J. S. Mill, Utilitarianism – Der Utilitarismus, 1861. 1 Kapitel

Vorbemerkung 1

Ich ging stets mit großem Vorurteil an den „Utilitarismus“ heran. Praktisch kannte ich ihn nur aus Sekundärliteratur. Zufällig las ich doch einmal in ein Original hinein, da bot sich mir eine weite Welt. J. S. Mill, „Utilitarianism“, 1861. Über die historischen Hintergründe – siehe Lexikas oder wikipedia – Link

Die weite Welt sehe ich a) in einem mir neu erscheinenden Begriff von „Nutzen“ im Sinne einer rechtlichen Kategorie, dass jedes Vernunftwesen sich in seinen Handlungen und Diskursen, Geschäften, Abmachungen sich einen Nutzen versprechen darf, sonst würde es nicht agieren und b) in der Hervorhebung des Begriffes „Glück/Glückseligkeit“ als Zugang zu individueller Transzendenzerfahrung.
Infolge der Individualisierung des Rechts bleibt nur mehr das im Gewissen und persönlichen Tun anzustrebende „GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit“, das jedem Vernunftwesen in einem Staate  – als bĂĽrgerliche Freiheit – zugesprochen werden muss.  

Der „Nutzen“  beruht nicht auf einer sinnlichen BedĂĽrfnisbefriedigung, sondern ist ein (ideelles) Prinzip des Ausgleichs, zuerst auf materieller Ebene, dann im Sinne des Gemein-Nutzens von Freiheiten und Rechten fĂĽr alle von allen zu jeder Zeit. Er gewinnt im Denken von J. S. Mill sehr schnell interpersonale und soziale ZĂĽge – siehe dann unter „soziale NĂĽtzlichkeit“.

Anders gesagt: Der „Nutzen“ ist ein spezifizierter Zweckbegriff.  Er ist eine   spezifische Art und Weise des Verhaltens eines Vernunftwesens, dass sich einen „Nutzen“ und Erfolg aus seinen interpersonalen Handlungen verspricht, zugleich aber den anderen im Akt des Vertragens und Sich-Vertragens anerkennt. Der Nutzen ist nicht rein egoistisch, ausbeuterisch, nur auf ökonomischen oder monitären „Erfolg“ im schlechten Sinne aus, sondern im Sinne eines beiderseitigen Gemein-Nutzens wird etwas vereinbart. Im Nutzen passt sich das Vernunftwesen an den Akt der Anerkennung des anderen an, rechtlich und moralisch, ist Anpassung an Naturgesetzlichkeiten und Regelungen einer Gesellschaft. (Siehe dazu vor allem bei K. Hammacher, der die wesentlichen Rechtsbegriffe aus einer Verhaltenslehre und Handlungslogik des Vernunftwesens abgleitet.)2
Anders gesagt: Der „Nutzen“  ist vorerst weder positiv oder negativ zu bewerten. Er ist Ausgleich und Vergleich nach  der Idee der Gerechtigkeit – was immer das jetzt einschlieĂźt, Absicht, Wunsch, Wille, Gut und Böse, GlĂĽck und Freiheit. 3

Die transzendentale Analyse und Zurückführung des menschlichen Strebens  auf eine„sozialen Nützlichkeit“ bei J. S. Mill verzichtet zwar auf eine ausdrücklich übernatürliche Begründung des reellen Strebens und Handelns, fällt, sozusagen leider, von Zeit zu Zeit  zurück auf  naturalistische Kausalitäten, aber für mich bemerkenswert, im Hintergrund läuft ein Handlungslogik ab, die ich transzendental nennen will, weil sie die Begriffe des Rechts, der Moralität, des Willens, des Gewissens, der Gerechtigkeit, der Sicherheit u. a. auf eine letzte Bedingung der Wissbarkeit zurückführen will. J. S. Mill kommt  hier für meine Begriffe ziemlich weit! 

Zum Glücksbegriff (neben dem Nutzen-Begriff)  halte ich mich (ebenfalls) an K. Hammacher, Lexikon philosophischer Grundbegriffe.  Es liegt ja eine gewisse Doppeldeutigkeit im Glücksbegriffe, die ich durch die Schreibweise andeuten will: „Glück/Glückseligkeit“. Glück als a) günstiger Zufall, und Glück als b) Glückseligkeit, als innere Erfahrung,

1) Ich will die kleine Schrift „Utilitarismus“ von J. S. MILL  transzendental-kritisch lesen, d. h. nach den Kriterien der Wissbarkeit fragen, wie und warum kommt J. S. Mill zu diesen oder jenen Begriffe – und sind sie zurecht so gesetzt.

Nochmals, zu meinem eigenen Erstaunen festgestellt: Es geht keineswegs um egoistisches, bloß individuelles, sinnliches Glück/Glückseligkeit, um eine Nützlichkeit, die andere oder eine Minderheit ausschließt, sondern im Gegenteil, a) um einen  Gemein-Nutzen von Wert, Sinn, Gerechtigkeit, qualitativer Fülle des Seins,  b) als auch  um  möglichst breite  Universalisierung  und Konkretion dieser Werte von allen für alle zu jeder Zeit in einer politischen Wirklichkeit. Das „größte Glück“ für alle beginnt  bei der individuellen Freiheit und dem reellen Streben des einzelnen, schließt eine individuelle Transzendenzerfahrung ein,  und endet wesentlich in einem Gemein-Nutzen für alle von allen zu jeder Zeit.  Das ist für mich klassische,  transzendierende Analyse reellen Strebens, weil stets weiter und reflexiver die Bedingungen der Wissbarkeit gefasst werden.

Es werden die Konsequenzen des Handelns (virtuell, genetisch) mitbedacht, es wird abgewogen zwischen primären oder sekundären Interessen, es wird nach Prioritäten des Gemeinwohls oder Individualwohls gefragt, wobei das Gemeinwohl vorgeht, es werden die moralisch-besten Konsequenzen und Alternativen gesucht – und das ins Unendliche hinaus. In seinem Denken wird, wie gesagt, das Handeln stets ĂĽberschritten auf eine höhere Idee hin, letztlich auf die, wie gesagt, ausgleichende Gerechtigkeit.

2) Die Methode (a), die Begriffe (b), die Rechtfertigung c) – sollen meine grundlegenden Kriterien dieser Lektüre von „Utilitarianism/Der Utilitarismus“ sein.

Mills Methodik (a) ist, wie möchte ich sagen, induktiv und intuitiv und dann analytisch, deduktiv vom höchsten Prinzip ausgehend. Er ist sehr belesen und historisch gebildet, macht viele Anspielungen und Querverweise zu anderen Moraltheorien. Sein Methode ist, wie gesagt, transzendental orientiert, insofern er auf eine Letztbegründung und höchste Evidenz höchster Moral- und Rechtsbegriffe ausgeht. 

Zu den Begriffen (b) : Sie betreffen primär nicht einen theoretischen, naturwissenschaftlichen oder ästhetischen Bereich der Anschauungen, sondern die Analyse und Synthese individueller und gesellschaftlicher Erfahrungen, die Begriffe von Recht, Tugend, Gewissen, Gerechtigkeit, Sicherheit,  mithin Begriffe von subjektiven und gemeinnützigen Werten unter reellen Anschauungs- und Anwendungsbedingungen, d. h. unter reellen Strebensbedingungen. 

Zur Rechtfertigung c) : Das Büchlein „Utilitarianism“ entspricht m. E. der klassischen Aufgabe der Philosophie, eine begriffliche Durchdringung der Wirklichkeit zu leisten, d. h. hier der rechtlichen, moralischen und politischen Wirklichkeit, und deren Erkenntnisprinzipien darzustellen – bis eine schlüssige  Grund-Folge und Systembegründung aus einem höchsten Prinzip erreicht ist, d. h. aus dem reellen Streben. (Leider oftmals naturalistisch verstanden.) 

3) Ich zitiere hier zuerst noch eine Kritik des Utilitarismus nach R. Lauth aus dem Philosophieunterricht der 80-iger Jahre: Diese Kritik ist zutreffend, würde ich den Begriff „Nutzen“ nur als Mittel zum Zweck egoistischer Interessen sehen. R. Lauth, der einen sagenhaften Philosophieunterricht vortrug, hielt dem „Utilitarismus“ entgegen (Aus einem eigenen Skriptum):
“[….]
„c) Der Utilitarismus sagt: Es soll dasjenige sein,
was ein geeignetes Mittel fĂĽr meine Zwecke ist. Das NĂĽtzliche soll sein. Nimmt man diesen Gedanken unter die Lupe, so sieht man: Ich kann nicht sagen, das NĂĽtzliche an sich soll sein, denn das NĂĽtzliche ist nur ein Mittelbegriff. NĂĽtzlich ist immer nur etwas fĂĽr etwas anderes. Das NĂĽtzliche verweist aus sich immer auf Zwecke, deshalb kann es nie Endzweck sein. Man kann auch nicht sagen, das NĂĽtzliche soll sein, denn es verweist immer auf etwas anderes. Also: Prinzipielle Unhaltbarkeit des Utilitarismus, weil das NĂĽtzliche wieder auf einen Zweck verweist.
d) Man könnte aber sagen, es geht uns um Zwecke. Sieht man aber auf diese, so zeigt sich: Wir haben Zwecke, die ihrerseits für uns wieder Mittel sind. Z. B. ein Straßenbau – die Straße ist wiederum Mittel usw. Wir müssen also bei den Zwecken mindestens weitergehen auf Endzwecke. Denn was nur Mittel-Zweck ist, ist Zweck für noch untergeordnetere Mittel, seinerseits aber wieder Mittel für andere Zwecke. Die Frage verschiebt sich auf die
Endzwecke.
e) Sieht man nun auf diesen Endzweck (z.B. der Endzweck allen Lebens ist, ich will genieĂźen), dann zeigt sich, dass alles, was wir im Endzweck realisieren wollen, zwar auch ein Sein ist, aber der Grund dafĂĽr, dass wir diesen Endzweck wollen, liegt nicht im Sein. Das Sein ist nach Abzug der Wertseite indifferent. Wenn wir wollen, dass etwas sei, so ist es der
Wert, der für uns das Sein wertvoll macht. Der Endzweck ist daher Sache des Wollens, nicht eine bloße faktische Beschaffenheit. Er ist es, der uns ein Sein wert macht, und das, was macht, dass es uns wert ist, ist der Wert. Bei der Konstitution des Seinsollens geht es also darum, dass Werte realisiert werden sollen. […]“ (Skriptum, 80-iger Jahre)

4) Meine Sicht jetzt: Wenn ich das Wort „Nutzen“ tatsächlich so gebrauche, wie es wörtlich Prof. Lauth verstand, Nutzen nur formal regulierend in der logischen Konstruktion eines Zweckbegriffes eingeordnet,  so ergibt das wahrlich einen Widerspruch.

Mill begreift aber im „Nutzen“ eine handlungsbedingte Bedeutung, eine hauptsächlich rechtliche und politische Bedeutung auf:  Möglichst viele Vernunftwesen sollen durch ihr angeborenes, reelles (sinnliches) Streben Anteil bekommen an GlĂĽck/GlĂĽcksseligkeit. Letzteres meint Gerechtigkeit, Sicherheit, WĂĽrde, Anerkennung, im weitesten Sinne Transzendenz. „Nutzen“ ist, mit K. Hammacher gesprochen, ein „praktizierter Begriff“, der zur Aufdeckung einer inneren Absicht, Gesinnung, des Gewissens beiträgt. Seine Funktion ist ein ausgleichender Gerechtigkeitssinn, der auf Anerkennung des anderen beruht, und Begriffe wie Absicht, Gesinnung, Gesinnung aufdeckt, d. h. zu ihnen hinfĂĽhrt.  4

Es mag wohl viele historische GrĂĽnde geben, warum J. S. Mill zu dieser Theorie eines sich selbst im Wege stehenden „Utilitarismus“ gekommen ist. Psychologisch wĂĽrde ich unterstellen, dass Mill die rein apriorischen und vernunfttheoretischen BegrĂĽndungen von Moral und Gesetz zu schwach, abstrakt und wirkungslos empfunden hat?, dass er geprägt war von Lehrern wie Hutcheson, Adam Smith und David Humes, von Jeremy  Bentham (1748-1832),  nicht zuletzt von seinem Vater, der bereits ähnliche Ansichten vertrat. 
Hätte er Fichte gekannt, was ich nicht vermute, so hätte er eine andere Ableitung des reellen Strebens finden können, eine Ableitung im sinnlichen Trieb von einem geistige Trieb. Das Streben nach Glück lag im amerikanischen Zeitgeist (Bill of Rights vom 12 6. 1776), weil immer individueller der Zugang zu Recht und Transzendenz gesehen wurde.  

Mill verlässt sich a) auf das reelle Streben, und b) auf einen schillernden, mehrdeutigen Begriff von  Glück/Glückseligkeit.

Vergisst man  die im Handeln des  „Utilitarismus“ transzendierend vorausgesetzten Folgen, mithin das Modell einer ausgleichenden Gerechtigkeit,   werden solche  Begriffe wie   „soziale NĂĽtzlichkeit“ oder „Nutzen“ unweigerlich falsch  und vielleicht sogar  böswillig ausgelegt: Es werden dann ethische Grenzfälle konstruiert wie z. B ein Konflikt:  Mehrere Menschen  könnten gerettet werden, wenn eine Person geopfert wĂĽrde. Ist das utilitaristisch  erlaubt oder sogar geboten?  Oder anderes Beispiel: Das maximierte GlĂĽck aller, wie es gemeinhin dem Utilitarismus unterstellt wird,  kann dazu fĂĽhren, dass Minderheiten gänzlich ĂĽbersehen und Minderheitenrechte beschnitten werden usw. Das sind nach meiner LektĂĽre alles Unterstellungen.
Der Utilitarismus behauptet gerade nicht eine Beliebigkeit von Rechts- und Moralbegriffen, sondern eine Applikationsordnung von Begriffen, die fĂĽr sich gegliedert und an manchen Stellen unverhandelbare Werte ergeben z. B. die Sicherheit fĂĽr den einzelnen. Das reelle Streben des einzelnen nach GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit fordert geradezu die Anerkennung des anderen in seiner PersonenwĂĽrde, ist ein transzendierender Begriff individueller Freiheit.  Ein kĂĽnstlich herbeigefĂĽhrter Flugzeugabsturz mit weniger Toten als mit mehr Toten in einem Stadtgebiet …. usw., wie es Konstruktionen gibt, das  ist nicht utilitaristische Ethik.
 Der Endzweck ist die Herstellung eines Gemein-Nutzens für alle von allen zu jeder Zeit. 5

5) Noch zum Begriff Glück/Glückseligkeit: Kant versagte bekanntlich dem Begriff Glückseligkeit alle gesetzliche Moralbegründung. Indirekt kam er aber ohne notwendiges Denken eines geforderten „höchsten Gutes“, oder manchmal auch Glück/Glückseligkeit genannt,  wenn auch gepaart mit moralischer Glückswürdigkeit als Folgewirkung und sogar als moralischer  Pflichtbegriff, nicht aus. (Siehe z. B. die vielen Endpassagen in der KdU).  Sobald von der „Maxime“ der Gesinnung zur „Maximierung“ einer Handelslogik übergangen werden soll, hört man ebenso bei Kant deutlich einen messbaren  Gemein-Nutzen heraus.  Kann ich es so sehen, dass Kant selbstverständlich  utilitarisches Begriffsinventar gebrauchen musste, um die anscheinend in der transzendentalen Idee liegenden apriorischen Werte wie Selbstbestimmung, Gleichheit,  Personalität, Autonomie auch nur annähernd sichtbar und konkret zu machen? 6

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1. Kapitel (Ausgabe Reclam, ebd. S 7)

Eine starke Ansage wird gleich zu Beginn getätigt: Was ist das Kriterium von Recht und Unrecht?
Es herrscht nach Mill große „
Verwirrung und Unsicherheit“ (ebd.), was die Erkenntnisgründe guten Handelns betrifft.

1. Kap., Allgemeine Bemerkungen: „In kaum einem Punkt entspricht der gegenwärtige Stand der menschlichen Erkenntnis so wenig den Erwartungen, zu denen man sich berechtigt glaubte, und nichts ist so bezeichnend für die Rückständigkeit, in der sich die Auseinandersetzung gerade mit den wichtigsten Problemen der Philosophie befindet, wie der geringe Fortschritt auf dem Weg zu einer Lösung der Streitfrage, welches das Kriterium von Recht und Unrecht ist.“ (ebd. S 7)

Das „Prinzip der Nützlichkeit (principle of utility) oder, wie Bentham es später gesagt hat, das Prinzip des größten Glück, (greatest happiness) (hat) einen bedeutenden Anteil an den Morallehren selbst derer, die ihm verächtlich alle Verbindlichkeit absprachen.“ (Hervorhebung von mir, ebd. S 13f)

Wie begründet  MILL dieses Prinzip des Nutzens? Mill drückt sich hier etwas zweideutig aus, obwohl er gerade Missverständnisse vermeiden will.

Das Nutzen ist aber, so lese ich das durchgehend, Funktion eines Vertrages zwischen freien Vernunftwesen, gewisse  grundlegende Werte und Sicherheiten für alle von allen zu jeder Zeit objektivierbar zu machen. 
Ebenso ist der  Glücks/Glückseligkeitsbegriff gemein-nützlich für alle von allen zu jeder Zeit orientiert. Glück/Glückseligkeit ist alles andere als bloß individualistische Bedürfnisbefriedigung, Hedonismus, ist nicht auf ein Gemein-Wohl im Sinne von möglichst größtem Wohl-Befinden ausgerichtet, sondern wie der Nutzen ein Geltungsanspruch wichtiger Grundbedürfnisse, allen voran bürgerlicher Freiheit, die aus dem reellen Streben jedem Individuum zukommmen.  

GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit wird durch sein/ihr Gegenteil, d. h. durch ein Widerfahrnis von Hemmung und Ungerechtigkeit, praktisch-dynamisch bestimmt und gemessen.

„Es gibt keine Denkrichtung, die nicht zugesteht, dass die Bedeutung einer Handlung für die Glückseligkeit (happiness) in vielen Anwendungsgebieten der Moral eine wesentliche und sogar vorrangige Rolle spielt, wie wenig sie auch gewillt ist, in ihr das Grundprinzip der Moral und die Quelle aller sittlichen Verpflichtungen zu sehen. Ja, ich würde noch weiter gehen und behaupten, dass zumindest jene Apriori-Moralisten, die das Argumentieren überhaupt noch für notwendig halten, auf utilitaristische Argumente nicht verzichten können.“(Hervorhebung von mir, ebd. S. 15)

Ziemlich vernichtend fällt die Kritik MILLS an KANTS Formel des „Kategorischen Imperativs“, aus, der in der GMS (1785) und KpV (1788) als Verallgemeinerungskritierum  innerer Gesinnung und Moralität eingefĂĽhrt worden ist. Damit könnten zwar logische WidersprĂĽchlichkeit der „unmoralischsten Verhaltensnormen“ aufgedeckt werden, aber auf „groteske Weise“ können diese „unmoralischsten Verhaltensnormen“ gerade nicht verhindert werden, weil die inhaltliche GlĂĽck- und GlĂĽckseligkeitsvorstellungen als MotivationsgrĂĽnde gar nicht einbezogen werden. Der Kategorische Imperativ ist immer nur negatives Kriterium der Zulässigkeit einer bereits gefällten moralischen Entscheidung – „dass jedermann von ihnen (d. h. vor unmoralischen Folgen) verschont bleiben wollte“ – hilft aber nicht, die moralische Entscheidbarkeit fĂĽr das Gute bzw. fĂĽr GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit zu finden  und kreativ-schöpferisch zu eröffnen und zu erkennen.

„Aber ich kann nicht umhin, zur Veranschaulichung meiner These auf eine systematische Abhandlung eines der größten unter ihnen zu verweisen, auf Kants Metaphysik der Sitten. Dieser außerordentliche Mann, dessen Gedankengebäude noch lange Zeit als einer der Höhepunkte in der Geschichte des philosophischen Denkens gelten wird, stellt in der genannten Abhandlung einen allgemeinen Grundsatz als Ursprung und Prinzip aller sittlichen Verpflichtung auf, nämlich: »Handle so, dass die Regel deines Handelns von allen vernünftigen Wesen als Gesetz angenommen werden kann«. Sobald er es jedoch unternimmt, aus dieser Regel einige konkrete moralische Pflichten herzuleiten, misslingt ihm in geradezu grotesker Weise der Nachweis, dass darin, dass alle vernünftigen Wesen nach den denkbar unmoralischsten Verhaltensnormen handeln, irgendein Widerspruch, irgendeine logische (oder auch nur physische) Unmöglichkeit liegt. Was er zeigt, ist lediglich, dass die Folgen einer allgemeinen Befolgung dieser Normen derart wären, dass jedermann von ihnen verschont bleiben wollte.“ (ebd. S 15, Hervorhebung von mir)

Die kantische Maxime allgemeiner Gesetzgebung und die Verallgemeinerungsprüfung  eines „Kategorischen Imperativs“ gehen zu keiner Erlaubnis über, d. h. zu keinen reellen Anwendungsbedingungen von Recht und Gerechtigkeit. Es fehlt der Übergang und die Konsequenz. 7

MILL hätte vielleicht mit einer, natürlich erst gut 80 Jahre später zusammengestellten, dynamischen Interpretation der MASLOWSCHEN Bedürfnishierarchie Freude gehabt, was die Menschen so alles an Bedürfnissen mitbringen, angefangen von psychologischen, physiologischen, sozialen Bedürfnissen bis zur Selbstverwirklichung. Diese psychologischen Tafeln haben  m. E. den Nachteil, dass sie die Kraft des Zusammenhangs eines integrativen Ganzen der Bedürfnisse und den ideellen, vereinenden Charakter des Glücksstrebens und Wollens nicht aufzeigen können, immerhin werden sie aber bereits in einer pyramidalen Deduktionsordnung und transzendentalen Bedingungsordnung dargestellt. 8

J. S. MILL argumentiert begriffsscharf und logisch: Das, was keines Beweises möglich ist, weil es um seiner selbst willen gewollt wird, das ist das, was Selbstzweck ist. Es ist (für ihn) das reelle Glücksstreben. (Ähnlich das Streben nach dem Guten wie bei Aristoteles oder die Idee des Guten bei Platon bzw des „höchsten Worumwillens“ in Platons Dialog „Lysis“.)

„Es versteht sich, dass dies (sc, das Streben nach GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit , nach einem allgemeinen Guten) kein Beweis im gewöhnlichen und populären Sinne des Wortes sein kann. Fragen nach letzten Zwecken sind eines direkten Beweises nicht fähig. Wenn von etwas gezeigt werden kann, dass es gut ist, dann nur dadurch, dass man zeigt, dass es ein Mittel zu etwas anderem ist, von dem ohne Beweis zugegeben wird, dass es gut ist. dass die ärztliche Kunst etwas Gutes ist, ist dadurch bewiesen, dass sie der Gesundheit dient – aber wie will man beweisen, dass Gesundheit etwas Gutes ist? (Hervorhebung von mir, ebd. S 17)

Mit Fichte analysiert: Der eigenständige, spontane Tatzusammenhang der Einbildungskraft ist das eine, vermittelt durch den Trieb.

Die vernunfttheoretische Gesamteinordnung ist das andere, der Gedankenzusammenhang in einer begrifflichen Erkenntnis und im freien Räsonnieren. Der vernünftige Gedankenzusammenhang  ist Bild-Wirklichkeit, Aussage, als Bild sich bewährend in einem Ausgesagten der Bild-Wirklichkeit, als Natur, als Logos, als Geschichte und als Sinnidee.

Transzendental gesehen sind die spontane Naturwirkung, der Trieb des reellen Strebens und der gedankliche Begriff des Glück/der Glückseligkeit  keine Gegensätze, im Gegenteil, ein genus  auf der Basis der Selbstbestimmung.

Leider, wie schon angedeutet, holen  J. S. Mill die Fallstricke des englischen Empirismus ein, wenn er das reelle Glücksstreben letztlich naturalistisch erklärt. Dies widerspricht eigentlich seinem sonst transzendentalen Denken, jedem phänomenalen Begriff eine transzendierende Bedingung voranzustellen.  
Beides zusammengefasst – reelles Streben nach GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit und ideelles Denken – ergäbe die Explikation des Wesens der Vernunft von allen fĂĽr alle zu jeder Zeit.

MILL beharrt leider auf die empirischen Tatbestände und Sinneseindrücke – er spricht z B.   von „Instinkten“ des Gerechtigkeitsgefühls -, worin er einerseits Recht hat, wenn er die sinnlichen Triebe als Vorstufe zu geistigen Werten  betonen will, andererseits genügt aber das nicht, denn der Aktcharakter des Erkennen in seinem Realisieren setzt  ebenso Gedankenzusammenhänge voraus, die gerade vordergründige sinnliche Triebbefriedigungen und sinnliche Glück/Glücksseligkeitsbestrebungen transzendieren. MILL praktiziert transzendentale Vorgehen, kennt bald eine Interpersonalität, kennt Liebe, Gewissen, Willen, Recht, Gerechtigkeit, alles in einem reinen, apriorischen Sinne – fällt aber mit seiner empirischen Letztbegründung wieder total hinab auf eine naturale Basis der Evidenz. 9

Die Einordnung der Anschauungen in eine rechtliche und  moralische Begrifflichkeit (in einen moralischen Gedankenzusammenhang), das haben andere „Sittenlehre“ oder „praktische Vernunft“ genannt. MILL nennt es „Moral des GlĂĽcks“ oder „Theorie des Utilitarismus“. Ich stoĂźe mich inzwischen nicht mehr an diese Begriffen, weil sie interpersonale Freiheit und Gemeinnutzen enthalten. Nur die Erklärung und BegrĂĽndung ist falsch. 
J. S. Mill beklagt selber das Missverstehen seines „Utiliarismus“ (Kein Wunder möchte ich sagen.) Er sieht wie eine „Formel“ aus. Es kommt darauf an, „[…] zunächst ein richtiges Verständnis der Formel selbst“ (ebd. S 19) zu haben.

„Denn ich glaube, dass das Haupthindernis, das der Annahme dieser Formel im Wege steht, das höchst unzureichende Verständnis ihrer Bedeutung ist und dass die Frage bedeutend vereinfacht und ein großer Teil der Schwierigkeiten ausgeräumt wären, gelänge es, sie zumindest von den gröbsten Missverständnissen zu befreien.“ (ebd. S 19)

© Franz Strasser, 2. 10. 2023

1Bei Kant gibt es einmal diese schöne Unterscheidung zwischen hypothetischen und kategorischen Imperativen. All dem wĂĽrde ein „Utilitarismus“ von J. S. Mill nicht widersprechen: GMS, AA IV, S. 414: „Alle Imperativen nun gebieten entweder hypothetisch, oder kategorisch. Jene stellen die praktische Nothwendigkeit einer möglichen Handlung als Mittel zu etwas anderem, was man will (oder doch möglich ist, daĂź man es wolle), zu gelangen vor. Der kategorische Imperativ wĂĽrde der sein, welcher eine Handlung als fĂĽr sich selbst, ohne Beziehung auf einen andern Zweck, als objectiv-nothwendig vorstellte. Weil jedes praktische Gesetz eine mögliche Handlung als gut und darum fĂĽr ein durch Vernunft praktisch bestimmbares Subject als nothwendig vorstellt, so sind alle Imperativen Formeln der Bestimmung der Handlung, die nach dem Princip eines in irgend einer Art guten Willens nothwendig ist. Wenn nun die Handlung bloĂź wozu anders als Mittel gut sein wĂĽrde, so ist der Imperativ hypothetisch; wird sie als an sich gut vorgestellt, mithin als nothwendig in einem an sich der Vernunft gemäßen Willen, als Princip desselben, so ist er kategorisch.“

2 Ich verdanke diese Sicht K. Hammacher in seiner transzendentalen Analyse des menschlichen Verhaltens, worauf die ersten, „praktizierten“ Rechtsbegriffe zurückzuführen sind.
K. Hammacher, Rechtliches Verhalten und die Idee der Gerechtigkeit. 2011, S 94 -121. „Der Begriff des Nutzens, der schon einleitend grundlegend eingefĂĽhrt wurde, gehört in spezifischer Weise wie wir sahen dem fĂĽr das Recht erheblichen Bereich menschlichen Handelns an. Er setzt eine Zweckmäßigkeit voraus, die spezifisch am Menschen orientiert ist. Nutzen zeichnet sich durch einen dem Zweck entsprechenden Erfolg aus. Das wird zu wenig bedacht und wirkt deshalb aber unterschwellig ent- scheidend in den Konzeptionen des Pragmatismus und umgekehrt im Utilitarismus mit. Dass sich ein Erfolg einstellt, hängt von der Angepaáşžtheit ab, die Zwecke zu- gleich an die Gesetze der Natur und an die menschliche Gesellschaft haben. Wir haben es also beim Nutzen mit einem spezifizierten Zweckbegriff zu tun, der im planenden Denken gebildet wird, und darĂĽber hinaus sowohl der Naturgesetzlichkeit als auch den Regelungen einer Gesellschaft so entsprechen muĂź, dass-wenn die Wirkung gemäß unseren Planungen eintritt – das von uns als „,erfolgreich“ bemerkt wird.

3 K. Hammacher, ebd., S 96: „Nun ist im Rechtsbegriff jedoch wie bereits dargestellt – Nutzen fĂĽr beide Seiten oder gemeinsamer Nutzen, und darĂĽber hinaus „Gemeinnutzen“, das heiĂźt Nutzen fĂĽr das Ganze (etwa einer staatlichen Gemeinschaft) vorausgesetzt. Betrachten wir jedoch zunächst den Nutzen im einfachen Vertragsverhältnis, dessen Modell fĂĽr das Rechtssystem grundlegend wurde! Grundlegend wird der Begriff des Nutzens nicht im Behaviorismus und Pragmatismus und selbst noch nicht in Rawls‘ Gerechtigkeitstheorie gefaĂźt.

4K. Hammacher, Rechtliches Verhalten und die Idee der Gerechtigkeit. Ein anthropologischer Entwurf. 2011. Dort besonders die Seiten 94-112.

5 Jüngst gelesen, „utilitaristische“ Konflikte im Philosophie-Magazin, Bd. 4/2019, S 48.

6Er handelt das Thema Glück/Glückseligkeit im Begriff des „höchsten Gutes“ oft ab; siehe z. B. in dem Absatz zum „höchsten Gut“ im Kapitel: „Von der Dialektik der reinen Vernunft in Bestimmung des Begriffes vom höchsten Gut“, KpV, Bd. VII, S 238 – 241. „So fern nun Tugend und Glückseligkeit zusammen den Besitz des höchsten Guts in einer Person, hiebei aber auch Glückseligkeit, ganz genau in Proportion der Sittlichkeit (als Werth der Person und deren Würdigkeit glücklich zu sein) ausgetheilt, das höchste Gut einer möglichen Welt ausmachen: so bedeutet dieses das | Ganze, das vollendete Gute, worin doch Tugend immer als Bedingung das oberste Gut ist, weil es weiter keine Bedingung über sich hat, Glückseligkeit immer etwas, was dem, der sie besitzt, zwar angenehm, aber nicht für sich allein schlechterdings und in aller Rücksicht gut ist, sondern jederzeit das moralische gesetzmäßige Verhalten als Bedingung voraussetzt.“ (Hervorhebung von mir, KpV, Bd. VII, S. 238.239.)

7Die Einbeziehung der Konsequenz – das betont ebenfalls z. B. der Artikel von F. Ricken im Lexikon: Philosophisches Wörterbuch, hrsg. v. Walter Brugger u. Harald Schöndorf, Baden-Baden 2010, zum Begriff „Utilitarismus“:
„Der U. ist eine Theorie über die Begründung moralischer Urteile. Das vielfach variierte Grundgerüst besteht aus drei Elementen: (a) dem Konsequenzprinzip: Kriterium für die sittliche Richtigkeit der Handlung sind ausschließlich die Folgen; (b) einer Werttheorie, die angibt, welcher / Wert um seiner selbst willen wählenswert ist, und die damit das Kriterium liefert, nach dem die Folgen einer Handlung beurteilt werden; (c) der Summierungs- und Maximierungsthese: ausschließlicher Gesichtspunkt für die Bewertung ist der Gesamt- oder der Durchschnittsnutzen aller von der Handlung Betroffenen. Der Aktutilitarismus fragt unmittelbar nach dem Nutzen der einzelnen Handlung; nach dem Regelu. ist die Handlung sittlich richtig, welche mit den Regeln übereinstimmt, deren allgemeine Befolgung den Nutzen maximieren würde. Der um seiner selbst willen wählenswerte Wert ist die Lust (klassischer U.) oder die Erfüllung der Präferenzen der Betroffenen (Präferenzu.). Bentham bemisst die Maximierung der Lust ausschließlich anhand quantitativer Kriterien; nach Mill gibt es auch qualitative Unterschiede; so verdienen die Freuden, an denen höhere Fähigkeiten beteiligt sind, den Vorzug. Beide begründen ihre Werttheorie naturalistisch: Dass etwas wünschenswert ist, wird dadurch bewiesen, dass die Menschen es tatsächlich wünschen. […].“

8 Zu MASLOWS „Bedürfnispyramide“ siehe Artikel auf Wikipedia, abgerufen 2. 10. 2023: https://de.wikipedia.org/wiki/Maslowsche_Bed%C3%BCrfnishierarchie

9Im Kontrast zu J. S. Mill könnte  die „Wertphilosophie“ Ende des 19. Jhd/Anfang 20. Jhd., genannt werden. Während Mill die Realisierungsbedingungen reellen Strebens einbezieht, setzt eine „Wertphilosophie“ objektive Werte an – allerdings mit dem Manko, sie ohne RĂĽckbezug im Streben und Wollen situieren zu können. 
Siehe bei K. Hammacher die Verweise auf M. Scheler im Lexikonartikel zum „Glück“. Siehe bei M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 1954, 2. Teil, 5. Kap. 256ff, 370ff oder siehe bei N.Hartmann, Ethik, 1949, S 95ff und 365ff.

Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser