Formale Logik und Philosophie – 1. Teil

1) In den EIGNE MEDITATIONEN FICHTES über ElementarPhilosophie, GA II, 3, 1793/94, fällt ganz am Anfang auf, dass FICHTE a) die formale Logik explizit in ihrer Begründung und Herleitung anspricht und problematisiert, sie aber b) zugleich auf ein höheres Verfahren der Entstehung zurückverweist, sodass die kantische Unterscheidung von Anschauung und Begriff eingeholt und in ihrer Genesis, aber auch notwendigen Unterscheidung, verstanden werden kann. 1

Das Verhältnis Logik und Philosophie hat dann FICHTE oft in seiner Lehrtätigkeit behandelt: Bereits in Jena in den Platner-Vorlesungen ab 1794, in Erlangen 1805 – und dann ausdrücklich nochmals SS 1812 und WS 1812 (v. 22.10 bis 18. 12. 1812) .2

Was die herkömmliche formale Logik vermissen lässt, das ist nach FICHTE die mangelnde Rechenschaft, was den logischen Begriff bildet, und was eigentlich Denken und Verstehen heißt.

Damit ist ein Thema angeschlagen, das bis heute das Problem der Herkunft logischer Sätze, die Frage nach Basissätzen, nach Axiomen, nach Begriffen, nach Wahrheitskriterien usw., beschäftigt. Letztlich geht es um die Frage nach der Einheit von Anschauung und Begriff. Die wahre Philosophie muss auch die Gegenstände des Denkens rekonstruieren können, d. h. wie kommt es zu den Anschauungen und intelligiblen Gegenständen der Logik? „Es geht Fichte um die Ausbildung einer neuen, lebendigen Seh- und Denkweise.“ 3  „Was der herkömmlichen Logik ermangelt und sie vom Status einer streng philosophischen Wissenschaft ausschließt, ist, dass sie sich keine Rechenschaft über das Zustandekommen der von ihr verwendeten Elemente wie „Begriff“, „Denken“, „Verstehen“ gibt.“ (Einleitung, fhs 4,1 von Hans Georg von Manz, S XIX)

Allein die WL begreift in der Einheit der Reflexivität des Ichs (der Ichheit) die Verbindung von Vorstellungselementen zu Begriffen, die Verbindung von Begriffen zu Urteilen, und die Verbindung von Urteilen zu Schlüssen.4 Anschauung und Begriff sind unabtrennlich miteinander verbunden.

1) Wie hat KANT das Problem der Einheit von Anschauung und Begriff gesehen und erklärt? Ohne viel Sekundärliteratur heranzuziehen, allein aus der Lektüre der KrV schöpfend, soll der dortige Begriff der „transzendentalen Logik“ in seiner Absicht durchschaut werden – natürlich mit Blick auf FICHTE, der die Einheit aus der höheren Erkenntnis der Erscheinung des Absoluten abgeleitet hat. Wie viele Kantinterpreten pendeln heute noch zwischen realistischer und idealistischer Erkenntnistheorie KANTS hin und her und legen in die KrV alles Mögliche an Materialismus und Idealismus hinein, weil sie KANT aus sich allein verstehen möchten und Fichte nicht kennen!

Entweder sie leugnen die implizite Einheit von Anschauung und Begriff, die KANT zwar nicht ausgeführt hat, aber voraussetzte, sodass ein dogmatische Realismus oder bodenloser Idealismus übrig bleibt, bestenfalls ein Skeptizismus, wie ihn S. MAIMON zur Zeit Kants schon vortrefflich expliziert hat, oder sie behaupten implizit doch eine Einheit einer Erkenntnis von Anschauung und Begriff, aber mit welcher Erklärung und Begründung? Diese Behauptungen fallen meist sehr dogmatisch aus, z. B. in trickreichen Erklärungen der Analytischen Philosophie, dass die Sprachspiele und Lebensformen, die Performativität und der Gebrauch der Wörter, die Bedeutungen erzeugen. Fragt sich  nur, wer sich für dieses andere, neu kreierte Bedeutungs-Wissen zuständig fühlt? Der Gedanke holt den Gebrauch nicht ein, und der Gebrauch ist nicht der Gedanke. 

KANT will ähnlich wie später FICHTE über die Handlungen der Vernunft Auskunft geben. Wie stellt die Vernunft  es an, Erkenntnis der Dinge zu erreichen, und in einem weiteren Sinne, Erfahrungen zu sammeln? Eine „transzendentale Logik“ als Teil einer „Transzendentalen Analytik“ soll nach KANT einerseits die Grenzen der Vernunfterkenntnis beachten, denn nur aus bloßen Begriffen kann keine objektiv gültige Wahrheit gewonnen werden – ausgeführt in der „transzendentalen Dialektik“, 2. Hauptteil der KrV – andererseits sind es genau die Begriffe, die die Erkenntnis ausmachen. Sie haben einen materialen und intentionalen Wert und Sinn. Dazu braucht es a) eine „Kritik“ des Erkenntnisvermögens, um nicht in voreilige Fehlschlüsse zu verfallen, also wiederum eine „Analytik“, dann aber b) eine Ausarbeitung eines Systems von Transzendentalphilosophie für die verschiedenen materialen Bereiche des Wissens.

KANT findet einen genialen Weg der Verbindung zwischen einer Analytik der Anschauung und einer Analytik des Denkens in Begriffen – mittels Schema und Schematisierung. Das Verfahren des Schematisierens ist eine Übertragung der Kategorien auf die Anschauungsformen. Es ist eine Verdeutlichung der Grundsätze des Verstandes und  leistet die Rechtfertigung der transzendentalen Erkenntnisart. Die Schematismen (Anwendungsbedingungen) beschreiben, wie einem Gegenstand begriffliche Quantität und Qualität zukommen, wie es ferner zu einer Erfahrung durch Relationsbegriffe kommt,  und wie schließlich alles der Modalität nach bestimmt wird als möglich, wirklich, zufällig oder notwendig. Diese Anwendungsbedingungen bei Kant bringen es zu einer formalen Ontologie sinnlicher und äußerer Gegenstände. Die Schematisierung der Kategorien auf diese sinnlichen Wirklichkeitsbereiche muss allerdings, blicken wir bereits auf Fichte, ein blindes Verfahren bleiben, weil die Kategorien in ihrer behaupteten Synthesis mit dem äußeren Gegenstand nur faktisch festgestellt sindund nicht selbst qua Vernunfterkenntnis und innerer Anschauung begriffen und verstanden werden. Nach Kants Ansicht bleiben  Anschauung und Verstand „ungleichartig“ – siehe z. B. KrV A50/B74 5und das wird zu erheblichen Konstitutionsproblemen führen.

Wenn, wie Kant sagt, „Die Schemate sind daher nichts als Zeitbestimmungen a priori nach Regeln, und diese gehen, nach der Ordnung der Kategorien, auf die Zeitreihe, den Zeitinhalt, die Zeitordnung, endlich den Zeitinbegriff in Ansehnung aller möglichen Gegenstände.“ (KrV B 184.185) – fragt sich  nur, woher kommen die den Schematen zugrundeliegenden Zeitbestimmungen? Wie werden sie erkannt?

Trotz mancher Unfertigkeiten in der Erkenntniskritik ist Kants Philosophie aber um vieles analytischer und zugleich synthetischer, dem Denken vom Sein der Antike entsprechend, als manche „Geist-Philosophie“ oder Kognitionswissenschaft oder Hirnforschung heutiger Tage. Dort werden Begriffe verwendet, die alles andere als schematisiert und abgeleitet sind.  (KANT begegnete solchen überheblichen Wissensansprüchen bereits zu seinen Lebzeiten (1796) mit dem ironischen Titel: „Von einem neuerdings vornehmen Ton in der Philosophie“, in „Berliner Monatszeitschriften, 1796, 387- 426.)

2) Eine „formale“ Logik (auch „allgemeine Logik“ bei Kant genannt) kann wenigstens einen „negativen Probierstein der Wahrheit“ (KrV B 85) liefern, insofern die Erkenntnisse nach den formalen Kriterien der Logik , d. h. nach den Regeln des Denkens, wahr sein müssen,  aber – so jetzt KANTS Anliegen und seine präventive Absicht –  a) um „materielle“ Wahrheit zu erreichen und b) doch vor falschen dialektischen Schein aus bloßen Begriffen zu warnen und die formale Logik als Werkzeug (Organon) synthetischer Urteile a priori zu missbrauchen, bedarf es der Schaffung einer  „transzendentalen Logik“ in Ergänzung und Vollendung der „transzendentalen Ästhetik“.

Die allgemeine Logik löset nun das ganze formale Geschäfte des Verstandes und der Vernunft in seine Elemente auf und stellt sie als Principien aller logischen Beurtheilung unserer Erkenntniß dar. Dieser Theil der Logik kann daher Analytik heißen und ist eben darum der wenigstens negative Probirstein der Wahrheit, indem man zuvörderst alle Erkenntniß ihrer Form nach an diesen Regeln prüfen und schätzen muß, ehe man sie selbst ihrem Inhalt nach untersucht, um auszumachen, |ob sie in Ansehung des Gegenstandes positive Wahrheit enthalten. Weil aber die bloße Form des Erkenntnisses, so sehr sie auch mit logischen Gesetzen übereinstimmen mag, noch lange nicht hinreicht, materielle (objective) Wahrheit dem Erkenntnisse darum auszumachen, so kann sich niemand bloß mit der Logik wagen, über Gegenstände zu urtheilen und irgend etwas zu behaupten, ohne von ihnen vorher gegründete Erkundigung außer der Logik eingezogen zu haben, um hernach bloß die Benutzung und die Verknüpfung derselben in einem zusammenhängenden Ganzen nach logischen Gesetzen zu versuchen, noch besser aber, sie lediglich darnach zu prüfen. Gleichwohl liegt so etwas Verleitendes in dem Besitze einer so scheinbaren Kunst, allen unseren Erkenntnissen die Form des Verstandes zu geben, ob man gleich in Ansehung des Inhalts derselben noch sehr leer und || arm sein mag, daß jene allgemeine Logik, die bloß ein Kanon zur Beurtheilung ist, gleichsam wie ein Organon zur wirklichen Hervorbringung, wenigstens zum°° Blendwerk von objectiven Behauptungen gebraucht und mithin in der That dadurch gemißbraucht worden. Die allgemeine Logik nun, als vermeintes Organon, heißt Dialektik.(KrV B 85.86) (Hervorhebungen von mir)

Es ist zu „erwarten“, dass es eine solche „Idee von einer Wissenschaft des reinen Verstandes und Vernunfterkenntnisses“ (d. h. der „transzendentalen Logik“, KrV B 82.) geben muss.

Es stellt sich hier eine gewisse Parallele und Ähnlichkeit zu Fichte ein, insofern sich in seinen Vorbereitungen zur Wl, von Fichte tituliert im SS 1812 „Vom Verhältniß der Logik zur wirklichen Philosophie, als ein Grundriß der Logik, und eine Einleitung in die Philosophie“ (=TL1) und im WS als „Vom Unterschiede zwischen der Logik und der Philosophie selbst, als Grundriß der Logik und Einleitung in die Philosophie“ (=TL2, in den SW zu finden), das Anliegen findet, die Verfahrensweise der Vernunft a) im anschaulichen und auch logifizierenden, begrifflichen Denken zu reflektieren und b) die Vernunft als ganze, in ihrer gesamten Reflexion des theoretischen Vorstellens wie praktischen Handelns und Wollens,  zu erkennen und zu begreifen, 6
c) was damit aber nicht sagen soll, dass die apriorischen Vernunftbedingungen des Erkennens, Wollens und Handelns von der konkreten „Erfahrung“ (analog zu Kant gesprochen) abstrahieren können und sollen, denn den apriorischen Prinzipien der Erkenntnis liegt aus Freiheitsgründen die konkrete Konkretheit aposteriorischer Erfahrung und Geschichte notwendig zugrunde. Die auszuarbeitenden Prinzipien der Erkenntnis führt nicht zu einer idealistischen Metaphysik oder idealistischen Dialektik, sondern zu apriorischen Begriffen  eines reflexiven Erkennens und Denkens – bei gleichzeitiger Unableitbarkeit der Hemmungen und Aufforderungen. Für dieses sowohl apriorische Erkennen wie riskant zu eröffnende Fragen nach konkreten Anwendungsbedingungen ist eine durchaus neue Sicht und Innovation altbekannter Begriffe notwendig.  KANT formuliert die Zukunft der „neuen“, perennistisch-alten wie innovativ-neuen Philosophie wie folgt:

Die Transscendental-Philosophie ist hier nur eine Idee, wozu die Kritik der reinen Vernunft den ganzen Plan architektonisch, d.i. aus Principien, entwerfen soll, mit völliger Gewährleistung der Vollständigkeit und Sicherheit aller Stücke, die dieses Gebäude ausmachen. (…..Zusatz in B). Daß diese Kritik nicht schon selbst Transscendental-Philosophie heißt, beruht lediglich darauf, daß sie, um ein vollständig System zu sein, auch eine ausführliche Analysis der ganzen menschlichen Erkenntniß a priori enthalten müßte.“ (A 14).  

Zur Kritik der reinen Vernunft gehört demnach alles, was die Transscendental-Philosophie ausmacht, und sie ist die vollständige Idee der Transscendental-Philosophie, aber diese Wissenschaft noch nicht selbst, weil sie in der Analysis nur so weit geht, als es zur vollständigen Beurtheilung der synthetischen Erkenntniß a priori erforderlich ist.“ (KrV, A 15)

Die transzendental zu findenden, apriorischen Erkenntnisbedingungen verlangen  beides, sowohl  die Analyse einer Ästhetik mit ihren apriorischen Anschauungsformen, wie die Analyse der Regeln eines inhaltlichen Denkens, einer inhaltlichen Logik, die füglich  „transzendentale  Logik“ genannt werden kann. Von Kant so formuliert:  

In der Erwartung also, daß es vielleicht Begriffe geben könne, die sich a priori auf Gegenstände beziehen mögen, nicht als reine oder sinnliche Anschauungen, sondern bloß als Handlungen des reinen Denkens, die mithin Begriffe, aber weder empirischen noch ästhetischen Ursprungs sind, so machen wir uns zum voraus die Idee von einer Wissenschaft des reinen Verstandes und Vernunfterkenntnisses, dadurch wir Gegenstände völlig a priori denken. Eine solche Wissenschaft, welche den Ursprung, den Umfang und die objective Gültigkeit solcher Erkenntnisse bestimmte, würde transscendentale Logik heißen müssen, weil sie es bloß mit den Gesetzen des Verstandes und der Vernunft zu thun hat, aber lediglich, sofern sie auf Gegenstände a priori bezogen | wird und nicht wie die allgemeine Logik auf die empirischen sowohl als reinen Vernunfterkenntnisse ohne Unterschied.“ (KrV B 81/82) (Hervorhebung von mir) (Oder siehe A 52; B 76ff sehr deutlich)

3) Mit den „Gesetzen des Vestandes und der Vernunft“ bin ich aber jetzt bereits bei Fichte angelangt, der mit wohlbekannten Spruch es so formulierte: Wir sind als Philosophen „nicht Gesetzgeber des menschlichen Geistes, sondern seine Historiographen“ (Über den Begriff, GA I/2, 107ff.; 147.). Kant habe das System der reinen Vernunft nur „angedeutet“, es aber weder „dargestellt“ noch „bewiesen“. (Brief an Niethammer vom 6. 12. 1793; GA III/2, 20 – zitier nach I. Radrizzani, Die Vergegenwärtigung, a. a. O., S 21.) 
Fichte erhebt jetzt den Anspruch, die in der Philosophiegeschichte da und dort genial schon gefassten apriorischen Erkenntnisprinzipien in der Einheit eines Prinzips zusammenzufassen und auseinander hervorgehen zu lassen.  
Im Wissensvollzug entdecken sich anschauliche Gesetze, Gesetze der Projektion und Objektivierung, Gesetze des Denkens und Bedingungen der Wissbarkeit, die aus einer genetischen Einheit hervorgehen und darauf wieder zurückgeführt werden können. Anschauung und Begriffe sind im Wesen eins. Ein Faktum der Anschauung ist immer schon logisch gebildet – und in jeder Anschauung und in jeder empirischen Beobachtung ist bereits eine apriorische Begrifflichkeit vorgegeben, damit es überhaupt zu einer Erfahrung oder einer Erkenntnis eines Gegenstandes, d. h. zu einer Evidenz,  kommen kann. Logischer Begriff und  Anschauung entspringen einer gemeinsamen Quelle der Einheit der Vernunft. Philosophie will diese Denkgesetze rekonstruieren und analytisch in der Vorstellung erklären, ferner  synthetisch auf die Anschauung übertragen und praktische Klarheit in die Lebensvollzüge bringen. Die logischen Begriffe, die den Aufbau der Erfahrung und der Gegenstände der Erfahrung ermöglichen, d. h. in dem Sinne, dass sie überhaupt die Evidenz erst erzeugen, sind nicht separiert als „transzendentale Logik“ neben die Anschauungsformen gestellt, sondern der Vernunftvollzug als Ganzer bringt die Gesetze der Anschauung wie der Logik hervor.  

Es ist psychologisch wohl richtig gedeutet: Kant hatte wohl Bedenken gegen eine bloß begriffliche Philosophie, die von synthetischen Erkenntnissen a priori schwärmt, dabei aber die anschauliche und materiale Basis ihrer Begründung vergisst. (Siehe Zitat oben „(…)Blendwerk von objectiven Behauptungen gebraucht und mithin in der That dadurch gemißbraucht worden. (…)  KrV B 85.86)  Deshalb sah er sich genötigt, einen notwendigen Rahmen einer „transzendentalen Logik“ zur „transzendentalen Ästhetik“ beizufügen.
Diese Vernunftskepsis ist nach Fichte aber unbegründet, denn weder fungiert die Vernunft außerhalb der Gesetzlichkeit der Einbildungskraft d. h. wenn sie sich dementsprechend wahrheitsgetreu und gewissenhaft gebunden weiß, noch ist die Einbildungskraft unlogisch, was gänzlich absurd wäre.  

Prof. R. Lauth hat den Zusammenhang und den Unterschied zwischen Kant und Fichte oft herausgestellt: „Fichtes grundsätzliche Kritik an Kants durch die Grundsätze des Verstandes bestimmten Ontologie, als Wissenschaft von den äußeren Gegenständen überhaupt, hebt mit der Bemerkung an, dass Kant, indem er nur eine Kritik, kein System der Vernunft lieferte, nur bei den apriorischen Voraussetzungen in bestimmten Bereichen des Geistes ansetzen konnte.“7

Fichte sagt es so: “Kant, der die Kategorien ursprünglich als Denkformen erzeugt werden läßt, und der von seinem Gesichtspunkte (cf. der Kritik] aus daran völlig Recht hat, bedarf der durch die Einbildungskraft entworfnen Schemate, um ihre Anwendung auf Objekte möglich zu machen” (“Grundriß des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre”, Akad.-Ausg. 1,3,189). “In der Wissenschaftslehre (cf. als einem System der Vernunft] entstehen sie [sc. die Kategorien] mit den Objekten zugleich und um dieselben erst möglich zu machen, auf dem Boden der Einbildungskraft selbst.” (ebd.)

4) KANT nimmt nolens volens  immer in einen unreflektierten, dogmatischen Standpunkt ein, weil er von vornherein stets eine Disjunktion mitschleppt zwischen einem Subjekt, das in objektkonstitutiver Form sämtliche synthetischen Akte a priori zu setzen vermag, aber die Bestätigung und Legitimation der apriorischen Erkenntnisart muss außerhalb des Subjekts in der sinnlichen Anschauung liegen.

Das „transzendentale Schema“ einer „reinen Synthesis gemäß einer Regel der Einheit nach Begriffen überhaupt, die die Kategorie ausdrückt (…)“ (Schlussteil des Schematismuskapitels, KrV B 181) – ist genial erkannt, aber es fehlt diesem Schema die intellektuelle Anschauung und Begründung, wie und warum das Denken seine Begriffe auf die Anschauung apponiert. 

Nach Kant sieht es  so aus: Die Mannigfaltigkeit der Eindrücke strömt von außen an das „Ich denke“ heran und nachträglich bestimmt und verbindet das „Ich denke“  diese Mannigfaltigkeit zu einer angeschauten und begrifflich verstandenen Einheit. KANT ist zwar  immer nahe dran – siehe z. B.  den Abschnitte im Schematismuskapitel über die „figürliche Synthesis“, die die „Sukzession“ der Zeit sogar hervorbringt! (KrV B 154.155) -, die Mannigfaltigkeit im Sehen selbst hervorgehen zu lassen, restringiert aber im entscheidenden Augenblick die Gültigkeit des apriorischen Vernunftgebrauchs auf die Gegenstände der sinnlichen Erfahrung und appliziert schematisch (unerkannt, faktisch) die Begriffe auf die Anschauungsformen. Er verspielt aber somit eine Realisierung der apriorischen Begriffe in der konkreten Anschauung, d. h.  in der Konkretionsgenesis einer Einheit von Denken und Anschauung.  

5) FICHTE geht nicht nur reduktiv-analytisch vor wie Kant, sondern methodisch sowohl reduktiv-analytisch wie prospektiv-synthetisch, d. h. in und aus Vernunft wird sowohl eine anschauliche wie eine  selbstreflexiv-begriffliche Denkform entwickelt, die damit sowohl die Anschauungsformen wie die Kategorien und die reflexiven Ideen (die Umkehrung der Kategorien) erzeugt. Die Gesetze der Ästhetik und der Logik sind nicht voneinander separiert, sondern  entspringen transzendental den Gesetzen des Setzens und Bildens der Vernunft überhaupt. Welcher Gedankengang ihn dabei leitete, lässt sich bereits aus einer sehr frühen Stelle 1793 dartun, aus einer Stelle eines Entwurfs zur Rezension von Schulzes “Aenesidemus”: 

Giebt […] das Ich sich selbst ein Gesez (der unbedingten Nothwendigkeit) in sofern es Intelligenz ist; so ist es ein autonomes Wesen; u. wenn man von seiner Bindung, daraus es Intelligenz, ein Nicht-Ich vorstellendes ist, abstrahirt, u. es in der intellectuellen Anschauung sich selbst darstellend ansieht, so entsteht dadurch ein absolutes Gesez der absoluten Selbstbestimmung, welche, wenn sie auf etwas bezogen wird, das nicht schlechthin durch uns selbst bestimmt, u. dargestellt wird, ein Trieb […] seyn wird, jenes nicht ganz von uns Abhängige abhängig von uns, u. mit unsrer wesentlichen Bestimmung übereinstimmend zu machen.” (GA II, 2, 295)“ 8

Man merkt sofort, nach der intensiven  Kantlektüre Fichtes in Leipzig 1792/93: Die kantische Frage nach der Möglichkeit und Berechtigung synthetischer Urteile a priori hat eine völlig neue Ausgangssituation gefunden, denn es stellt sich die tiefergehende Frage a) nach den Bedingung der Wissbarkeit überhaupt, also inklusiv aller Denkakte und Anschauungsformen; ferner geht es um die in der Philosophiegeschichte immer wieder aufgeworfene Frage b) ob und wie eine Zurückführung der Erkenntnis auf ein absolutes Prinzip möglich sei, d. h. was unbedingt sein soll und wahr ist; schließlich c) insofern es aber weiterhin eine Unterscheidung zwischen Anschauung und Begriff geben wird und notwendig (aus Freiheitsgründen) geben muss, bekommt die unüberbrückbare Diskursivität bei Kant eine andere Erklärung, d. h.  sie hat den Sinn einer „Hemmung“ bzw. interpersonalen Aufforderung, die sich als Trieb äußert.  Es heißt hier 1793 noch, dass der Trieb „übereinstimmend“ gemacht werden soll, was vielleicht negativ oder moralisch konnotiert klingt, als müsse ein sinnliches Begehren instrumentalisiert werden, aber es ist als begriffliches Postulat zu verstehen, dass in der Triebbestimmtheit ebenfalls die unbedingte Einheit und die Bedingung der Möglichkeit der Selbstbestimmung der Freiheit gefunden werden kann. Die Hemmung oder die  Aufforderung  hat einen intelligiblen Gehalt gefunden, wodurch Fichte sowohl im praktischen Bereich des sittlichen Wollens erhebliche Widersprüche erspart bleiben, die sich noch bei Kant finden, als auch im theoretischen Bereich ihm eine Einheit in der Vorstellung gelingt. Der Vorstellungstrieb wird immer befriedigt. (Siehe Ableitung der Vorstellung  in der GWL § 4). 9

Anders ausgedrückt: Nach FICHTE kann nichts vorausgesetzt werden, was nicht im reflexiven Wissen selbst gesetzt ist, d.h. transzendental im Wissen um seine Entstehung gebildet ist. Wie könnte es bloß  formale, logische Regeln des Denkens geben ohne Rechtfertigung ihrer Entstehung nach den Gesetzen der Vorstellung und der Anschauung?  Oder wie könnte es eine reine sinnliche Anschauung geben, getrennt vom begrifflichen Erkennen? Der Begriff und die Anschauung werden im Schweben der Einbildungskraft vereint. Der Schematismus der Anwendung von Begriffen auf die Anschauungsformen – analog zu Kant gesprochen – ist erweitert zu einem totalen „Schematismus“ einer ganzheitlichen Vernunftidee des Sich-Setzens und Sich-Wissens. Die aposteriorische Seite des Erkennens ist nur die Kehrseite der apriorischen Seite und umgekehrt bestätigt sich die apriorische Seite in der aposteriorischen Erfahrung.

Wenn die Vernunft sich selbst richtig versteht, d. h. wenn Philosophie Erkenntnis der Prinzipien der Wirklichkeit im Ganzen und deren Darstellung sein will, so ist ihr Verfahren analytisch zu erkennen und zu begründen in einem aufsteigenden Verfahren – und schließlich synthetisch zu verstehen in einem absteigenden Verfahren. Dies führt zu einem zusammenhängenden Ganzen einer Abstraktion wie Konkretion, sodass die Evidenzformen der Erkenntnis sowohl im begrifflich-logischen Zurückgehen auf ein absolutes Prinzip, wie im anschaulichen und lebendigen Hervorgehen einer Genesis von Grund und Folge in der Konkretion gefunden werden können,  beides in integraler Einheit, analytischer Aufstieg und synthetischer „Abstieg“, der aus Gründen der Freiheit ebenfalls ein Aufstieg bleiben muss. Philosophie ist kritische Erkenntnistheorie wie bei KANT, aber nicht nur „Kritik“, sondern erkenntniskritische, vernünftige Durchdringung der Wirklichkeit im Ganzen, den Prinzipien nach – und eröffnet zu einem fünffachen System des konkreten Erkennens.  

Die GRUNDLAGE von 1794/95 bringt es auf den Begriff: Ausgegangen wird vom Schweben der Einbildungskraft. Dessen Produkt wird in und aus der Vernunft apriorisch-systematisch bestimmt.  Die Empfindung oder Hemmung (oder Anstoß) wird zum Gefühl in der Wahrnehmung, die Wahrnehmung durch das Verstandesdenken zur Erfahrung, und die Erfahrung in ihrer ganzen Reflexibilität des Sich-Wissens und Sich-Bildens in ihren wesentlichen Erkenntnisbegriffen übergeführt zur Fünffachheit eines empirischen und vernünftigen und geschichtlichen und evidenten Sinn-Wissen. Die kategoriale Zeitbestimmung – bisweilen auch transzendentale Zeitbestimmung genannt – beginnt transzendentallogisch nicht mit der Quantität (wie bei KANT), sondern mit der Qualität. Weiters sind die kategorialen Bestimmungen a) systematisch geordnet und stehen b) untereinander in einer höheren systematischen Ordnung durch die Reflexionsideen des Zweckbegriffes und der Relation zwischen Erscheinung des göttlichen Seins und der existentiellen Wirklichkeitsform selbstbestimmender Freiheit.

5) Die Problematisierung und Begründung der logischen Regeln – der „formalen“ oder „allgemeinen“ Logik nach KANT – wird einige Male bereits in den EIGNEN MEDITATIONEN von 1793 und in der weiterführenden PRACTISCHEN PHILOSOPHIE (Frühjahr 1794) angesprochen. „Logik der Elementarphilosophie. Ihr Begrif. Es kann gewiße GrundRegeln, allgemeine Regeln geben, die bei allem, was im Gemüthe vorgeht, vorkommen.“ (EIGNE MEDITATIONEN, GA II, 3, S 21). 2. Überschrift, aber deutlich nachgereiht hinter dem höheren Deduktionsgrund der Einheit des Wissens) Logische Regeln.

Die Philosophie muss sich hypothetisch zwar der allgemeinen formalen Logik und ihrer Regeln bedienen, d. h. hypothetisch ihre Gültigkeit voraussetzen, aber die zu begründende Erscheinungssubjektivität und Erscheinungsobjektivität muss in ihrer Ursächlichkeit der Vorstellung abgeleitet werden können, d. h. muss in und aus der Einheit der Vernunft und als selbstständige Vorstellung abgeleitet werden.

NB. Die Logik überhaupt ist selbst etwas im menschl. Geiste.“ (ebd. S 22) (sc. Der Sternchenvermerk ist wahrscheinlich etwas später hinzugefügt, bei der schriftlichen Korrektur oder beim mündlichen Vortrag. Er verdeutlicht die Charakteristik der formalen Logik als abzuleitende, intelligible, faktische Wesensgesetzlichkeit der Anschauung bzw. der Vorstellung.)

Die Logik ist schon eine angewandte Wesenslehre. Ihr Objekt ist eine Abstraction vom möglichen Objekte des Denkens. Sie betrachtet die Formen des Geistes in ihrer höchsten Allgemeinheit. – (sc. Gedankenstrich – „hingegen“) Bedarf es für die Elementarphilosophie einer besonderen (…) (ebd.)

M. a. W.: Fichte geht, wie es in der Philosophiegeschichte lange Zeit sowieso gegolten hat, von einem inhaltlichen Verständnis der Logik aus, d. h. dass der Begriff das Wesen einer Sache oder eines Sachverhaltes beschreibt. Eine nachgeschobene, inhaltliche „transzendentale“  Logik erübrigt sich. (Deshalb ist der von seinem Sohn Immanuel Fichte herausgegebene Titel der Vorlesungen „Transzendentale Logik“ etwas irreführend.)

2.) Sie (sc. die Logik) bedarf nur gewißer Erinnerungen, die aus ihrem Objekte folgen.“ (ebd. S 22)

Schon rein textlich wird der Vorrang des Ich-Begriffes vor den logischen Regeln des Verstandes in der „ElementarPhilosophie“ behauptet (ebd. S 22) – ehe dann ausführlicher auf den Zirkel der Selbstsetzung des Ichs nach logischen Regeln eingegangen wird. (ebd. S 23 – 26)

Gewiße Vorgänge in unserer Seele, die den Regeln unseres Geistes nach, (der vorgeschriebnen Methode nach, wie das geschieht) auf Begriffe gebracht, u. in Sätzen enarrirt werden.“ (ebd. S23)

Die Vorgänge der Logik sind hier gnoseologische, intelligible Vorgänge in unserer Seele.  Das klingt noch reichlich psychologisch, introspektiv – es ist ja erst der Anfang der Wissenschaftslehre -, aber eine gnoseologisch-ontologische Gültigkeit der Logik, wie seit jeher angenommen, ist wieder angestrebt.  Da nichts außerhalb des Wissens gesetzt sein kann, sondern nur im Ich und durch das Ich (in der Icheinheit), muss es sowohl einen realen Gehalt/Stoff der logischen Regeln und Gesetze geben, eine distinctio realis, als auch eine distinctio rationalis. Die logischen Regeln sind in der Vorstellung beides, distinctio realis und distinctio rationalis, bildlicher Begriff eines intelligiblen Seins und Bild des Bildes dieses realen Seins.  

6) Die Transzendentalphilosophie hat hier einen wesentlichen Schritt nach vorne gemacht und ihren rekursiven, analytischen  Erkenntnisprozess abgeschlossen:  Nicht nur, dass gefragt wird,  was sind die erkenntniskritischen Bedingungen der Möglichkeit (sinnlicher) Erfahrung, sondern was sind die Wissensbedingungen der eigenen Reflexivität, die Bedingungen der Möglichkeit jeglichen Wissens d. h. des Denkens von Sein. Die Möglichkeitsbedingungen der Erkenntnis, die nach KANT intuitiv richtig gefordert „(…) zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung“ (KrV B 158) selbst sind,  sind Wissensbedingungen eines unbedingten Geltungsgrundes innerhalb einer unbedingten Geltungsform der eigenen Reflexivität. 

FICHTE geht dabei in vielen Schriften so vor – z. B. am Beginn der Wlnm (1796-1799): Denke dein Ich, beobachte dich und was geht dabei in dir vor.  Es ist die intellektuelle Anschauung, die die Regeln und Gesetze des Geistes intuiert und intelligiert und im konkreten Vollzug bewährt.

Nach der anfänglichen Klarstellung, was den logischen Regeln des Denkens vorausgehen muss, nämlich eine Wissenseinheit, d. h. ein Ich-Begriff und eine Ich-Reflexibilität, kehrt FICHTE zur „ElementarPhilosophie selbst“ (ebd. S 26ff) zurück.

Der erste Saz ist der des „Ich“ (ebd. S 26)

Es folgt ab § 2 und §3 ff der EIGNEN MEDITATIONEN eine Neubegründung großer philosophischer Begriffe – und dies in systematischer Form.

FICHTE erkennt, dass einerseits a) eine theoretische Synthesis der Gegensatzglieder in der Anschauung bis zu einem gewissen Punkt möglich ist (durch das Schweben der ursprünglich produzierenden Einbildungskraft), b) doch dies verlangt von sich her eine Begründung, warum transzendental notwendig die Gegensatzglieder Ich und Nicht-Ich in der Vorstellung vereint sein sollen – und wie und warum im praktischen Vollzug ins Unendliche hinaus das nur realisiert werden kann.

So führt das heuristische Suchen und Fragen von selbst zur „PRACTISCHE PHILOSOPHIE“ (ebd. S 181ff). Warum setzt die Selbstsetzung des Ichs die Gegensatzglieder Ich und Nicht-Ich, warum Einheit und Spaltung in Mannigfaltigkeit, und warum erfolgt die Selbstsetzung und Teilbarkeitssetzung von Ich und Nicht-Ich gemäß der logischen Regeln? Die höher als die transzendentale Logik KANTS steigende Erklärung lautet: Zwecks Erklärung und Ermöglichung eines freien Übergehens bedient sich das Bewusstsein logischer Regeln, bedient sich m. a. W., der Kategorien und der höheren Reflexionsideen und des Zweckbegriffes, um ein selbstständiges und wahrheitsgetreues Bild und Abbild der Wirklichkeit zu schaffen zwecks Selbstbezug von Freiheit.

Das Referenzprinzip der „Erfahrung“ einerseits, und das Problemprinzip der transzendentalen Erkenntnisart andererseits, um die beiden Referenzpunkte bei KANT so zu benennen,  müssen nicht erst nachträglich in einer transzendentalen Apperzeption des „Ich denke“ synthetisiert werden,  sie sind schon formal in der Vorstellung und material in den sinnlichen und sittlichen Erfahrungen (in der praktischen Vernunft) vereint, sind schon ein  Reflex des gesetzhaften Bildens. Nachträglich kann dieses materiale Synthesis der Erfahrung analysiert und rekonstruiert werden. (Fichte nennt das einmal die „ursprüngliche Erklärung“ und die philosophische Erklärung ist die nachträgliche ‚Erklärung’,  die „wissenschaftliche Erklärung“.)

7) K. L. REINHOLD meinte, die Vorstellung sei die Basis des Wissens. Alles sei in der Vorstellung begründet und eingeschlossen. Sicherlich logisch richtig, aber worin gründet dieses Gesetztsein von Vorstellendem und Vorgestellten? Was begründet das vorstellende Vorstellen (=V1) eines Vorgestellten (=V2) als gewusstes Vorgestelltes bzw. wissendes Vorstellen (=V3) in einer Einheit?

Es hat den Anschein, als seien diese in der Vorstellung enthaltenen Relationen (in der modernen Logik spricht man von zweistellig und dreistellig) wiederum bloß vorgestellt und wiederum bloß ein sekundärreflexives Verhältnis von Vorstellendem und Vorgestellten – ohne den Disjunktionsgrund ihrer Unterschiedenheit und ihrer Beziehung angeben zu können.  Es kann aber nicht ein blindes Ich im Vorstellenden des Vorgestellten gesetzt sein ohne Sich-Wissen dieser Vorstellung! Wenn es kein Sich-Wissen des Ichs gäbe, gäbe es nur eine blinde Reflexion, das im unendlichen Regress sich vorstellt, aber im Zurückkommen auf sich selbst bereits einen neuen Denkakt ansetzen muss und nie den Anfang seines Setzens erreichen kann.

Ein vorreflexives Ich, dass sich erst dank mehrstelliger Logik (oder überhaupt dank Logik) als Ich finden müsste, ist per se ein Widerspruch, denn es könnte sekundärreflexiv oder logisch seine Reflexion nie fassen, wenn es nicht apriorisch von vornherein schon weiß, was die Identität seiner selbst ist und was „Ich“ meint und was späterhin „Logik“ heißt und Widerspruch und Satz vom Grunde. Entweder ist die Relation V1 zu V2 primär und apriorisch gewusst in V3, oder sie wird überhaupt nicht und zeitlich nie gewusst. Die Logik alleine vermag aber nicht genetisch oder faktisch oder nachträglich die Identität des Ichs in einer Tatsache des Bewusstseins zu erzeugen – das ergäbe immer höher liegendere Meta-Tatsachen – sondern die Selbstsetzung des Ichs  – „Tathandlung“ – schafft Identität, schafft formale und materiale Synthesis. Die Logik selber ist ein Teil-Produkt innerhalb der Reflexion des Sich-Wissens.

Ein vorstellendes Wissen V1 und vorgestelltes Wissen V2 können nur als solche V3 gewusst werden, wenn sie synthetisch so gedacht werden, dass V1 und V2 einerseits identisch und zugleich begrifflich verschieden sind. Synthetisch werden sie nicht erst identisch gesetzt, sie sind schon identisch – und verschieden sind sie ebenfalls gesetzt im ursprünglichen Setzungsakt. Sowohl das Identisch-Sein ist ein abgeleiteter, logischer Ausdruck wie das Verschieden- oder Widersprechend-Sein ein abgeleiteter, logischer Ausdruck. Beide sind aus Thesis und Antithesis abgeleitete, synthetische Ausdrücke.
M. a. W. Die Identität und der Widerspruch gründen in einer immer schon begrifflichen Anschauung. Im Begriff ist einerseits die Unterscheidung (der Widerspruch) gesetzt und in der Anschauung andererseits die Identität – und beide werden zusammengehalten im Schweben der Einbildungskraft und zu einer Synthesis verbunden.

8) Das Verfahren nach den Grundprinzipien von Identität und Widerspruch ist exzessiv in den vielen WLn durchexerziert – eben, weil die Synthesis ihrer analysierenden, rekursiv gewonnenen  Auflösungsbedingungen immer schon mitgesetzt gedacht werden muss. M. a. W., es handelt sich im Gesetz der Identität oder des Widerspruchs nicht in erster Linie um formale Synthesen der Mathematik oder Funktions-Gleichungen oder numerische Verschiedenheiten, sondern sie sind als Wesensbestimmungen aus dem Wesen des setzenden Ichs (des Sich-Wissens, der Reflexivität) gesetzt – und können als logische Vorstellungsgesetze in Selbstständigkeit abstrahiert werden, als formale Anschauungen der Mathematik und formalen Logik wie z. B. als Widerspruchsprinzip. 

Die Widersprüche sind bezogen auf die Anschauung, die ideell und begrifflich bestimmt ist – wie bei PLATON – und umgekehrt bewähren sich die logischen Denkbestimmungen in den realen Anschauungen und realen Konkretionen. Das Widerspruchsprinzip und das Identitätsprinzip sind Vorstellungsgesetze, die Gegensätze zwischen Ich und Nicht-Ich so weit zu zerlegen, bis die Lösungsbedingungen der Aufgabe – Ich und Nicht-Ich in der Vorstellung (in einem „niedrigen“ Begriff)   vereint werden können, in einer evidenten Intuition und Intellektion. Der Vorstellungstrieb kann dank logischer Gesetze bis zur vollständigen Bestimmung eines Gegenstandes deshalb immer erfüllt werden.   

Die Logik begründet nicht die Erkenntnis, vermittelt oder erzeugt nicht selbst die Evidenz, sie vermittelt auch nicht zwischen apriorischen Begriffen und empirischer Anschauung  in der Form einer materialen, „transzendentalen Logik“, sondern ist eine Form des Denkens, eine verobjektivierte Struktur des Schwebens der ursprünglich produzierenden, schwebende Einbildungskraft. 

9) Weil ich oben fragte, ob sich eine Parallele zwischen KANT und FICHTE hinsichtlich der „transzendentalen Logik“ einstellt? Der Form nach nein, denn die „Transzendentale Logik“ FICHTES ist kein Mittelding zwischen apriorischer Erkenntnis und sinnlicher Erfahrung, vielmehr ist alle Erfahrung, intelligible wie sinnliche Erfahrung, eine aus dem apriorischen Wissen strukturierte,  begriffliche Anschauung.

Eine Ähnlichkeit Fichtes mit Kants Anliegen kann aber festgestellt werden: Philosophie ist kreative Vernunft-Kunst, ein Nachkonstruieren der ursprünglichen Gesetze des Bewusstseins, wie es zu Vorstellungen z. B. von empirischen Begriffen oder logischen Begriffen kommt. Mit Kant gesprochen, die Logik hat materialen und intentionalen Gehalt.  

Anders gesagt: FICHTE führt  das transzendental-logische Anliegen KANTS weiter, problematisiert es, um es in dessen Absicht aufzugreifen, und vollendet es in eigener Weise: Die transzendentalen Denkgesetze der transzendentalen Ästhetik und transzendentalen Logik haben intentionale, materiale Gültigkeit für alle gemachte Erfahrung,  weil sie a) als Gesetze der ursprünglich produzierenden und schwebenden Einbildungskraft die Vernunft in ihrem Effekte darstellen und b)  weil sie höhererseits bedingt sind durch praktische Momente (des Wollens und Handelns) einer inhaltlichen Synthesis der Vernunft.  

© Franz Strasser, Nov. 2015

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1C. ASMUTH nannte es: „Von  der Urteilstheorie zur Bewusstseinstheorie. Von der Entgrenzung der Transzendentalphilosophie.“ In. Fichte-Studien, Kant und Fichte – Fichte und Kant, Bd. 33, Amsterdam 2009, 221-249.

2Die im Sommersemester 1812 gehaltene Vorlesung „Vom Verhältniß der Logik zur wirklichen Philosophie“ wird erstmals in der GA II, Bd. 14 der Forschung zugänglich gemacht. Klappentext aus GA II, Bd. 14: Die im Sommersemester 1812 gehaltene Vorlesung ›Vom Verhältniß der Logik zur wirklichen Philosophie‹ wird erstmals veröffentlicht. Sie analysiert das empirische Begreifen, zeigt den Vorrang der transzendentalen Logik gegenüber der formallogischen Konzeption des Denkens. Diesen Gedankengang führt die schon bekannte transzendentale Logik ›Vom Unterschiede zwischen der Logik und der Philosophie selbst‹ (WS 1812/13) fort, begreift den Begriff und die Anschauung und deduziert den Raum. Dieses wissenschaftliche Hauptwerk aus der Spätzeit Fichtes wird hier in stark verbesserter Form vorgelegt. Die Einleitungsvorlesung ›Vom Studium der Philosophie überhaupt‹ (WS 1812/13) erläutert neben den Bedingungen für das Verstehen der Wissenschaftslehre auch das Vorgehen Fichtes in den ›Transzendentalen Logiken‹.“ Herausgegeben von Erich Fuchs, Reinhard Lauth, Hans Georg von Manz, Ives Radrizzani, Peter K. Schneider, Martin Siegel und Günter Zöller.

Genauer Titel nach den SÄMMTLICHEN WERKEN Bd. IX. „Ueber das Verhältnis der Logik zur Philosophie oder transzendentale Logik. Gehalten von Michaeli bis Weihnachten 1812.“ Nach der GA muss diese von seinem Sohn herausgegebene Schrift genauer als „Logik – II“ bezeichnet werden, insofern die erste Vorlesungsreihe [„Logik – I] schon von 20. 4. – 14. 8. 1812 gehalten wurde. Die zweite Vorlesung „Logik – II“ wurde von seinem Sohn in den SW IX, 103-400, unter diesem angegebenen Titel, veröffentlicht. Der genaue Titel: „Vom Verhältniß der Logik zur wirklichen Philosophie, als ein Grundriß der Logik“. Ich zitiere nach Studientexte fhs 4, 1 oder nach SW, abk.=LOGIK, SW IX, 103 – 400 .

3Hans Georg von Manz, Fichtes Theorie des Begriffs und der Empirie in der „Transzendentalen Logik I“. In: Fichte-Studien, Bd. 45, S 49.

4Vgl. Hans Georg v. Manz, ebd. S 53.

5Nun sind aber reine Verstandesbegriffe in Vergleichung mit empirischen (ja überhaupt sinnlichen) Anschauungen ganz ungleichartig und können niemals in irgend einer Anschauung angetroffen werden. Wie ist nun die Subsumtion der letzteren unter die erste, mithin die Anwendung der Kategorie auf Erscheinungen möglich, da doch niemand sagen wird: diese, z.B. die Causalität, könne auch durch Sinne an|geschauet werden und sei in der || Erscheinung enthalten?“ (KrV, B 176.177 u. a.)

6Vgl. Programm bei KANT und seine Definition der Vernunft: „Man sieht leicht: daß die reine Vernunft nichts anders zur Absicht habe, als die absolute Totalität der Synthesis auf der Seite der Bedingungen […]. Denn nur allein jener bedarf sie, um die ganze Reihe der Bedingungen vorauszusetzen, und sie dadurch dem Verstande a priori zu geben.“ KrV 1781, S 336.

Ebenda, 3. Aufl. (Riga 1790), S. 23: „Auch kann diese Wissenschaft nicht von großer abschreckender Weitläuftigkeit seyn, weil sie es nicht mit Objecten der Vernunft, deren Mannigfaltigkeit unendlich ist, sondern es bloß mit sich selbst, mit Aufgaben, die ganz aus ihrem Schoße entspringen, und ihr nicht durch die Natur der Dinge, die von ihr unterschieden sind, sondern durch ihre eigene vorgelegt sind, zu thun hat; da es denn, wenn sie zuvor ihr eigen Vermögen in Ansehung der Gegenstände, die ihr in der Erfahrung vorkommen mögen, vollständig hat kennen lernen, leicht werden muß, den Umfang und die Grenzen ihręs über alle Erfahrungsgrenzen versuchten Gebrauchs vollständig und sicher zu bestimmen.“

7R. Lauth, Kants Lehre von den „Grundsätzen des Verstandes“ und Fichtes grundsätzliche Kritik derselben, in: Transzendentale Entwicklungslinien von Descartes bis zu Marx und Dostojewski, Meiner Verlag, Hamburg 1989, 111 – 124, 118.

8R. Lauth, Kants Kritik der Vernunft und Fichtes ursprüngliche Einsicht, in: Transzendentale Entwicklungslinien von Descartes bis zu Marx und Dostojewski, Meiner Verlag, Hamburg 1989, 140 – 153, 143.

9Nach der Wlnm bekommt der philosophiehistorische Begriff der „synthetischen Urteile a priori“ nach KANT bei FICHTE einen ganz anderen Sinn – und kann insofern konzediert historisch noch beibehalten werden. „Synthetische Urteile a priori“  sind die praktischen Urteile des Willens, wie er von der Selbstbeschränkung übergeht zur sinnlichen Bestimmung, d. h. wie ein reiner und ein gehemmter empirischer Wille synthetisch wird in der Mannigfaltigkeit des Wollens.  Siehe dazu ein Stelle aus Wlnm: Es heißt dort (Wlnm, GA IV, 2) dass der reine Wille  das Objekt der Mannigfaltigkeit ermöglicht haben muss: Auf die Begränztheit wird der Wille bezogen, und in Beziehung auf diese Beschränktheit wird der Wille selbst ein Mannigfaltiges – in dieser Beziehung besteht die Reflexion.“ (ebd. S 159) Hier fehlt in gewissem Sinne noch das Mittelstück, dass die Erscheinung des Wollens selbst durch die Erscheinung des göttlichen Seins (als 1. Reflex) ermöglicht sein muss. Die tätige Reflexion ist in Bezug auf die Erscheinung überhaupt gebunden in der Begrenzung des reinen Willens, d. h. gebunden in der Freiheit nach einem Gesetz, aber frei in Bezug auf die Mannigfaltigkeit anderer Personen und in Bezug auf die Mannigfaltigkeit intelligibler und sinnlicher Hemmungen. Daraus entsteht, wie FICHTE hier sagt, die sogenannte „Erfahrung“ (ebd. S 160), das Lernen ist  durch ein tätiges Attendieren und freies Hingeben an die Mannigfaltigkeit ermöglicht. Die Sprache im weiteren ist dann der Codes „der subjektiven und intersubjektiven Erfahrung vermittelt den historischen Stand der Konkretionsgenesis.“ (J. Widmann, 1977, S 276). Fichte sieht in der theoretisch konzipierten und praktisch ausgeführten Reflexibilität des Sich-Wissens und Sich-Bildens die kantische Frage beantwortet, wie synthetische Urteile a priori möglich sind – und was überhaupt „Erfahrung“ meint. Die synthetischen Urteile a priori in der (sinnlichen) Erfahrung sind eine Synthesis des reinen Willens in seiner mannigfaltigen Beschränktheit.  (vgl. ebd. S 160) 

Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser