeladen hat.Â
„Aber ich kann nicht umhin, zur Veranschaulichung meiner These auf eine systematische Abhandlung eines der größten unter ihnen zu verweisen, auf Kants Metaphysik der Sitten. Dieser außerordentliche Mann, dessen Gedankengebäude noch lange Zeit als einer der Höhepunkte in der Geschichte des philosophischen Denkens gelten wird, stellt in der genannten Abhandlung einen allgemeinen Grundsatz als Ursprung und Prinzip aller sittlichen Verpflichtung auf, nämlich: »Handle so, dass die Regel deines Handelns von allen vernünftigen Wesen als Gesetz angenommen werden kann«. Sobald er es jedoch unternimmt, aus dieser Regel einige konkrete moralische Pflichten herzuleiten, misslingt ihm in geradezu grotesker Weise der Nachweis, dass darin, dass alle vernünftigen Wesen nach den denkbar unmoralischsten Verhaltensnormen handeln, irgendein Widerspruch, irgendeine logische (oder auch nur physische) Unmöglichkeit liegt. Was er zeigt, ist lediglich, dass die Folgen einer allgemeinen Befolgung dieser Normen derart wären, dass jedermann von ihnen verschont bleiben wollte.“ (ebd. S 15)
Stimmt diese Kritik MILLS an KANT? Einerseits tut MILL hier KANT persönlich Unrecht, denn die „Folgen“ einer nach dem kategorischen Imperativ geprüften Maxime waren bei KANT sehr wohl einberechnet, wie die Rechts- und Tugendlehre (MdS 1797) u. a. Schriften zur Anthropologie allgemein bezeugen; andererseits hat MILL recht, denn die Maxime allgemeiner Gesetzgebung kennt zwar ein negatives Kriterium der Tauglichkeit einer Maxime, d. h. dass vorweg geprüft werden muss, ob eine Handlung mit der Freiheit eines jeden kompatibel ist, aber das „vorweg“ der Prüfung ist eine antizipierte empirische Folgewirkung, die gerade nicht mehr rein sittlich gefällt worden ist, ergo geht KANT ebenfalls nach einer Art „Nützlichkeit“ vorgeht? Hier ist wohl der Skepsis MILLS Recht zu geben. Er reflektiert ausdrücklich die Anwendungsbedingungen eines rechtlichen und moralischen Handelns, während KANTS moralische Regeln prima vista vorgeben, nicht von den Folgen, sondern von der Maxime auszugehen. Gerade so laden sie aber (verführen) zum Missbrauch ein, wie MILL sagt.
J. S. MILL Stärke ist es immer wieder, die Folgewirkung der Handlung in den transzendentalen Erkenntnisakt des Guten (des Glücks/der Glückseligkeit“) einzubeziehen, was auch heißt, gleichzeitig auch die Widerstände des Glücks und der Glückserfahrung anschaulich darzustellen. Seine Argumentation zum „Glück/Glückseligkeit“ kommt keinesfalls naiv oder nur zweckoptimistisch daher, sondern sehr leidenschaftlich, sittlich-auffordernd. Es sind viele Erwartungen und Hoffnungen einerseits ausgedrückt, andererseits wird mit Resilienz auf nicht eingelöste Glücks/Glückseligkeitsversprechungen geantwortet. 5
MILL hätte vielleicht mit einer, natĂĽrlich erst gut 80 Jahre später zusammengestellten, dynamischen Interpretation der MASLOWSCHEN BedĂĽrfnishierarchie Freude gehabt, was die Menschen so alles an BedĂĽrfnissen mitbringen, von psychologischen, physiologischen, sozialen BedĂĽrfnissen bis zur Selbstverwirklichung. Diese psychologischen Tafeln haben aber m. E. den Nachteil, dass sie die Kraft des Zusammenhangs eines integrativen Ganzen der BedĂĽrfnisse und den ideellen, vereinenden Blick ihrer Zusammengehörigkeit nicht aufzeigen können? Sie erreichen nicht die Einheit einer durchgehenden BegrĂĽndung? Die Klassifikationen der Psychologie mögen zwar richtig etwas beschreiben, aber ihr genetischer Zusammenhang – kann er aus einem theoretisch-praktischen Akt des Handelns und aus einem Prinzip abgeleitet werden?6
Anders von mir ausgedrückt: Triebhaft ist der Mensch auf Sinn- und Glückserfüllung ausgerichtet, deshalb ist überhaupt erst die Erkenntnis eines Bedürfnisses möglich, wenn wir das transzendental durchdenken. Wir erkennen ja nicht durch die Sinne, sondern mit den Sinnen. (Platon).
J. S. MILL argumentiert begriffsscharf und logisch: Das, was keines Beweises möglich ist, weil es um seiner selbst willen gewollt wird, d. h. das, was Selbstzweck ist, und das Mittel, das insofern ebenfalls Zweck ist, weil es gewählt wird als gutes Mittel für den unbeweisbaren Selbstzweck, der Nutzen – das ist die Theorie des Utilitarismus. Das ist ein genetisches und systematisches Ganzes.
„Es versteht sich, dass dies (sc, das Streben nach GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit, nach einem allgemeinen Guten) kein Beweis im gewöhnlichen und populären Sinne des Wortes sein kann. Fragen nach letzten Zwecken sind eines direkten Beweises nicht fähig. Wenn von etwas gezeigt werden kann, dass es gut ist, dann nur dadurch, dass man zeigt, dass es ein Mittel zu etwas anderem ist, von dem ohne Beweis zugegeben wird, dass es gut ist. dass die ärztliche Kunst etwas Gutes ist, ist dadurch bewiesen, dass sie der Gesundheit dient – aber wie will man beweisen, dass Gesundheit etwas Gutes ist? (ebd. S 17)
Mit einer fichteschen Transzendentalphilosophie und Erkenntnistheorie hätte sich MILL leichter getan, die Fallstricke des englischen Empirismus zu durchschauen: Er muss leider stets intuitiv – und zu lesen schwierig – die Differenz wahren zwischen dem gedanklichem Strebenszusammenhang und dem äuĂźerlichen Tatbestand der nĂĽtzlichen Erscheinungen.Â
Mit Fichte analysiert: Der eigenständige, spontane Tatzusammenhang der Einbildungskraft ist stets vorbestimmt und triebhaft vorgegeben, sobald auf etwas bezogen wird – das aber noch nicht schlechthin durch uns selbst frei bestimmt und dargestellt ist. Ein GefĂĽhl und ein Objekt des Triebes wird reflexiv mit dem Verstand schon erkannt, aber die vernunfttheoretische Gesamteinordnung muss erst folgen. Â
Es kommt jetzt auf den Gedankenzusammenhang in einer begrifflichen Erkenntnis an, auf eine Evidenzform der Natur, des Logos, der Geschichte und des Sinns. Der vernĂĽnftige Gedankenzusammenhang ist immer Bild-Wirklichkeit, Aussage als Bild sich bewährend in einem Ausgesagten der Bild-Wirklichkeit. Natur, Logos, Geschichte, Sinn, alles findet sich verquickt im GlĂĽcks/GlĂĽckseligkeitsbegriff (später auch im Gerechtigkeitsbegriff) bei MILL. Es klingt einmal nach einer rein beschreibenden Philosophie, dann wieder nach einer normativen Philosophie.Â
Transzendental gesehen sind spontane Naturwirkung (der Trieb) und der begriffliche Logos aber kein Gegensatz, sondern ein genus, eine Gattung in der prinzipiellen Wissens- und Evidenzstruktur der Ich-Reflexivität, nur von zwei Seiten angeschaut: der Empirist schaut auf den sinnlichen Tatbestand und auf den sinnlichen Tatzusammenhang, wie er in der Einbildungskraft gegeben ist, der transzendentale Denker begreift diese Anschauung in der Einbildungskraft durch Denken und Begriffe.
MILL will auf die empirischen Tatbestände und SinneseindrĂĽcke – er spricht manchmal sogar von „Instinkten“ des GerechtigkeitsgefĂĽhls – nicht verzichten, zugleich interpretiert er sie aber aus einem intellektuellen-geistigen, gedanklichen und apriorischen Erkennen heraus.7
Anders gesagt: Das Glück/die Glückseligkeit wird durch die ursprünglich produzierenden Einbildungskraft erzeugt und anschaulich bestimmt, zugleich aber intellektuell gedeutet und begriffen – weshalb MILL später zu den Begriffen „Gewissen“ und „Gerechtigkeit“ kommen kann, die als solche aus der Einbildungskraft nicht möglich wären abzuleiten bzw. in einer reinen Naturphilosophie nicht möglich wäre zu denken. Die Einordnung der Anschauungen in eine Begrifflichkeit, speziell was das moralische Handeln betrifft – das haben andere vielleicht „Sittenlehre“ oder „praktische Vernunft“ genannt; MILL nennt sie Moral des Glücks (siehe dann fünftes Kapitel) oder Theorie des Utilitarismus.
Er sieht wie eine „Formel“ aus. Es kommt darauf an, „[…] zunächst ein richtiges Verständnis der Formel selbst“ (ebd. S 19) zu haben.
„Denn ich glaube, dass das Haupthindernis, das der Annahme dieser Formel im Wege steht, das höchst unzureichende Verständnis ihrer Bedeutung ist und dass die Frage bedeutend vereinfacht und ein großer Teil der Schwierigkeiten ausgeräumt wären, gelänge es, sie zumindest von den gröbsten Missverständnissen zu befreien.“ (ebd. S 19)
© Franz Strasser, 2. 10. 2023
1Zitiert hier nach der zweisprachigen Ausgabe Englisch/Deutsch: Reclam-Ausgabe, 1976. 2006, ĂĽbersetzt von Dieter Birnbacher.
2Selbst der Ăśbersetzer in der Reclam-Ausgabe, Dieter Birnbacher, glaubt in seinem Nachwort den Vorwurf eines egoistischen Hedonismus nachsprechen zu mĂĽssen. Er und viele andere tun M. E. J. S. MILL ziemlich Unrecht. (Siehe ebd. In der Reclamausgabe, S 205)
3Der Quantitätsbegriff ist eine Erscheinungsform von Qualität, aber nicht deren BegrĂĽndungsform. Je nach Gebrauch der Kategorie „Nutzen“ wird der Begriff positiv oder negativ bewertet. Die Nazis haben ihn schlecht gemacht. Sie sprachen vom „unwerten“ Leben und von den ökonomischen Kosten der Erhaltung. Das war eine wirtschaftliche Nutzenrechnung. Gegen diesen Missbrauch wehrten sich, Gott sei dank, kirchliche und weltanschaulich anders gesinnte Leute, als könnte die die WĂĽrde des Menschen ökonomisch berechnet werden. J. S. MILL wird seine GlĂĽckslehre konträr durch den Begriff der „WĂĽrde“ beschreiben – siehe unten. So ist sein Begriff des „Nutzens“ m. E. ganz anders einzuschätzen. Siehe dann weitere Diskussion bei MILL.Â
4Zur Bestimmung einer Idee und des Gedankens einer formalen Deduktion vgl. J. Widmann, Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens nach Joh. Gottl. Fichtes Wissenschaftslehre 1804/2, Hamburg 1977, S 164.
5Die Einbeziehung der Konsequenz – das betont ebenfalls z. B. der Artikel von F. Ricken im Lexikon: Philosophisches Wörterbuch, hrsg. v. Walter Brugger u. Harald Schöndorf, Baden-Baden 2010. Siehe dort zum Artikel „Utilitarismus“:
„Der U. ist eine Theorie über die Begründung moralischer Urteile. Das vielfach variierte Grundgerüst besteht aus drei Elementen: (a) dem Konsequenzprinzip: Kriterium für die sittliche Richtigkeit der Handlung sind ausschließlich die Folgen; (b) einer Werttheorie, die angibt, welcher / Wert um seiner selbst willen wählenswert ist, und die damit das Kriterium liefert, nach dem die Folgen einer Handlung beurteilt werden; (c) der Summierungs- und Maximierungsthese: ausschließlicher Gesichtspunkt für die Bewertung ist der Gesamt- oder der Durchschnittsnutzen aller von der Handlung Betroffenen. Der Aktutilitarismus fragt unmittelbar nach dem Nutzen der einzelnen Handlung; nach dem Regelu. ist die Handlung sittlich richtig, welche mit den Regeln übereinstimmt, deren allgemeine Befolgung den Nutzen maximieren würde. Der um seiner selbst willen wählenswerte Wert ist die Lust (klassischer U.) oder die Erfüllung der Präferenzen der Betroffenen (Präferenzu.). Bentham bemisst die Maximierung der Lust ausschließlich anhand quantitativer Kriterien; nach Mill gibt es auch qualitative Unterschiede; so verdienen die Freuden, an denen höhere Fähigkeiten beteiligt sind, den Vorzug. Beide begründen ihre Werttheorie naturalistisch: Dass etwas wünschenswert ist, wird dadurch bewiesen, dass die Menschen es tatsächlich wünschen. […].“
6 Zu MASLOWS „Bedürfnispyramide“ siehe Artikel auf Wikipedia, abgerufen 2. 10. 2023: https://de.wikipedia.org/wiki/Maslowsche_Bed%C3%BCrfnishierarchie
7Was ist nicht nachprüfen kann, nur nachsagen: Nach K. Hammacher weist die sog. „Wertphilosophie“ Ende des 19. Jhd/Anfang 20. Jhd. den Mangel auf, die objektiven Werte so angesetzt zu haben, dass sie unabhängig vom Wollen und Streben nach Glück existieren sollen. Das wäre dann keine transzendentale Erkenntnisart, wie sie J. S. MILL praktiziert (oder Kant oder Fichte): Die Werte werden transzendental im praktischen Streben nach „Glück/Glückseligkeit“ sowohl gebildet, als auch real vorausgesetzt. Siehe dort bei K. Hammacher, Lexikonartikel zum „Glück“ und Verweise auf M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 1954, 2. Teil, 5. Kap. 256ff, 370ff und N.Hartmann, Ethik, 1949, S 95ff und 365ff.