Stichworte zur Anweisung zum seligen Leben, 11. Vorlesung u. Beilage, 7. Teil

S 551  Elfte Vorlesung

Diese Vorlesung bringt inhaltlich keine neue Ableitung oder Erläuterung der Standpunkte mehr, dafür aber einige persönliche Details und Erfahrungen Fichtes.  Sehr interessant ist nochmals die „Beilage“ zur Sicht Jesu Christi. Natürlich kann ich diese Sicht nicht teilen, aber hat sich von den anderen Philosophen fichtescher Umgebung jemand so ernstlich damit befasst wie er?

Es geht ihm um eine „allgemeine Nutzanwendung“ (ebd. S 551).

„Mein Wunsch war, mich Ihnen so innig als möglich mitzutheilen, Sie zu durchdringen, und von Ihnen, meinem Sinne nach, durchdrungen zu werden. — Ich glaube auch wirklich, dass es mir gelungen ist, die Begriffe, welche hier zur Sprache gebracht werden sollten, mit einer, wenigstens vorher nicht also erreichten Klarheit auszusprechen; so wie auch diese Begriffe in ihrem natürlichen Zusammenhange hinzustellen.“ (ebd.)

Es gab in Fichtes Augen viele Hindernisse der Aufnahme solcher „Anweisungen zum seligen Leben“: Die wissenschaftliche Darlegung führt nur einen neutralen, indifferenten Zweck mit sich, doch seine eigentliche Absicht war: „Unser Zweck bei den gegenwärtigen Vorlesungen war zu allernächst nicht wissenschaftlich, ohnerachtet nebenbei mancherlei Rücksichten auf mir bekannte wissenschaftliche Bedürfnisse meiner Zuhörer genommen wurden; sondern er war praktisch. (…)“ (ebd. S 553)

„Ein zweites Hinderniss inniger Mittheilung in unserem Zeitalter ist die herrschende Maxime, keine Partei nehmen zu wollen, und sich nicht zu entscheiden, für oder wider; welche Denkart sich Skepticismus nennt, (…)“ (ebd. S 553).

Fichte wird den Skeptizismus noch öfter verwerfen, siehe unten: „So ist, wie jedem, der nur ruhig gehört hat, unmittelbar eingeleuchtet haben muss, der obenerwähnte Skepticismus, den unter der Benennung des Scharfsinns das Zeitalter sich zur Ehre anzurechnen pflegt, offenbarer Stumpfsinn, Flachheit und Schwäche des | Verstandes.“ (ebd. S 558.559))

Fichte brilliert rhetorisch, er wehrt sich gegen die „wahrhaft brutale Meinung, dass Wahrheit kein Gut sey und dass an der Erkenntniss derselben nichts liege. Um über diesen, keinesweges Scharfsinn, sondern den allenhöchsten Grad des Stumpfsinns verrathenden Skepticismus hinauszukommen, muss man aufs wenigste darüber mit sich einig werden, ob es überall Wahrheit gebe, ob sie erreichbar sey für den Menschen, und ob sie ein Gut sey.“ (ebd. S 553.554)

„ Mir ist, — nicht so gewiss, wie die Sonne am Himmel, oder dieses Gefühl meines eigenen Körpers, sondern unendlich gewisser, dass es Wahrheit, und dem Menschen zugängliche und von ihm klar zu begreifende Wahrheit gebe;“ (ebd. S 554)

Man warf Fichte „Unbescheidenheit“ vor (vgl. ebd. S 555), aber gerade dieser Vorwurf ist selbst höchst unbescheiden, weil er eine philosophische Deduktion selbst nur als „Meinung“ (vgl. ebd. S 556) darstellt; man gehöre doch nur einem kleinen Kreis an (vgl. ebd. S 557) und möge sich nicht so wichtig nehmen.

Offensichtlich schmerzte Fichte diese „totale Verkehrtheit des Zeitalters in Bezug auf Religion.“ (ebd. S 559)

„Ich müsste durchaus alle meine Worte an Ihnen verloren haben, wenn ich Ihnen nicht wenigstens so viel einleuchtend gemacht hätte, dass alle Irreligiosität auf der Oberfläche der Dinge und in dem leeren Scheine befangen bleibt, und eben darum einen Mangel an Kraft und Energie des Geistes voraussetzt, somit nothwendig Schwäche, des Kopfes sowohl als des Charakters, verräth;“ (ebd. S 559).

Der „Unverstand“, und die „unermessliche Ignoranz“ (ebd.), die „Superstition“ und der „Aberglaube“, die „Irreligiosität“ (ebd.) muss Fichte ungemein gestört haben!

„Also die Majorität des Zeitalters verachtet unbedingt die Religion. — Wie macht sie es denn nun möglich, diese Verachtung zur That und Aeusserung zu bringen? Greift sie die Religion an mit Vernunftgründen? Wie könnte sie, da sie von der Religion schlechthin gar nichts weiss? Oder etwa mit Spott? Wie könnten sie, da der Spott schlechthin irgend einen Begriff von dem Verspotteten voraussetzt, dergleichen diese doch durchaus nicht haben? Nein, sie sagen bloss wörtlich wieder,(…)“ (ebd. S 560)

Wie das Interesse Fichtes von ihm selbst schon als „praktisch“ bezeichnet wurde, so jetzt nochmals: „dass dies, religiöse Gesinnungen zu wecken, der eigentliche und wahre Zweck dieser Vorträge sey, hatte ich nun am Schlusse meiner Vorlesungen vom vorigen Winter, welche nunmehr auch zum Nachlesen, und zum Nachlesen für diesen Zweck, gedruckt sind, bestimmt ausgesprochen; (…)“ (ebd. S 561)

Fichte gibt dann eine seltsame Anspielung: Waren die AsL nicht eine Religionslehre nach den Prinzipien des transzendentalen Wissens und der Vernunft? Sind ihm hier selbst Zweifel gekommen an diesem reflexiven Religionsbegriff – und gibt es nicht noch eine höhere Instanz des Vernunftbegriffes, die den Verstand nochmals richtig einordnet und interpretiert?

„ (…) ebenso wie ich die Erläuterung hinzugefügt hatte, dass jene Vorlesungen nur eine Vorbereitung dieses Geschäfts seyen, dass wir in ihnen nur das Hauptsächlichste von der Sphäre der Verstandesreligion durchmessen hätten, die ganze Sphäre der Vernunftreligion aber unberührt geblieben sey.“ (ebd. S 561)

Verbirgt sich hinter einer „Vernunftreligion“ nicht noch eine höhere Evidenz als die durch Reflexion erreichte Erkenntnisleistung des Denkens von Moralität und Liebe?

Fichte geht dann auf die „Majorität“ (vgl. ebd. S 560f) der damals herrschenden Meinungen ein, wehrt sich gegen die Vorwürfe des „Lächerlichen“ (vgl. ebd. S 562f) dieses Gegenstandes, zerlegt die Anschauung des „sündigen Menschen“, der die Wahrheit und das Gute nicht erkennen könne, (vgl. ebd. S 564f) und spricht von der „Festigkeit des Charakters“ (ebd. S 565).

Mit diesen Vorträgen AsL wollte Fichte

„(…) zugleich das Mittel angegeben, sich über dieselbe gründlich hinwegzusetzen und sich von ihr auszuscheiden. Man schäme sich nur nicht weise zu seyn; sey man es auch allein, in einer Welt von Thoren. Was ihren Spott anbelangt, so habe man nur den Muth, nicht sogleich mitzulachen, sondern einen Augenblick ernsthaft zu bleiben, und das Ding ins Auge zu fassen: (…) (ebd. S 566).

Mit ähnlichen Worten wie Jesus bei der Aussendungen der JüngerInnen, sich nicht zu fürchten (vgl. Mt 10, 26) beschließt er die Vortragsreihe.

S 567 Beilage zur 6.Vorlesung

Fichte möchte nochmals aus Gründen der Klarheit und zwecks allgemeiner Verständlichkeit, zusätzlich zum damaligen mündlichen sechsten Vortrag, eine schriftliche Nachreichung machen zur Unterscheidung „historisch“ und „metaphysisch“: „(…) da ich bei dem grösseren Publicum, dem ich jetzt dieselbe im Druck vorlege, nicht ebenso, wie bei der Mehrzahl meiner unmittelbaren Zuhörer, voraussetzen darf, dass ihnen aus meinen übrigen Lehren jene Unterscheidung geläufig sey.“ (ebd. S 567)

Jesus Christus sei historisch die weitaus überragenste Person der Geschichte gewesen, weil er auf Anhieb die Realität und das Dasein Gottes in sich erkannte, ohne sich aber selbst als Gott selbstständig hervorzuheben und zu sehen. Er hatte die metaphysische Wahrheit, die Fichte in seinen AsL ausdrücken wollte, gelebt.

„Jesus von Nazareth hat die allerhöchste und den Grund aller anderen Wahrheiten enthaltende Erkenntniss von der absoluten Identität der Menschheit mit der Gottheit, in Absicht des eigentlichen Realen an der erstern, ohne Zweifel besessen. (ebd. S 569)

Im Unterschied zum spekulativen Philosophen, dem es nicht einfallen wird, „sich für etwas besonderes und ausgezeichnetes zu halte“ (ebd. S 570), hat er die metaphysische Wahrheit aber nicht durch Deduktion und Schluss auf etwas Allgemeines gefunden, sondern

„(…) Jesus hatte seine Erkenntniss weder durch eigne Speculation, noch durch Mittheilung von aussen, heisst: er hatte sie eben schlechthin durch sein blosses Daseyn; sie war ihm erstes und absolutes, ohne irgend ein anderes Glied, mit welchem sie zusammengehangen hätte; rein durch Inspiration, wie wir hinterher, und im Gegensatze mit unserer Erkenntniss, uns darüber ausdrücken; er selbst aber nicht einmal also sich | ausdrücken konnte. (ebd. S 571.572)

Jesus erklärte sich selbst nichts durch ein philosophisches Prinzip oder wollte nicht das philosophische Prinzip der Religion als Auflösung der Rätsel dieser Welt entwerfen, wie es der Philosoph trachtet zu tun, er hatte sein Wissen auch nicht „von aussen und Tradition“ (ebd. S 571), bei seiner Aufrichtigkeit hätte er das einbekannt (vgl. ebd.), sondern eben unmittelbar und ursprünglich. „ (…)Und zwar, welche Erkenntniss hatte er auf diese Weise? Dass alles Seyn nur in Gott gegründet sey: mithin, was da unmittelbar folgt, dass auch sein eignes Seyn mit dieser und in dieser Erkenntniss in Gott gegründet sey, und unmittelbar aus ihm hervorgehe.“(ebd. S 572)

Wir schließen vom Allgemeinen der Reflexion des Wissens, das sich in seinem Wahrheits- und Geltungsanspruch gegenüber dem Geltungsgrund des Daseins Gottes vernichten muss, um als solches gerechtfertigt und wahr sich begründen zu können, auf das Besondere des individuellen Ichs, das von Gottes Dasein und Liebe durchdrungen sein kann – wenn es diesen philosophischen Schluss mitvollzieht -, Jesus hingegen hatte das Allgemeine der göttlichen Erkenntnis unmittelbar, es war kein Schluss vom Allgemeinen zum Besonderen des Lebens, sondern das Besondere seines Lebens und seiner Existenz war bereits das Allgemeine des göttlichen, absoluten Seins.

„Da war kein zu vernichtendes geistiges, forschendes oder lernendes Selbst; denn erst in jener Erkenntniss war sein geistiges Selbst ihm aufgegangen. Sein Selbstbewusstseyn war unmittelbar die reine und absolute Vernunftwahrheit selber; seyend und gediegen, und blosses Factum des Bewusstseyns, keinesweges, wie bei uns andern allen, genetisch,(…)“ (ebd. S 572) „Er war die zu einem unmittelbaren Selbstbewusstseyn gewordene absolute Vernunft, oder was dasselbe bedeutet, Religion.“ (ebd.)

„3) In diesem absoluten Factum ruhte nun Jesus, und war in ihm aufgegangen; er konnte nie es anders denken, wissen oder sagen, als dass er eben wisse, dass es so sey, dass er es unmittelbar in Gott wisse, und dass er auch dies eben wisse, dass er es in Gott wisse. Ebensowenig konnte er seinen Jüngern eine andere Anweisung zur Seligkeit geben, ausser die, dass sie werden müssten wie Er: denn dass seine Weise, da zu seyn, beselige, wusste er an sich selber; anders aber, ausser an sich selbst, und als seine Weise, da zu seyn, kannte er das beseligende Leben gar nicht, und konnte es darum auch nicht anders bezeichnen.“ (ebd.)

Jesus schloss nicht aus dem Begriffe wie der Philosoph, sondern „lediglich aus seinem Selbstbewusstseyn.“ (ebd. S 573).

Jesus nahm die Tradition nur als historisches Wissen – und „nach seinem Beispiele“ (ebd.) sollen wir sein Beispiel deshalb auch (nur) historisch nehmen, aber nicht aus einer „inneren Nothwendigkeit in Gott“ . Wer apriorisch das Individuum Jesus Christus aus Gott ableitet, „der überfliegt das Factum und begehrt zu metaphysiciren das nur Historische.“ (ebd.)

„Für Jesus war eine solche Transscendenz schlechthin unmöglich; denn für diesen Behuf hätte er sich in seiner Persönlichkeit von Gott unterscheiden, und sich abgesondert hinstellen und sich über sich selber, als ein merkwürdiges Phänomen, verwundern und sich die Aufgabe stellen müssen, das Räthsel der Möglichkeit eines solchen Individuums zu lösen. Aber es ist ja der allerhervorspringendste, immer auf dieselbe Weise wiederkommende Zug im Charakter des Johanneischen Jesus, dass er von einer solchen Absonderung seiner Person von seinem Vater gar nichts wissen will, (…)“ (ebd. S 573)

„Ihm war nicht der Jesus Gott, denn einen selbstständigen Jesus gab er nicht zu; wohl aber war Gott Jesus, und erschien als Jesus.“(ebd)

© Franz Strasser, 25. 7. 2023

 

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser