Vorbemerkung 1
Ich ging stets mit großem Vorurteil an den „Utilitarismus“ heran. Was versteht J. S. Mill unter „Utilitarismus“? Wie sieht er das „Glück“, die „Glückseligkeit “?
Abgesehen jetzt von dem immer zweifach zu lesenden Wort GlĂĽck (happiness),
a) als gĂĽnstiger Zufall, und GlĂĽck als
b) GlĂĽckseligkeit, als innere Erfahrung,
gibt es m. E. wirklich viele Missverständnisse und begriffliche Verwirrungen, die um den „Utilitarismus“ kreisen. (Um die Zweifachheit von Glück auszudrücken, schreibe ich es mit einem Schrägstrich verbunden: Glück/Glückseligkeit .)
1) Ich will die kleine Schrift „Utilitarismus“ von J. S. MILL transzendental-kritisch lesen, d. h. nach den Kriterien fragen, wie und warum kommt J. S. Mill zu diesen oder jenen Begriffe – und sind sie zurecht gesetzt? Â
J. S. Mill fällt durch seine empiristische Prägung leider in manche begriffliche „Schlaglöcher“, bildlich ausgedrückt, die nichts erklären, glänzt aber dann wieder in der Herausarbeitung von Begriffen, die sich wechselseitig aus dem reellen Streben und den Begriffen Glücks/Glückseligkeit ergeben. Begriffe, die wir sonst aus einer anderen Ableitung kennen, durchaus aus apriorischem Denkvollzug und apriorischem Wissen verstanden.
Es war fĂĽr mich unerwartet, dass Mill immer wieder das sinnliche Streben transzendieren konnte in Richtung eines interpersonalen und moralisch-sittlichen GlĂĽcks/GlĂĽckseligkeit. Â
Mit der Bezeichnung „utilitaristisch“ vertut sich leider J. S. Mill immer wieder die Chance, eine sich selbst evidente, transparente LetztbegrĂĽndung zu erreichen, die ihm stillschweigend aber vorschwebt.Â
Anders gesagt: „Glück/Glückseligkeit“ und „Nutzen“ stehen sich selbst im Wege im transzendental-methodischen Fragen nach einem letzten Geltungsgrund des Strebens und der moralischen Bewertung.
Es geht keineswegs bloĂź um egoistisches, individuelles, sinnliches GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit, um NĂĽtzlichkeit, die eine Minderheit ausschlieĂźt, sondern ein Endzweck von Wert, Sinn, qualitativer FĂĽlle des Seins, sowohl fĂĽr den einzelnen wie fĂĽr möglichst viele (im Sinne von fĂĽr alle angestrebt), soll durch „GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit“ und „Nutzen“ erreicht werden.
Das reelle GlĂĽcksstreben ist schon akthaftes Erkennen von qualitativem Wert und Sinn – analog zu einem Triebe, der auf ein gegenständliches Objekt geht, aber gerade deshalb ĂĽber dieses Objekt hinaus auf eine nächsthöhere ErfĂĽllung des Wollens. Â
Gerade in der Herausarbeitung einer „Moral der NĂĽtzlichkeit“ (siehe dann 5. Kapitel) kommt es nicht zu einer sinnlichen, abgeschlossenen Gegenständlichkeit, was das höchstmögliche, endgĂĽltige GlĂĽck/die GlĂĽckseligkeit sein soll, sondern im Gegenteil, die Idee von GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit zeigt sich durch die Einbeziehung des „Nutzens“ in einer stets transzendierenen Weise, als regulative und pragmatische Idee, die Konsequenzen des Handeln mitzubedenken und alles immer wieder abzuwägen nach primären oder sekundären Interessen, nach Prioritäten des Gemeinwohls oder Individualwohls, nach den besten Konsequenzen und Alternativen – ins Unendliche von allen fĂĽr alle zu jeder Zeit. Das „utilitaristische“ Verfahren wĂĽrde ich mit einem heuristisches Verfahren vergleichen, das größtmöglich GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit zu suchen und zu finden fĂĽr möglichst viele.
2) Die Methode (a), die Begriffe (b), die Rechtfertigung c) – sollen meine grundlegenden Kriterien dieser Lesung von „Utilitarianism/Der Utilitarismus“ sein.
Mills Methodik (a) ist, wie möchte ich sagen, induktiv und intuitiv. Er ist sehr belesen und historisch gebildet, macht viele Anspielungen und Querverweise zu anderen Moraltheorien. Sein Methode ist transzendental orientiert, d. h. er geht auf LetztbegrĂĽndung und höchste Evidenz aus.Â
Zu den Begriffen (b) : Sie betreffen primär nicht einen theoretischen, naturwissenschaftlichen oder ästhetischen Bereich der Anschauungen, sondern die Analyse und Synthese individueller und gesellschaftlicher Erfahrungen, die Begriffe von Recht, Tugend, Gewissen, Gerechtigkeit, Sicherheit, Moral, mithin Begriffe von subjektiv-objektiven Werten unter reellen Anschauungs- und Anwendungsbedingungen.
Zur Rechtfertigung c) : Das BĂĽchlein „Utilitarianism“ entspricht m. E. der klassischen Aufgabe der Philosophie, eine begriffliche Durchdringung der Wirklichkeit zu leisten, d. h. hier der rechtlichen, moralischen und politischen Wirklichkeit – und deren Erkenntnisprinzipien darzustellen – bis eine schlĂĽssige SystembegrĂĽndung aus einem höchsten Prinzip erreicht ist.
3) In der Lektüre von „Utilitarismus“, so wird jeder/jeder Leser/in bald feststellen, geht der Weg im reellen Glücksstreben steil hinauf zum Altruismus und zur Idee der Gerechtigkeit und Sicherheit von allen für alle zu jeder Zeit. Die einzeln herausgearbeiteten Begriffe wie Wille, Gewissen u. v. a., sie entstammen einer originär konsequenten, ungewohnten Herleitung, und betreffen immer eine rechtliche und interpersonal-moralische Wirklichkeit, eine qualitative Fülle von Werten und Rechten und Pflichten.
4) Ich zitiere hier zuerst eine Kritik des Utilitarismus nach R. Lauth aus dem Philosophieunterricht der 80-iger Jahre: Diese Kritik ist zutreffend, würde ich den Begriff „Nutzen“ nur als Mittel egoistischer Interessen sehen.
Aber so versteht m. E. J. S. MILL den Begriff „Nutzen“ nicht!? Der Begriff „Nutzen“ ist bei ihm eine Funktionsbeschreibung eines analytisch-synthetischen Denkens, eine Art quantitative Messung eines erreichbaren GlĂĽcks/GlĂĽckseligkeit – ohne den „Nutzen“ selbst zum Zweck zu erheben. Â
R. Lauth, der einen sagenhaften Philosophieunterricht vortrug, hielt dem „Utilitarismus“ entgegen (Aus einem eigenen Skriptum):
“[….] „c) Der Utilitarismus sagt: Es soll dasjenige sein, was ein geeignetes Mittel für meine Zwecke ist. Das Nützliche soll sein. Nimmt man diesen Gedanken unter die Lupe, so sieht man: Ich kann nicht sagen, das Nützliche an sich soll sein, denn das Nützliche ist nur ein Mittelbegriff. Nützlich ist immer nur etwas für etwas anderes. Das Nützliche verweist aus sich immer auf Zwecke, deshalb kann es nie Endzweck sein. Man kann auch nicht sagen, das Nützliche soll sein, denn es verweist immer auf etwas anderes. Also: Prinzipielle Unhaltbarkeit des Utilitarismus, weil das Nützliche wieder auf einen Zweck verweist.
d) Man könnte aber sagen, es geht uns um Zwecke. Sieht man aber auf diese, so zeigt sich: Wir haben Zwecke, die ihrerseits für uns wieder Mittel sind. Z. B. ein Straßenbau – die Straße ist wiederum Mittel usw. Wir müssen also bei den Zwecken mindestens weitergehen auf Endzwecke. Denn was nur Mittel-Zweck ist, ist Zweck für noch untergeordnetere Mittel, seinerseits aber wieder Mittel für andere Zwecke. Die Frage verschiebt sich auf die Endzwecke.
e) Sieht man nun auf diesen Endzweck (z.B. der Endzweck allen Lebens ist, ich will genießen), dann zeigt sich, dass alles, was wir im Endzweck realisieren wollen, zwar auch ein Sein ist, aber der Grund dafür, dass wir diesen Endzweck wollen, liegt nicht im Sein. Das Sein ist nach Abzug der Wertseite indifferent. Wenn wir wollen, dass etwas sei, so ist es der Wert, der für uns das Sein wertvoll macht. Der Endzweck ist daher Sache des Wollens, nicht eine bloße faktische Beschaffenheit. Er ist es, der uns ein Sein wert macht, und das, was macht, dass es uns wert ist, ist der Wert. Bei der Konstitution des Seinsollens geht es also darum, dass Werte realisiert werden sollen. […]“ (Skriptum, 80-iger Jahre)
5) Meine Sicht jetzt: Wenn ich das Wort „Nutzen“ tatsächlich so gebrauche, wie es wörtlich Prof. Lauth verstand, Nutzen schon als Wert an sich, d. h. das Mittel soll sein, das Mittel ist schon Zweck, Endzweck, so ergibt das einen Widerspruch im Begriffe zwischen Mittel und Zweck. Ein Mittel kann nie eine Begründung ergeben.
Aber so  teleologisch will J. S. Mill den Nutzen nicht verstanden wissen, im Gegenteil und ganz ähnlich zur Diskussion bei R. Lauth: Der Endzweck des GlĂĽcks/der GlĂĽckseligkeit soll erreicht werden – und die mathematische Anschauungsform und kategoriale Messbarkeit dafĂĽr ist der „Nutzen“. Wenn der „Nutzen“ gelegentlich als teleologisches Ziel aufscheint, so ist dieser „Nutzen“ rĂĽckbezogen auf ein kategorischen Sollen von GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit – und deshalb soll diese quasi teleologische Messbarkeit im Begriff des „Nutzens“ geschaffen werden, um das reelle Streben auszulegen und anzuwenden. Der „Nutzen“ ist weiterhin nur Mittel zum Endzweck.Â
Es mag wohl viele historische Gründe geben, warum J. S. Mill zu dieser Theorie des Utilitarismus gekommen ist. Psychologisch würde ich unterstellen, dass Mill die rein apriorischen und vernunfttheoretischen Begründungen von Moral und Gesetz zu schwach, abstrakt und wirkungslos empfunden haben muss, Recht und Gerechtigkeit, zu erreichen. Es fehlte ihm die empirische und triebhafte Grundlage der hehren moralischen Ziele. Was hätte er vielleicht gesagt, hätte er die fichtesche Vermittlung des Triebes gekannt, die von sich her zu einer geistigen Trieberfüllung und zu ethischem Glück/Glückseligkeit überführt?
Mill verlässt sich lieber a) auf das reelle Streben, und b) auf den Begriff einer gewissen Evaluierung (Nutzen) von GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit – und inwieweit dadurch die Rechte und Freiheiten des Menschen anschaulich werden können, die apriorischen Werte, die in der europäischen Philosophietradition so hochgehalten werden?!   2
Vergisst man die hohen sittlichen Werte hinter dem „Utilitarismus“, werden solche Begriffe wie  „soziale NĂĽtzlichkeit“ oder „Nutzen“ unweigerlich falsch ausgelegt: Es werden dann ethische Grenzfälle konstruiert – die andere Moraltheorien aber genauso in Predouille bringen wĂĽrden – wie z. B.: Mehrere Menschen könnten gerettet werden, wenn eine Person geopfert wĂĽrde. Ist das utilitarisch erlaubt oder sogar geboten? Oder anderes Beispiel: Das maximierte GlĂĽck aller, wie es gemeinhin der Utilitarismus fordert, kann dazu fĂĽhren, dass Minderheitenrechte beschnitten werden, d. h. dass immer eine Minderheit zu kurz kommen wird usw…Â
Der Utilitarismus behauptet gerade nicht eine Beliebigkeit von Rechts- und Moralbegriffen, die frei verhandelt werden könnten, sondern eine Applikationsordnung von Begriffen, die fĂĽr sich gegliedert und an manchen Stellen unverhandelbare Werte ergeben z. B. die Sicherheit fĂĽr den einzelnen.Â
Die konstruierten, gegen den Utilitarismus aufgezählten ethischen Konflikte, treten erst dann auf, wenn die genetische BegrĂĽndung aus dem Soll (von GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit) nicht bedacht wird, sondern nur quantitativ gerechnet wird und der „Nutzen“ selbst zum Zweck erhoben wird. 3
Ich lese jetzt im BĂĽchlein „Utilitarismus“ das reelle Streben nach GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit aus der Perspektive a) eines substantiell jedem Vernunftwesen bereits zukommende Recht an Freiheit und WĂĽrde und b) aus der Perspektive eines ganzheitlichen Strebens des Vernunftwesens, wozu sinnliche Begierden und Neigungen und geistige Freuden und interpersonales Verstehen und sogar transzendente Hoffnungen in einem integrativen Ganzen zusammengehören. Â
Kant versagte dem Begriff Glückseligkeit alle gesetzliche Moralbegründung. Indirekt kam er aber ohne notwendiges Denken eines geforderten „höchsten Gutes“, oder manchmal auch Glück/Glückseligkeit genannt, als Folgewirkung und sogar als moralischer Pflichtbegriff, nicht aus. Sobald von der „Maxime“ der Gesinnung zur „Maximierung“ einer Handelslogik übergangen werden sollte, musste zwangsläufig die Glückseligkeit und das „höchste Gut“ in das Denken einbezogen werden, wenn auch verschachtelt nur als Konsequenz gedacht.4
—————-
1. Kapitel (Ausgabe Reclam, ebd. S 7)
Eine starke Ansage wird gleich zu Beginn getätigt: Was ist das Kriterium von Recht und Unrecht?
Es herrscht nach Mill große „Verwirrung und Unsicherheit“ (ebd.), was die Erkenntnisgründe guten Handelns betrifft.
1. Kap., Allgemeine Bemerkungen: „In kaum einem Punkt entspricht der gegenwärtige Stand der menschlichen Erkenntnis so wenig den Erwartungen, zu denen man sich berechtigt glaubte, und nichts ist so bezeichnend für die Rückständigkeit, in der sich die Auseinandersetzung gerade mit den wichtigsten Problemen der Philosophie befindet, wie der geringe Fortschritt auf dem Weg zu einer Lösung der Streitfrage, welches das Kriterium von Recht und Unrecht ist.“ (ebd. S 7)
Das „Prinzip der Nützlichkeit (principle of utility) oder, wie Bentham es später gesagt hat, das Prinzip des größten Glück, (greatest happiness) (hat) einen bedeutenden Anteil an den Morallehren selbst derer, die ihm verächtlich alle Verbindlichkeit absprachen.“ (Hervorhebung von mir, ebd. S 13f)
Wie begründet MILL dieses Prinzip des Nutzens? Der Gedanke des Nutzens kann im obigen Sinn a) des bloßen Buchstabens verwendet werden,dass es selbst ein Wert sei, ein deduktives Prinzip, aus dem gefolgert wird. Mill drückt sich hier etwas zweideutig aus, obwohl er gerade Missverständnisse vermeiden will.
Das Nutzen ist aber, so lese ich das durchgehend, b) nur Mittel der Beschreibung, Funktion, Tätigkeit, um das wirkliche Sehen des Vernunftwesens analytisch-synthetisch auf der Basis des reellen Strebens und der reellen Anwendungsbedingungen besser zu verstehen und zu explizieren von allen für alle zu jeder Zeit.
MILL lässt bald durchblicken, dass a) das GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit in einem interpersonalen Verhältnis besteht – also bereits weit weg von jedem nur sinnlichen Verständnis oder jedem Hedonismus liegt – und b) GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit wird durch sein/ihr Gegenteil, d. h. durch ein Widerfahrnis von Hemmung und Ungerechtigkeit, praktisch-dynamisch bestimmt und gemessen.
„Es gibt keine Denkrichtung, die nicht zugesteht, dass die Bedeutung einer Handlung für die Glückseligkeit (happiness) in vielen Anwendungsgebieten der Moral eine wesentliche und sogar vorrangige Rolle spielt, wie wenig sie auch gewillt ist, in ihr das Grundprinzip der Moral und die Quelle aller sittlichen Verpflichtungen zu sehen. Ja, ich würde noch weiter gehen und behaupten, dass zumindest jene Apriori-Moralisten, die das Argumentieren überhaupt noch für notwendig halten, auf utilitaristische Argumente nicht verzichten können.“(Hervorhebung von mir, ebd. S. 15)
Ziemlich vernichtend fällt die Kritik MILLS an KANTS Formel des „Kategorischen Imperativs“, aus, der in der GMS (1785) und KpV (1788) als Tauglichkeitskriterium innerer Gesinnung und Moralität eingefĂĽhrt worden ist. Damit könnten zwar logische WidersprĂĽchlichkeit der „unmoralischsten Verhaltensnormen“ aufgedeckt werden, aber auf „groteske Weise“ können diese „unmoralischsten Verhaltensnormen“ gerade nicht verhindert werden, weil die inhaltliche GlĂĽck- und GlĂĽckseligkeitsvorstellungen als MotivationsgrĂĽnde gar nicht einbezogen werden. Der Kategorische Imperativ ist immer nur negatives Kriterium der Zulässigkeit einer bereits gefällten moralischen Entscheidung – „dass jedermann von ihnen (d. h. vor unmoralischen Folgen) verschont bleiben wollte“ – hilft aber nicht, die moralische Entscheidbarkeit fĂĽr das Gute bzw. fĂĽr GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit im vorhinein und kreativ-schöpferisch zu eröffnen und zu erkennen.
„Aber ich kann nicht umhin, zur Veranschaulichung meiner These auf eine systematische Abhandlung eines der größten unter ihnen zu verweisen, auf Kants Metaphysik der Sitten. Dieser außerordentliche Mann, dessen Gedankengebäude noch lange Zeit als einer der Höhepunkte in der Geschichte des philosophischen Denkens gelten wird, stellt in der genannten Abhandlung einen allgemeinen Grundsatz als Ursprung und Prinzip aller sittlichen Verpflichtung auf, nämlich: »Handle so, dass die Regel deines Handelns von allen vernünftigen Wesen als Gesetz angenommen werden kann«. Sobald er es jedoch unternimmt, aus dieser Regel einige konkrete moralische Pflichten herzuleiten, misslingt ihm in geradezu grotesker Weise der Nachweis, dass darin, dass alle vernünftigen Wesen nach den denkbar unmoralischsten Verhaltensnormen handeln, irgendein Widerspruch, irgendeine logische (oder auch nur physische) Unmöglichkeit liegt. Was er zeigt, ist lediglich, dass die Folgen einer allgemeinen Befolgung dieser Normen derart wären, dass jedermann von ihnen verschont bleiben wollte.“ (ebd. S 15, Hervorhebung von mir)
Die kantische Maxime allgemeiner Gesetzgebung und die Tauglichkeitsprüfung eines „Kategorischen Imperativs“ gehen zu keiner Erlaubnis über, d. h. zu keinen reellen Anwendungsbedingungen von Recht und Gerechtigkeit. Es fehlt der Übergang und die Konsequenz. 5
MILL hätte vielleicht mit einer, natürlich erst gut 80 Jahre später zusammengestellten, dynamischen Interpretation der MASLOWSCHEN Bedürfnishierarchie Freude gehabt, was die Menschen so alles an Bedürfnissen mitbringen, angefangen von psychologischen, physiologischen, sozialen Bedürfnissen bis zur Selbstverwirklichung. Diese psychologischen Tafeln haben aber m. E. den Nachteil, dass sie die Kraft des Zusammenhangs eines integrativen Ganzen der Bedürfnisse und den ideellen, vereinenden Charakter des Glücksstrebens und Wollens nicht aufzeigen können, weil sie nur historisch etwas feststellen.(?) 6
J. S. MILL argumentiert begriffsscharf und logisch: Das, was keines Beweises möglich ist, weil es um seiner selbst willen gewollt wird, das ist das, was Selbstzweck ist. Es ist (für ihn) das reelle Glücksstreben. (Ähnlich das Streben nach dem Guten wie bei Aristoteles oder die Idee des Guten bei Platon bzw des „höchsten Worumwillens“ in Platons Dialog „Lysis“.)
„Es versteht sich, dass dies (sc, das Streben nach GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit , nach einem allgemeinen Guten) kein Beweis im gewöhnlichen und populären Sinne des Wortes sein kann. Fragen nach letzten Zwecken sind eines direkten Beweises nicht fähig. Wenn von etwas gezeigt werden kann, dass es gut ist, dann nur dadurch, dass man zeigt, dass es ein Mittel zu etwas anderem ist, von dem ohne Beweis zugegeben wird, dass es gut ist. dass die ärztliche Kunst etwas Gutes ist, ist dadurch bewiesen, dass sie der Gesundheit dient – aber wie will man beweisen, dass Gesundheit etwas Gutes ist? (Hervorhebung von mir, ebd. S 17)
Mit Fichte analysiert: Der eigenständige, spontane Tatzusammenhang der Einbildungskraft ist das eine, vermittelt durch den Trieb.
Die vernunfttheoretische Gesamteinordnung ist das andere, der Gedankenzusammenhang in einer begrifflichen Erkenntnis und im freien Räsonnieren. Der vernünftige Gedankenzusammenhang ist Bild-Wirklichkeit, Aussage, als Bild sich bewährend in einem Ausgesagten der Bild-Wirklichkeit, als Natur, als Logos, als Geschichte und als Sinnidee.
Transzendental gesehen sind die spontane Naturwirkung, der Trieb des reellen Strebens und der gedankliche Begriff des Glück/der Glückseligkeit keine Gegensätze, im Gegenteil, ein genus sind sie auf der Basis der Selbstbestimmung.
Leider, wie schon gesagt, holen hier J. S. Mill die Fallstricke des englischen Empirismus ein: Er kann das triebhafte, reelle Streben, den Tatzusammenhang, nur mehr in den mehrdeutigen Begriffen von Glück/Glückseligkeit beschreiben. Der Tatzusammenhang kann erkenntnismäßig nicht mehr aufgelöst werden.
Beides zusammengefasst – reelles Streben nach GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit und ideelles Denken – ergäbe die Explikation des Wesens der Vernunft von allen fĂĽr alle zu jeder Zeit.
MILL beharrt leider auf die empirischen Tatbestände und Sinneseindrücke – er spricht z B.  von „Instinkten“ des Gerechtigkeitsgefühls -, worin er einerseits Recht hat, wenn er die sinnlichen Triebe als Vorstufe zu geistigen Werten betonen will, andererseits genügt aber das nicht, denn der Aktcharakter des Erkennen in seinem Realisieren setzt ebenso Gedankenzusammenhänge voraus, die gerade über vordergründige sinnliche Triebbefriedigungen und sinnliche Glück/Glücksseligkeitsbestrebungen hinausgehen. MILL praktiziert ein transzendentale Vorgehen, kennt Interpersonalität, Empathie, Gewissen, Willen, Recht, Gerechtigkeit – fällt aber mit seiner empirischen Letztbegründung wieder zurück. 7
Die Einordnung der Anschauungen in eine moralische Begrifflichkeit (in einen moralischen Gedankenzusammenhang), das haben andere „Sittenlehre“ oder „praktische Vernunft“ genannt. MILL nennt es Moral des Glück oder Theorie des Utilitarismus.
Er sieht wie eine „Formel“ aus. Es kommt darauf an, „[…] zunächst ein richtiges Verständnis der Formel selbst“ (ebd. S 19) zu haben.
„Denn ich glaube, dass das Haupthindernis, das der Annahme dieser Formel im Wege steht, das höchst unzureichende Verständnis ihrer Bedeutung ist und dass die Frage bedeutend vereinfacht und ein großer Teil der Schwierigkeiten ausgeräumt wären, gelänge es, sie zumindest von den gröbsten Missverständnissen zu befreien.“ (ebd. S 19)
© Franz Strasser, 2. 10. 2023
1Bei Kant gibt es einmal diese schöne Unterscheidung zwischen hypothetischen und kategorischen Imperativen. All dem wĂĽrde ein „Utilitarismus“ von J. S. Mill nicht widersprechen: GMS, AA IV, S. 414: „Alle Imperativen nun gebieten entweder hypothetisch, oder kategorisch. Jene stellen die praktische Nothwendigkeit einer möglichen Handlung als Mittel zu etwas anderem, was man will (oder doch möglich ist, daĂź man es wolle), zu gelangen vor. Der kategorische Imperativ wĂĽrde der sein, welcher eine Handlung als fĂĽr sich selbst, ohne Beziehung auf einen andern Zweck, als objectiv-nothwendig vorstellte. Weil jedes praktische Gesetz eine mögliche Handlung als gut und darum fĂĽr ein durch Vernunft praktisch bestimmbares Subject als nothwendig vorstellt, so sind alle Imperativen Formeln der Bestimmung der Handlung, die nach dem Princip eines in irgend einer Art guten Willens nothwendig ist. Wenn nun die Handlung bloĂź wozu anders als Mittel gut sein wĂĽrde, so ist der Imperativ hypothetisch; wird sie als an sich gut vorgestellt, mithin als nothwendig in einem an sich der Vernunft gemäßen Willen, als Princip desselben, so ist er kategorisch.“
2Das wäre eine Frage der historischen Forschung. Dazu fehlt mir leider die Literatur.
3Siehe z. B., jüngst gelesen, „utilitaristische“ Konflikte im Philosophie-Magazin, Bd. 4/2019, S 48.
4Er handelt das Thema Glück/Glückseligkeit im Begriff des „höchsten Gutes“ oft ab; siehe z. B. in dem Absatz zum „höchsten Gut“ im Kapitel: „Von der Dialektik der reinen Vernunft in Bestimmung des Begriffes vom höchsten Gut“, KpV, Bd. VII, S 238 – 241. „So fern nun Tugend und Glückseligkeit zusammen den Besitz des höchsten Guts in einer Person, hiebei aber auch Glückseligkeit, ganz genau in Proportion der Sittlichkeit (als Werth der Person und deren Würdigkeit glücklich zu sein) ausgetheilt, das höchste Gut einer möglichen Welt ausmachen: so bedeutet dieses das | Ganze, das vollendete Gute, worin doch Tugend immer als Bedingung das oberste Gut ist, weil es weiter keine Bedingung über sich hat, Glückseligkeit immer etwas, was dem, der sie besitzt, zwar angenehm, aber nicht für sich allein schlechterdings und in aller Rücksicht gut ist, sondern jederzeit das moralische gesetzmäßige Verhalten als Bedingung voraussetzt.“ (Hervorhebung von mir, KpV, Bd. VII, S. 238.239.)
5Die Einbeziehung der Konsequenz – das betont ebenfalls z. B. der Artikel von F. Ricken im Lexikon: Philosophisches Wörterbuch, hrsg. v. Walter Brugger u. Harald Schöndorf, Baden-Baden 2010, zum Begriff „Utilitarismus“:
„Der U. ist eine Theorie über die Begründung moralischer Urteile. Das vielfach variierte Grundgerüst besteht aus drei Elementen: (a) dem Konsequenzprinzip: Kriterium für die sittliche Richtigkeit der Handlung sind ausschließlich die Folgen; (b) einer Werttheorie, die angibt, welcher / Wert um seiner selbst willen wählenswert ist, und die damit das Kriterium liefert, nach dem die Folgen einer Handlung beurteilt werden; (c) der Summierungs- und Maximierungsthese: ausschließlicher Gesichtspunkt für die Bewertung ist der Gesamt- oder der Durchschnittsnutzen aller von der Handlung Betroffenen. Der Aktutilitarismus fragt unmittelbar nach dem Nutzen der einzelnen Handlung; nach dem Regelu. ist die Handlung sittlich richtig, welche mit den Regeln übereinstimmt, deren allgemeine Befolgung den Nutzen maximieren würde. Der um seiner selbst willen wählenswerte Wert ist die Lust (klassischer U.) oder die Erfüllung der Präferenzen der Betroffenen (Präferenzu.). Bentham bemisst die Maximierung der Lust ausschließlich anhand quantitativer Kriterien; nach Mill gibt es auch qualitative Unterschiede; so verdienen die Freuden, an denen höhere Fähigkeiten beteiligt sind, den Vorzug. Beide begründen ihre Werttheorie naturalistisch: Dass etwas wünschenswert ist, wird dadurch bewiesen, dass die Menschen es tatsächlich wünschen. […].“
6 Zu MASLOWS „Bedürfnispyramide“ siehe Artikel auf Wikipedia, abgerufen 2. 10. 2023: https://de.wikipedia.org/wiki/Maslowsche_Bed%C3%BCrfnishierarchie
7 Im Kontrast zu J. S. Mill könnte die „Wertphilosophie“ Ende des 19. Jhd/Anfang 20. Jhd., genannt werden. Während Mill die Realisierungsbedingungen reellen Strebens einbezieht, setzt eine „Wertphilosophie“ objektive Werte an ohne deren Rückbezug zu Streben und Wollen?
Siehe bei K. Hammacher die Verweise auf M. Scheler im Lexikonartikel zum „Glück“. Siehe bei M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 1954, 2. Teil, 5. Kap. 256ff, 370ff oder siehe bei N.Hartmann, Ethik, 1949, S 95ff und 365ff.