Michael Gerten, Wahrheit und Methode bei Descartes – Rezension

Ein ausgezeichnetes Buch, inspirierend.

R. DESCARTES gilt berechtigt als einer der BegrĂŒnder der Transzendentalphilosophie. Einige Schriften sind bereits im Internet gut einsehbar: REGULAE (1619) (Regulae – lateinisch I. Regel) , DISCOURS (Discours de la methode I) (1637 erschienen) und MEDITATIONES (Meditationen Zusammenfassung) (1641)

In dem Buch von MICHAEL GERTEN, Wahrheit und Methode bei Descartes, 2001, wird vor allem auf sein erstes Werk der REGULAE eingegangen, um so gerade auch die Notwendigkeit einer universalen Erkenntniskritik bzw. einer „Ersten Philosophie“, wie sie in den MEDITATIONES vorliegt, zu unterstreichen.

1) Die neue Methodengenese in den REGULAE wird von M. GERTEN ausgefĂŒhrt im Zusammenhang einer „Mathesis universalis“ (siehe M. G, ebd. Seite 75ff), die aber nicht als „Mathematisierung“, d. h. einer bloßen GrĂ¶ĂŸenbeschreibung der Wirklichkeit (in formalen Begriffen) einseitig interpretiert werden darf.

Es gilt nach GERTEN (und VAN DE PITTE) den feinen Unterschied in den Begriffen von „Mathematicae“ und „Mathesis“ herauszuhören, wenn es gelegentlich auch eine synonyme Verwendung der Wörter gibt, um das grundlegende Anliegen DESCARTES einer „mathesis universalis“, einer umfassenden, universalen Erkenntniskritik, zu verstehen.

Letzterer Begriff der „Mathesis“, vom Griechischen herkommend „Lernen“,1 bezieht den genetischen Prozess des Lernens mit ein. Der Akt des Wissenerwerbes bzw. der Prozess, der vor den Augen des SchĂŒlers zu entwickelnden Wissensweitergabe, ist konstitutiv fĂŒr den Erwerb der Erkenntnis.

Der lateinische Ausdruck fĂŒr diese „Mathesis“ ist bei DESCARTES der Terminus „disciplina“. Die „Disziplin“ ist in spĂ€terer Zeit ein bekannter Terminus geworden, um sowohl a) eine methodisch geordnete Regelung des wissenschaftlichen Forschens, Lehrens und Lernens auszudrĂŒcken, als auch b) den dadurch mitkonstituierten, geschlossenen Gegenstandsbereich einer „Disziplin“ zu beschreiben.

DESCARTES sah in der Auseinandersetzung mit der Logik, der geometrischen Analysis und der Algebra zwar die grundsĂ€tzliche Bedeutung der mathematischen Wissenschaften, aber er erkannte auch die in ihr liegenden Grenzen. Sie alle konnten nur eine faktische Evidenz bieten. Es fehlte die wissenschaftliche Fundierung. Er suchte deshalb, laut seinem RĂŒckblick im DISCOURS, eine andre Methode, die sowohl die Vorteile dieser drei Wissenschaften vereinte, aber frei war von diesen MĂ€ngel der fehlenden WissensbegrĂŒndung und Wissensrechtfertigung. Er verwies auf einen reinen Begriff einer „Mathesis“, eine „mathesis universalis“, die die Alten in der Antike noch gekannt, aber aus gewissen GrĂŒnden verschwiegen haben.

2) Die Probleme der damaligen Mathematik, wobei vor allem Arithmetik und Geometrie gemeint waren, lagen in den bloß sporadischen und zudem von bestimmten, nicht weiter reflektierten und begrĂŒndeten Voraussetzungen ausgehenden, synthetisch-deduktiven LösungsansĂ€tzen, die aber keine analytischen und im Wissenvollzug selbst einsehbaren Erkenntnisse zuließen. So suchte DESCARTES nach einer „mathesis universalis“.

„Die REGULAE sind nun der Versuch, dieser Idee einer allgemeinen Methode, die mit der Aufstellung des richtigen ordo im inventiven Fortschreiten der Wissenschaften zugleich deren logisch-genetische BegrĂŒndung leisten soll, selbst wiederum methodisch zu explizieren.“ (M. G., ebd., S 88)

„(…) Zunehmend erkennt (sc. DESCARTES), dass ein methodisches Vorgehen nach Regeln und Gesetzen konstitutiv fĂŒr das Fortschreiten der wissenschaftlichen Erkenntnis ist. Sind solche Regeln immer schon bei wissenschaftlicher TĂ€tigkeit am Werk, so geht es ihm mehr und mehr darum, sie ĂŒber ihre impliziter Anwendung hinaus explizit zu reflektieren.“ (ebd. S, 67)

3) Hervorragend hat F. BADER in seinem zweibĂ€ndigen Werk zu DESCARTES (Die UrsprĂŒnge der Transzendentalphilosophie bei Descartes, 1983) die neue transzendentalphilosophische Methodenerkenntnis herausgearbeitet. Es handelt sich gerade nicht, wie in vieler SekundĂ€rliteratur zu DESCARTES fĂ€lschlich behauptet, um eine axiomatisch-deduktive Methode, wodurch nach EinfĂŒhrung von Definitionen, Postulaten und Axiomen eine Aufgabe gestellt und mittels Voraussetzungen des Produktes (durch den Akt des Voraussetzens) die Erkenntnisfrage oder das Problem gelöst werden könnte: Damit wĂŒrde der Akt des Voraussetzens und Vorausschickens selber gerade nicht reflektiert und gerade nicht erkannt. Es geht vielmehr um eine analytisch wie synthetisch zugleich verlaufendes Verfahren der Erkenntnis, worin die reduktive Analysis (oder divisio) des Komplexen in einfache Naturen (Notionen, Begriffe) und des davon abhĂ€ngigen Verfahrens der Synthesis (com-positio) zu komplexen Zusammensetzungen und damit zu neuen Begriffen, geistig nachvollzogen werden kann. Die Frage nach dem logischen Werden, ihrer geistig-erkenntnismĂ€ĂŸigen Genese, ist bei allen faktischen Erkenntnissen anzuwenden. Genetisch betrachtet erscheint das Faktum (com-positum) als Resultat, dessen Einheit und jeweilige Bestimmtheit durch eine Nachkonstruktion des synthetischen Aktes des Zusammen-Setzens (com-positio) aus einer Vielheit von notiones zustande kommt. (Im Lateinischen wie im Deutschen ist der ursprĂŒngliche Vorrang des Akthaften, TĂ€tigen, Produktiven gegenĂŒber dem Objekt oder Produkthaften noch bemerkbar. Das Faktum ist etwas Gemachtes, eine Tat-Sache; das com-positum ist Ergebnis eines com-ponere, eines Zusammensetzens – siehe dazu M. GERTEN, ebd., S 172ff.

An einem Beispiel erlĂ€utert: Über eine gegebenen Strecke AB soll ein gleichseitiges Dreieck errichtet werden wie es die Geometer machen mittels bekannter Hilfskonstruktionen. Es bleibt aber gerade diese ars inveniendi, die Kunst des Findens der vorausgeschickten Lösungsprinzipien,  in einem axiomatisch-deduktiven Verfahren unbegrĂŒndet und uneinsichtig. Wie die Konstruktion des bestimmten Dreiecks wirklich verlĂ€uft – durch und in der medialen Konstruktion des Geistes –  das ist die analytisch und synthetische Methode gleichzeitig.
GemĂ€ĂŸ more geometrico wird das zu Zeichnende als das Vorausgeschickte vor das geistige Auge gestellt, aber das Vorauszuschickende wird nicht als Mittel fĂŒr die Lösung im Akte des Vorausschickens zugleich begrĂŒndet und gerechtfertigt. I
hre GĂŒltigkeit wird erst via facti, d. h. in einem als probierend erscheinenden Verfahren gewonnen. Der synthetische Teil der Methode ist immer schon Bestandteil der Analysis im weiteren Sinn, nĂ€mlich derjenigen Bedingungen, die zum faktischen Beweis fĂŒhren. Das ist aber keine einsichtige Rechtfertigung der GrĂŒnde, vielmehr nur eine petitio principii. Es wird in der PrĂ€misse schon vorausgesetzt, was als Produkt herauskommend analysiert wird.

4) Es heißt zwar öfter, dass DESCARTES „more geometrico“ nach der Methode der Geometer sein Verfahren schildern will, aber damit ist gerade nicht ein axiomatisch-deduktives Verfahren zu verstehen. F. BADER zitiert hier vor allem die Zweiten Responsionen zu den MEDITATIONES, wonach alles „Folgende dann derart anzuordnen ist, dass es allein durch das Vorhergehende bewiesen wird.“ (AT VII, 155-57.)  DESCARTES differenziert zwischen ordo rationis und ratio demonstrandi. Weiters differenziert er die ratio demonstrandi in Analysis und Synthesis.

Der „ordo“ ist letztlich die „mathesis universalis“, wonach die wissenschaftliche Reflexion am Leitfaden des ordo rationis bzw. perceptionis vorzugehen hat. Nichts darf unbewiesen oder unbewusst vorausgesetzt werden, bis das am sichersten Erkannte erreicht ist, d. h. auch das metaphysisch Ersterkannte erreicht ist.

Es soll nicht einfach faktisch oder objektiv etwas vorgestellt werden, ohne die Momente der Aufgabe selbst und die sonstigen Voraussetzungen mitzubedenken.
Die Analysis kann in diesem Dreischritt von Resolution – Intuition – Komposition beschrieben werden, oder als Reduktion – Intuition – Deduktion bezeichnet werden.

Der synthetische Teil der Methode ist dabei nur von Wert unter Voraussetzung einer vorangehenden, reduktiven Analysis; die synthetische Methode ist in Wahrheit immer schon Bestandteil der Analysis im weiteren Sinne und erst als solche legitimer Bestandteil einer spĂ€teren Methode der Erkenntnis des Folgenden aus seinen GrĂŒnden.

5) Wenn die Analysis-Methode zugleich die Synthesis von Erkenntnissen leisten soll, so verweist das auf ein gravierendes Problem bei ARISTOTELES, das dieser in der 2. ANALYTIK beschreibt: Es gibt das „der Natur nach“ Ersterkannte und das „fĂŒr uns“ nach Ersterkannte.

ARISTOTELES beginnt mit: „Jedes vernĂŒnftige Lehren und Lernen erfolgt aus einer vorangehenden Erkenntnis“ (Anal. Post. I, 2, 71b – 72a; Metaph V, 11, 1018b,27-32; Phys I, 1, 148a.) Dies meint bei ARISTOTELES den Ausgangspunkt des methodischen Denkens vom sinnlichen Gegenstand als dem zuerst Erkannten („fĂŒr uns“) und in zeitlich dieser ersten Erkenntnis nachfolgenden Schritten durch Epagoge (Wesensinduktion) auf das sachlich („dem Sein nach“, der „Natur nach“) frĂŒhere und bedingende Prinzip, um in umgekehrter Ordnung dann deduktiv das der Erkenntnis (fĂŒr uns) nach FrĂŒhere, aber sachlich SpĂ€tere, durch Kombination der Prinzipien abzuleiten. Das Wissen vom Einzelnen, d. h.  von den Folgen oder den Prinzipiaten, soll durch die ihnen zugrunde liegenden Prinzipien ( den „archai“), die dem Sein nach und fĂŒr uns zunĂ€chst unerkannt sind, als die das Einzelne konstituierenden Wesensformen (noeton eidos, PHYSIK, I, 1, 71a), philosophisch aufgestellt werden. (vgl. F. BADER, ebd., S 24)

Bei DESCARTES verlĂ€uft es gerade umgekehrt: Das dem Sein nach Erkannte (bei ARISTOTELES durch Verallgemeinerung spĂ€ter Erkannte) ist auch das Erste der Erkenntnis nach – wenn auch mit der Schwierigkeit belastet, dass uns das implizite Wissen des Ersterkannten (das Apriorische, Metaphysische, Transzendentale) infolge von Vorurteilen und durch die Erziehung und durch eigene TĂ€tigkeit nicht gleich als Ersterkanntes bekannt ist. Es muss aber implizit gewusst und wissbar sein, denn sonst könnte das sinnlich Gewusste als das SpĂ€tere und daraus „Folgende“ (2. Responsion zu den MEDITATIONES) nicht gewusst und erkannt werden. Nur in sekundĂ€rer Hinsicht ist das Erste fĂŒr uns der Gegenstand der sinnlichen Erfahrung,  aber dieses Ersterkannte hĂ€ngt in Wirklichkeit ab von den apriorischen und nicht aus dem Wissen des Einzelnen abgezogenen, vorlaufenden, konstitutiven Wissensbedingungen, die zugleich auch die Bedingungen des Seins selbst sind.

Die Sinne sind dabei nicht per se der Erkenntnisordnung entgegengesetzt, als seien sie daran schuld, dass wir das sinnliche Erkannte fĂŒr das zuerst Erkannte betrachten, sie sind selbst bereits vorreflexives, geistiges Wissen, aber von der Ersterkenntnis des Wissens her sind sie noch nicht explizit als solches geistiges Wissen eingeholt. Die dem Geiste nach, mit DESCARTES gesprochen, „angeborenen“ Ideen und metaphysischen Begriffe sind das von Natur aus Bekanntere („notior natura“) und Ersterkannte und bilden die primĂ€rreflexive Konstitution – wenn diese Reflexion auch unter der einschrĂ€nkenden Bedingung steht, dass sie von der Freiheit des Willens mitvollzogen werden muss.

Der Irrtum des ARISTOTELES gegenĂŒber diesem Vorwissen und Ideenwissen PLATONS liegt in der Verabsolutierung unserer SekundĂ€rreflexion als der „natĂŒrlichen“ Sichtweise. Wenn man ARISTOTELES genau befragen wollte, so verdankt er sein sekundĂ€rreflexives Wissen aber ebenfalls einer apriorischen Konstitution des impliziten Vorwissens. Er holt es aber nicht als solches ein, sondern ontologisiert es, als wĂ€re es das wahrhafte Ersterkannte.

6) Bei DESCARTES hat die Analysis das Ziel – und das macht ihre Methode aus -, das durch SekundĂ€rreflexion gewusste Wissen durch methodischen Zweifel und auf der Basis des Entschlusses zum primĂ€rreflexiven ersten Wissen, d. h. auf eine einzige Einheit zurĂŒckzufĂŒhren. Alles bloß sekundĂ€rreflexiv Gewusste soll auf die implizit mitgewussten Voraussetzungen des Ersterkannten zurĂŒckgefĂŒhrt werden.

Die Analysis DESCARTES ́ expliziert die implizit immer schon ersterkannten Prinzipien und ihre konstitutive Rolle fĂŒr das scheinbar „Ersterkannte“ (nach ARISTOTELES) und unseren scheinbaren Ausgang von ihm.

Dies hat bei DESCARTES den großen Vorteil, dass die via cognoscendi selbst eine via essendi zu werden vermag, bzw. immer diese Einheit mit der Wahrheit intendiert wird, wĂ€hrend bei ARISTOTELES die via cognoscendi – als in seinem Sinne erstes  Wissen, in Wahrheit aber sekundĂ€res Wissen -,  einen bleibenden Hiatus von Erkenntnis- und Seinsordnung von vornherein aufmacht, der nachtrĂ€glich nie mehr geschlossen werden kann.

Das Konzept eines notwendig vorausgehenden, apriorischen Vorwissens, aufgrund dessen alles Folgende erkannt werden kann, hat DESCARTES wiederholt auch ohne der mythisierenden Denkfigur einer Platonischen Erinnerungslehre („Anamnesis“) dargelegt. F. BADER dokumentiert das so: Auf einen Einwand zur 3. MEDITATION sagt DESCARTES: Die Gottesidee muss selbst apriorische (nicht bloß mythische) Idee der Vollkommenheit sein, sonst könnte eine Unvollkommenheit nicht erkannt werden. Im Wissen des Endlichen kann sie nicht enthalten sein. Sie wĂ€re ja dann eine bloße idea facta. 2 Das von Natur nach Ersterkannte, das „notior natura“ des DESCARTES, ist bei ihm nicht bloßes Sein, wie bei ARISTOTELES, sondern implizites Wissen.

7) Ein im „attendere“ gesehenes sekundĂ€rreflexives, aristotelisches Wissen kommt hingegen nur zu einem dogmatisch vorausgesetzten Sein, d. h. zu einer vorgeordneten Seinsordnung, die transzendental nicht begrĂŒndet und gerechtfertigt ist. Es geschieht der Fehler, dass relativ zu den Objektivierungen der sekundĂ€ren Reflexion eine metaphysische Ordnung behauptet wird, die in ihrer Verabsolutierung nicht durchschaut wird. Die sekundĂ€re Reflexion behauptet zwar eine Seins- und Vernunftordnung, kann aber faktisch bloß ein von den Sinnen und von willkĂŒrlichen EindrĂŒcken abgeleitetes Wissen beweisen und bewĂ€hren.

Ausgehend von dem UngenĂŒgen einer erkenntniskritischen PrĂŒfung der axiomatisch-deduktiven Systeme in den „Mathematicae“ – weil die Definitionen, Postulate und Axiome einfachhin als Nominaldefinitionen bereits eingefĂŒhrt sind, aber nicht genetisiert -, hat DESCARTES den Inbegriff an Voraussetzungen und Lösungsbedingungen durch seine reduktive Analysis-Methode zu einem transzendentalphilosophischen System ausgebaut. Es mĂŒssen die Lösungsbedingungen innerhalb des Ganzen durch die Momente der Aufgabenstellung bereits antizipiert gewusst werden, d. h. die apriorischen Erkenntnisbedingungen mĂŒssen implizit bekannt sein, ehe explizit zu weiterem zusammengesetzten Wissen fortgegangen werden kann. Dies hat zur Konsequenz, dass die reduktive Analysis zugleich die zu beantwortende Aufgabe deduktiv mitbedenken muss. Sie darf nicht bloß reduktiv verfahren, sondern zugleich auch deduktiv. Die Reduktion verlĂ€uft nicht linear von unten nach oben, sondern setzt das Wissen des Oben durch Intuition voraus, und umgekehrt setzt das Wissen von Oben das Wissen von Unten in der Deduktion voraus, das Wissen relativer Prinzipien, sonst könnte sie ja nicht von unten nach oben gehen und wieder zurĂŒck nach unten. (F. BADER, ebd. S 32).

8) Das primĂ€rreflexive Wissen bei DESCARTES ist damit nicht  ontologisch offen gelassenes „erstes Wissen“ (im Sinne ARISTOTELES), erstes, bloßes Sein, sondern eben ontologisch und gnoseologisch in transzendentaler Einheit gewusstes Sein. Das Wissen der Folge ist auch das Wissen des Grundes, ist Wissen auch fĂŒr sich als Reduktion.

„Die primĂ€rreflexiv vorausgesetzte Intuition und Deduktion muss von der Reduktion als fĂŒr sie und ihren Ansatz beim Wissen der Folgen immer schon konstitutiv eruiert werden.“ (F. BADER, S 32). Dies kann nur transzendental im Wissen um die Frage nach den Bedingungen der Wissbarkeit der in den Folgebestimmungen angesetzten Momente erfolgen.

In weiterer AusfĂŒhrung dieser Möglichkeit der Analysis-Methode mĂŒsste jetzt noch mehr diese eigentliche Basis – die die Wahrheitsregel genannt werden kann – herausgearbeitet werden, die von allem Anfang an das Ende der Reduktion wissbar und erreichbar  gesetzt haben muss, d. h. die Wahrheit als intuitive Evidenz, die nicht mehr bezweifelt werden kann ohne die Wahrheit des Zweifels selbst schon wieder vorauszusetzen. Die Wahrheitsregel oder der Erkenntnis- und Geltungsgrund der Wahrheit ist somit zugleich das leitenden Prinzip der Analysis wie der Synthesis.

Wahrheit ist fĂŒr DESCARTES die SelbstbegrĂŒndung und Selbstrechtfertigung ihres Seins und ihrer Evidenz in einem. Sie ist leitende methodische Regel, qualifiziert jeden relativen Ausgangspunkt als nichtevident, und vermag die sekundĂ€rreflexive Erkenntnis selbst zur sicheren Erkenntnis zu fĂŒhren – falls der Wille zur Wahrheit diese Erkenntnis leitet. Die Wahrheit ist damit zugleich der methodische Weg zu ihr als Ziel.

9) Die angestrebte „mathesis universalis“, um nochmals den begrifflichen Ausgangspunkt zu kennzeichnen, ist damit a) eine primĂ€rreflexive Ordnung (disciplina) der IdentitĂ€t von Seinsordnung und Erkenntnisordnung – nicht eine der Seinsordnung entgegengesetzte Erkenntnisordnung wie bei ARISTOTELES – und b) eine VerschrĂ€nktheit von sekundĂ€rreflexiver und primĂ€rreflexiver Erkenntnisordnung bzw. Seinsordnung im Sinne eines Verfahrens, wie von einem primĂ€rreflexiven Wissen der Prinzipien zu den sekundĂ€rreflexiven Wissensbestimmungen weitergegangen bzw. zu ihnen zurĂŒckgegangen werden kann. Ordnung ist weder rein sekundĂ€rreflexiv und subjektiv und dogmatisch angesetztes Seins-Wissen (wie bei ARISTOTELES), noch rein primĂ€rreflexives Wissen alleine, sondern ein medialer Vollzug eines Sich-Wissens. (vgl. F. BADER, ebd. S 33)

DESCARTES drĂŒckt das in der 2. Responsion so aus: Die Analysis zeigt den wahren Weg, auf dem eine Sache methodisch und gleichsam a priori gefunden werden kann, so dass der Leser den Argumentationsgang so folgen und die Sache so einsehen könne, als habe er sie selbst gefunden. Alle Schritte der Erkenntnis werden ihm sekundĂ€rreflexiv als an das primĂ€rreflexive Wissen und dessen innere KonstruktivitĂ€t rĂŒckgebunden vorkonstruiert, er aber kann die Erkenntnis mitkonstruieren und sie in innerer Einsicht nachvollziehen und mitgehen, weil das ihm Vorkonstruierte auf die Vorkonstruktion, die er primĂ€rreflexiv immer schon besitzt und implizite in innerer Anschauung realisiert, rĂŒckbezogen ist.

Es bleibt nichts mehr faktisch, wie im axiomatisch-deduktiven Verfahren, weil alles an den Vernunftvollzug des primĂ€rreflexiven Wissens und dessen höchsten Prinzipien wie inneren DeduktionszusammenhĂ€nge rĂŒckgebunden bleibt – und diese RĂŒckbindung das methodische Verfahren normiert.3

Die Analysis zeigt die Erkenntnis jeder Sache durch die Erkenntnis ihrer Prinzipien aus dem primĂ€rreflexiven Prinzipienwissen heraus, sie zeigt, wie DESCARTES schon zitiert wurde, „wie die Folgen von den GrĂŒnden abhĂ€ngen“. Die Erkenntnis einer Sache, so in den MEDITATIONES der französischen Übersetzung, kann nur durch die zugleich mitlaufende Erkenntnis seiner GrĂŒnde erfolgen. Die GrĂŒnde sind nicht einfach blind vorausgesetzte, behauptete ontologische GrĂŒnde, sondern im Sinne des primĂ€rreflexiven Wissens zugleich absolute VernunftgrĂŒnde, Vernunftprinzipien. Die zu findende Sache z. B. in der Aufgabe einer Mathematik, wird durch den RĂŒckgang auf die implizit mitgewussten genetisierenden Lösungsbedingung aufgewiesen bzw. alles in den Wissenschaften Behauptete wird rĂŒckgebunden auf die „Erste Wissenschaft“ und auf das alles bestimmende Wissen des ersten Wissens (der Wahrheit), das konstitutiv in jedem Wissensvollzug miteinfließt.

10) F. BADER stellt den ausdrĂŒcklichen RĂŒckbezug zu PLATON öfter heraus:  Er sieht bei PLATON folgendes Erkenntniskonzept vorliegen: „Die Erfindung der mathematischen Analysis durch Platon leitet sich also aus einem philosophischen Prinzipienkonzept und einer ĂŒbergeordneten philosophischen Methode her; aus dem Anhodos (sc. „Hinaufgang“ HinauffĂŒhrung“) zum intuitiven anhypotheton eidos ĂŒber das dianoetische mathematische Wissen und das noetische Ideenwissen und dem gegenlĂ€ufigen Kathodos (sc. „Abstieg) ĂŒber dieselben Stufen, welcher Kathodos sich zugleich als rein im Prinzipienwissen bleibend und damit als ohne Hinblick auf die Erfahrung erfolgend verstehen (dem Konzept, nicht der AusfĂŒhrung nach), also als ableitend.“ (F. BADER, ebd., S 37; verweisend auf Politeia VI, 510c-511b; VII 531c-535a; oder verweisend auf das primĂ€rreflexives Vor-Wissen, „pro-eidenai;“ im Phaidon, 74 e – u. a. Stellen bei PLATON.)

F. BADER verweist ebenfalls auf CASSIRER. Das Suchen kann methodisch nur geleitet werden, wenn ein Wissenszusammenhang zwischen dem Gegebenen und Gesuchten besteht, wenn also das Gesuchte schon immer in bestimmter Weise (implizit) gewusst ist.

11) Es wĂ€ren noch viele Möglichkeiten der Abgrenzung gegenĂŒber der aristotelischen Logik möglich, deren Analytik bekanntlich zu einer Begriffs-, Urteils- und Schlusslogik fĂŒhrte, die aber in ihrer bloßen Begrifflichkeit zu keiner Genetisierung ihrer Begriffe aus einer primĂ€rreflexiven, transzendentalen Logik mehr fĂ€hig ist. Zur genaueren Abgrenzung gegenĂŒber ARISTOTELES siehe ebenfalls F. BADER, ebd., S 40 – 45.

(c) Franz Strasser, 31. 12. 2019

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1 Aus einem Griechischlexikon: ÎŒÎŹÎžÎ·ÏƒÎčς ÎŒÎŹÎžÎ·ÏƒÎčς, ᜎ, das Lernen; ጀλλᜰ ÏƒÎżáœ¶ ÎŒÎŹÎžÎ·ÏƒÎčς Îżáœ Ï€ÎŹÏÎ±, du willst nicht lernen, Soph. El. 1021; ᜧΜ ÎŒÎŹÎžÎ·ÏƒÎčÎœ ÎżáœÎș ጔχΔÎč, Eur. Suppl. 915; ᜅτÎč áŒĄÎŒáż–Îœ áŒĄ ÎŒÎŹÎžÎ·ÏƒÎčς ÎżáœÎș áŒ„Î»Î»Îż τÎč áŒą áŒ€ÎœÎŹÎŒÎœÎ·ÏƒÎčς Ï„Ï…ÎłÏ‡ÎŹÎœÎ”Îč Îżáœ–ÏƒÎ±, Plat. Phaed. 72 a; Îșα᜶ ጐπÎčΌέλΔÎčα, Prot. 324 a; Îșα᜶ ΌΔλέτη, Theaet. 153 b, öfter; Xen. Hem. 3, 9, 2; – áŒĄ ጐΜ Ï„Îżáż–Ï‚ áœ…Ï€Î»ÎżÎčς ÎŒÎŹÎžÎ·ÏƒÎčς, der Unterricht, Plat. Lach. 190 d; auch áŒĄ πΔρ᜶ τ᜞ ጓΜ ÎŒÎŹÎžÎ·ÏƒÎčς, Rep. VII, 525 a. – Das Wissen, ÎŒÎŹÎžÎ·ÏƒÎčÎœ Îżáœ ÎșαλᜎΜ ጐÎșÎŒÎ±ÎœÎžÎŹÎœÎ”Îčς, Soph. Trach. 450; ÎŒ. Îșα᜶ ጐπÎčÏƒÏ„ÎźÎŒÎ·, Xen. Hem. 4, 2, 20; u. so bes. Sp. = die Wissenschaft.

2 Es unterlĂ€uft ARISTOTELES eine stĂ€ndige petitio principii in seiner Begriffsbildung, wenn er vom Wissen des Besonderen zum Wissen des Allgemeinen aufsteigt – siehe F. BADER, ebd. S 38, Anm. 41. DESCARTES operiert hingegen stĂ€ndig mit der platonischen Unterscheidung eines ausdrĂŒcklichen und unausdrĂŒcklichen Wissens. (Siehe die entsprechenden Textstellen bei DESCARTES und deren Übersetzungen bei F. BADER, Anm. 24 und 24 a, S 28-30) .

3 Ähnlich sehe ich das auch bei ANSELM, DE VERITATE, schon klar ausgedrĂŒckt. Die Richtigkeit einer Aussage wird durch die Wahrheitsregel bestimmt, d. h. das Soll der Wahrheit ist die Norm. Die Wahrheit macht die spezifische Differenz in der Richtigkeit einer Aussage aus.





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(c) Franz Strasser, Feb. 2012
WeiterfĂŒhrende Literatur zu R. Descartes:

de.wikipedia.org/wiki/Regulae_ad_directionem_ingenii

de.wikipedia.org/wiki/Discours_de_la_méthode

de.wikipedia.org/wiki/Meditationes_de_prima_philosophia

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser