PLATON, Die Idee des Guten

PLATON, Die Idee des Guten

Die bekannte Stelle in der „Politeia“, sechstes Buch, worin die Idee des Guten „dem Erkennbaren die Wahrheit mitteilt und dem Erkennenden das Vermögen hergibt“ (508 e) und sie „noch über das Sein an Würde und Kraft hinausragt“ (ebd. 509 b)1 ist von PLATONS Sokrates sorgfältig vorbereitet im Nachdenken über Gerechtigkeit und Staat. 2

Der mit Sokrates diskutierende Glaukon wird wegen seines Interesses und Wissbegier gelobt, gleichzeitig wird von Sokrates Bescheidenheit an den Tag gelegt und höchst wohlwollend geworben, dass die Zuhörer einerseits nicht überfordert werden mögen, andererseits doch ihm zustimmen können.

Im Absatz 17 (des sechsten Buches) wird die „Idee des Guten“ vorbereitet. Es werden Meinungen über das Gute vorgebracht und die Bedeutung der wahren Erkenntnis des Guten wird fokussiert und herausgearbeitet. Warum ist das Sokrates in der „Politeia“ so wichtig?

Die Antwort ist einfach und kontextbezogen: Weil es um die rechte Staatsführung geht und um Gerechtes und Schönes, mithin um den höchsten (ethischen) Wert.

Im Absatz 18 wird Sokrates eindringlich gebeten, er möge Glaukon und die anderen jetzt nicht  im Stich lassen.

Sokrates gibt sich äußerst bescheiden und demütig, er will nur über den „Sprössling des Guten“ etwas sagen:

„o Sokrates, sprach Glaukon, nur nicht noch am Ende im Stich läßt. Denn wir wollen zufrieden sein, wenn du nur ebenso, wie du ĂĽber die Gerechtigkeit und Besonnenheit und das ĂĽbrige geredet hast, auch ĂĽber das Gute reden willst. Auch ich, sprach ich, lieber Freund, wollte gar sehr zufrieden sein! Aber daĂź ich nur nicht dazu unvermögend bin, und wenn ich es dann doch versuche, mich ungeschickt gebärde und euch zu lachen mache! Allein, ihr Herrlichen, was das Gute selbst ist, wollen wir fĂĽr jetzt doch lassen; denn es scheint mir fĂĽr unsern jetzigen Anlauf viel zu weit, auch nur bis zu dem zu kommen, was ich jetzt darĂĽber denke. Was mir aber als ein Sprößling, und zwar als ein sehr ähnlicher, des Guten erscheint, will ich euch sagen, wenn es auch euch so recht ist; wo nicht, so wollen wir es lassen. – (506 d)

Sokrates lässt sich aber dann doch hinreißen und beginnt wieder einen neuen Reflexionsprozess, indem er a) alle Erkenntnisbedingungen auf ein Erstprinzip der Erkenntnis (der Wahrheit und des Vermögens des Erkennens) zurückführen will, um von dort b) durch diese gewonnene, speziellen Evidenz und Einsicht alle weitere Erkenntnis deduktiv ableiten und begründen zu können. 3

Ich las – leider erst in diesen Jahren 2023/2024 – bei M. Gerten  eine prägnante, bĂĽndige, transzendentalen Wert- und Geltungslehre:  Bei Platon ist offensichtlich eine solche Wertlehre zu finden, wenn im Griechischen auch die Begriffe wie „Geltung“ nicht bekannt waren.

Im Aussagen und Behaupten wird implizit ein Geltungsanspruch erhoben und eine implizite Wahrheit vorausgesetzt – und das hatte Platon bereits ausgearbeitet gehabt.

Das faktische Wissen (und größere Nichtwissen) wird von Sokrates konstatiert, aber dieses Faktisches ist nur durch die höhere Art der Ideen gesetzt (modern gesagt, mit Geltungsanspruch) und kommt bereits in jedem modus des „Ist-Sagens“ zum Ausdruck.

„ Vieles Schöne, sprach ich, und vieles Gute und alles dieses sonst nehmen wir doch an und bestimmen es uns durch Erklärung. Das nehmen wir an. Dann aber auch wieder das Schöne selbst und das Gute selbst und so auch alles, was wir vorher als vieles setzten, setzen wir als eine Idee eines jeden und nennen jedes <was ist>. (507 b)

Sokrates bemerkt den Unterschied zwischen dem Sehen sinnlicher Dinge und dem Denken der Ideen, aber ebenso feinsinnig und differenziert erkennt er im Sehen sinnlicher Dinge und im „Gesicht“ bereits den viel weiteren transzendentalen Horizont der Möglichkeit des Sehens und die praktischen, transzendentalen Ermöglichungsbedingungen  des sinnlichen Sehens.  

So ist es. Und von jenem vielen sagen wir, daĂź es gesehen werde, aber nicht gedacht; von den Ideen hingegen, daĂź sie gedacht werden, aber nicht gesehen. – Auf alle Weise freilich. – Womit nun an uns sehen wir das Gesehene? c – Mit dem Gesicht, sagte er. – Nicht auch ebenso, sprach ich, mit dem Gehör das Gehörte, und so mit den ĂĽbrigen Sinnen alles Wahrnehmbare? – (507 c)

Eine Querverbindung zu einem „Bildner“ des Sehens wird aufgemacht, später aber nicht mehr extra reflektiert. Ein Gottesbeweis schwingt aber sozusagen im Hintergrund mit, weil ja eine Kontinuität des Sehens und Wertens der Möglichkeit nach aufgemacht wird – und diese muss ja irgendwie von Gott nochmals der Wirklichkeit nach getragen sein.  

Sokrates arbeitet heraus: Das Sinnes-Vermögen des Sehens bedarf eines Mittels und Werkzeugs: des Lichtes.

A. MUES hat die transzendentalen Bedingungen der Sinnesempfindungen beschrieben. Ich verweise darauf:  Licht ist nicht identisch mit den übrigen Qualitäten in den Sinnesempfindungen, sondern, so paradox das klingen mag, gerade als solches nicht erlebbar, und wird doch als Wirkursache empfunden, als Anwesenheit oder Abwesenheit seiner Wirkung an anderen Gegenständen.4

„ Freilich. Hast du nun auch wohl den Bildner der Sinne beachtet, wie er das Vermögen des Sehens und Gesehenwerdens bei weitem am köstlichsten gebildet hat? – Nicht eben, sagte – Also betrachte es so. BedĂĽrfen wohl das Gehör und die Stimme noch eines anderen Wesens, damit jenes höre und diese gehört werde, so daĂź, wenn dieses dritte nicht da ist, jenes nicht hören kann und diese nicht gehört werden?“ (ebd. 507 d)

Das Fascinosum des Erkennens und Wissens hängt offenbar mit dem  zwar selbst nicht gegenständlich fassbaren, aber am Gegenstande fassbaren Licht zusammen.

Der Anspruch Platons in dieser Stelle einer höchsten Erkenntnis (NB in einem höchst praktischen und ethischen Zusammenhang von  Gerechtigkeit und rechtes StaatsfĂĽhrung)  geht in Richtung eines begrĂĽndenden Prinzips, das in sich und aus sich und durch sich (genetisch) Wahrheit beansprucht, aber gerade deshalb nicht wieder systemimmanent nur  aus dem Denken kommen kann, sondern „epeikena“, transzendent, den Erkenntnisbedingungen in ihrer Wahrheit vorausgehen muss. Deshalb dann die spätere sagenhafte Synthesis, dass die Idee des Guten sowohl Erkenntnis der Wahrheit, wie zugleich die Befähigung zur wahren Erkenntnis schenken muss, weil ein bloĂźes Denkvermögen diese Wahrheit nicht erreichen könnte bzw. viel zu wenig wäre.     5

Paraphrase: (506 b – 509 b)

1) Sokrates weckt (im Zusammenhang des Denkens von Gerechtigkeit und Staat) das Interesse des Glaukon und aller seiner Zuhörer für die höchste Idee der Philosophie, d. h. für das Wesen (und Geltungsanspruch) des Guten schlechthin.

Dann schmeichelt er dem Glaukon (und den anderen) und schmälert zugleich die Meinungen anderer.

506b: „Notwendig, sagte er. Aber du, o Sokrates, sagst denn du, Erkenntnis sei das Gute oder Lust, oder ein anderes als beides?

Du trefflicher Mann, sprach ich, dir sah ich es schon lange an, daĂź du nicht genug haben wĂĽrdest an dem, was andere hierĂĽber meinen.

2) Glaukon ist inzwischen so neugierig geworden, dass er begierig ist, die persönliche Meinung und Ansicht des Sokrates zu hören, zumal er weiß, dass Sokrates sich schon viel damit beschäftigt hat.

Es scheint mir auch nicht recht, sagte er, o Sokrates, daĂź man nur anderer Lehren hierĂĽber soll vorzutragen wissen, seine eigene aber nicht, zumal wenn man so lange

S506c Zeit sich hiermit beschäftigt hat-

3) Sokrates erhebt nochmals den Anspruch, nur ĂĽber gesichertes Wissen reden zu wollen. Glaukon stimmt ihm zu. Das echte, wahre Wissen ist zu unterscheiden von einer bloĂźen Meinung.

Wie? sprach ich, dĂĽnkt dich denn das recht, was einer nicht weiĂź, darĂĽber doch zu reden, als wisse er es?

Keineswegs wohl, sagte er, als wisse er es; wohl aber soll er als Meinung vortragen wollen, was er darĂĽber meint.

4) Glaukon ist jetzt direkt beängstigt, nach vielleicht vielen negativen Erfahrungen?, dass er wieder enttäuscht werden könnte.

Daß du uns, beim Zeus, o Sokrates, sprach Glaukon, nur nicht noch am Ende im Stich lässest. Denn wir wollen zufrieden sein, wenn du auch nur ebenso, wie du über die Gerechtigkeit und Besonnenheit und das übrige geredet hast, auch über das Gute reden willst.

5) Sokrates spielt nochmals mit dem Zutrauen des Glaukon und der anderen – und stapelt seine Rede nochmals tiefer – um wohl das Nachfolgende erst recht erglänzen zu lassen?

Auch ich, sprach ich, lieber Freund, wollte gar sehr zufrieden sein! Aber daß ich es nur nicht unvermögend bin, und wenn ich es dann doch versuche, mich ungeschickt gebärde und euch zu lachen mache!

6) Er spricht dann vom „Sprössling“, welche Rede man nicht gleich versteht. Später weiß man, er meint die qualitative Kraft und Sichtbarkeit der Sonne. Beigefügt ist die Bemerkung „des Vaters Beschreibung magst du uns ein andermal entrichten“ (506e). Ich deute das so, dass in einem analogen Sinne die Abstammung des Sprösslings Sonne vom „Vater“ d. h. Gott , ausgedrückt werden soll?

Das fĂĽr uns zuerst Sichtbare, das Licht der Sonne, ist aber nur das Medium im Vergleich zu dem, was Wissen und Erkenntnis wirklich sind, d. h. in ihrer Evidenz und Bedeutung (Geltung).

Allein, ihr Herrlichen, was

S506e das Gute selbst ist, wollen wir für jetzt doch lassen; denn es scheint mir für unsern jetzigen Anlauf viel zu weit, auch nur bis zu dem zu kommen, was ich jetzt darüber denke. Was mir aber als ein Sprößling, und zwar als ein sehr ähnlicher des Guten erscheint, („hos de eknomos te tou agathou phainetai kai homoiotatos ekeino“)

will ich euch sagen, wenn es euch auch so recht ist; wo nicht, so wollen wir es lassen.

Nein, sprach er, sage es nur; und des Vaters Beschreibung magst du uns ein andermal entrichten.

S507a Ich wollte, sagte ich, daß ich euch die ganze Schuld zahlen und ihr sie einstreichen könntet, und nicht wie jetzt nur die Zinsen. Diesen Zins also und Sprößling des Guten nehmt für jetzt auf Abschlag.

Dann die typische sokratische Frage nach dem Wesen einer Sache, die Frage nach dem „was es ist“ (ho estin)

(507b) Dann aber auch wieder das Schöne selbst und das Gute selbst und so auch alles, was wir vorher als vieles setzten, setzen wir als eine Idee eines jeden und nennen es jegliches, was es ist.

So ist es.

7) Es folgt eine Unterscheidung zwischen dem sinnlichen Sehen/Gesehenen und ideell Gedachten. Diese Unterscheidung ist nicht zufällig hingestellt, sondern in und aus einer höheren Einheit hervorgehend – wie sich später herausstellen wird, d. h. aus einer höheren Disjunktionseinheit hervorgehend, in der sinnliches  und intelligibles Sehen (ideelles Denken der Möglichkeit nach) wechselseitig sich bedingen, theoretisches, sinnliches Sehen und praktisches, willentliches Sehen. 

Anders gesagt: Platon strebt eine genetische Erkenntnis an, d. h. wie der Möglichkeit nach die disjunktionslose Wahrheit erreicht werden kann, die Idee des Guten.
Hier im reduktiven Aufstieg des sinnlichen und intelligiblen Sehens gesehen scheint die Idee des Guten Disjunktionsgrund des unterschiedenen Sehens zu sein. Aber diese Idee kann nicht bloĂź blind vorausgesetzter Disjunktionsgrund sein, sondern soll deduktiver Soll-Grund einer Begriffes von Wahrheit sein, in dessen Licht alles Erkenntnis erst wahr wird und genauso das Vermögen zur wahren Erkenntnis ermöglicht und bewährt wird.  Wahrheit ist theoretisch wie praktisch – und Platon/Sokrates zeigt gerade in dieser zurĂĽckhaltenden, bescheidenen Art und Weise nur die Struktur- und Denkmöglichkeit der Wahrheit auf, wie es Aufgabe der Philosophie ist. Das Tun und Leben danach, das ist eingebettet in die Staatskunst der Politeia.

Nach Vorträgen von F. BADER und der Lektüre von A. MUES, Die Einheit der Sinneswelt, 1979,  ist mir der transzendentale Sinn hinter den Sinneswahrnehmungen  bewusst geworden: der Gesichtssinn bzw. das Sehen und das Gehör ermöglichen dem fühlenden Wesen den letzten und höchsten und freien Sich-Bezug des geistigen Wissens. Die Objektivationen der anderen Sinnesempfindungen wie Schmecken, Riechen, Tastsinn, Temperatursinngeben sind zwar  ebenfalls schon eine Art Erkenntnis und Empfindung von Lust und ermöglichen einen gewissen Sich-Bezug und eine Freiheit; doch diese elementaren Sinne sind zugunsten des höheren Sich-Bezuges nochmals überschritten durch das Vermögen des Sehens und Hörens.

Anders gesagt: PLATON  möchte durch seine geschickte Weg-FĂĽhrung des Aufstiegs den letzten Sich-Bezug des Wissens erreichen, der nur in der Freiheit der Nachahmung (des Nachbildung) des Idee des Guten bestehen kann.  Platon kennt intuitiv und intelligierend eine ĂĽber die faktische, apodiktische Gewissheit hinausgehende genetische Erkenntnis der BegrĂĽndung und Rechtfertigung allen Wissens, die nur im  Wahrheitsbegriff selbst liegen kann – der theoretisch auĂźerhalb des Systems liegt und alles System erst begrĂĽndet –  aber durch ein wahres Vermögen, d. h. durch tätiges, praktisches Tun im Konkreten jeweils zum Tragen kommt und sich bewährt – falls stets der genetische RĂĽckbezug zur  Idee des Guten gewahrt wird. (Nicht jede behauptete Erkenntnis ist schon wahr.) 

Und von jenem vielen sagen wir, daĂź es gesehen werde, aber nicht gedacht; von den Ideen hingegen, daĂź sie gedacht werden, aber nicht gesehen.

Auf alle Weise freilich.

S507c Womit nun an uns sehen wir das Gesehene?

Mit dem Gesicht, sagte er.

Nicht auch ebenso, sprach ich, mit dem Gehör das Gehörte, und so mit den übrigen Sinnen alles Wahrnehmbare?

Das Sehen und das Gesicht wird als der vornehmste Sinn gewĂĽrdigt, weil es einen gewussten Selbstbezug erlaubt, eine sich wissende Einheit.

Zum Sehen sagt er:

Hast du auch wohl den Bildner der Sinne beachtet, wie er das Vermögen des Sehens und Gesehenwerdens bei weitem am köstlichsten gebildet hat?

Zum Gehör:

Also betrachte es so. Bedürfen wohl das Gehör und die Stimme noch ein anderes Wesen, damit jenes höre und diese gehört werde, so daß,

S507d wenn diese dritte nicht da ist, jenes nicht hören kann und diese nicht gehört werden?

Keines, sagte er.

PLATON geht es also um den Vorrang des Sehens und des optischen Sinnes. Scharfsichtig leitet er jetzt die notwendige Bedingung des Sehens ab: das Licht, das alles erhellt und seine Quelle hat in der Sonne.

(507d) Und ich glaube, sprach ich, daĂź auch die meisten andern, um nicht zu sagen alle, dergleichen nichts bedĂĽrfen. Oder weiĂźt du einen anzufĂĽhren?

Ich keinen, sagte er.

Aber das Gesicht und das Sichtbare, merkst du nicht, daĂź die eines solchen bedĂĽrfen?

Wieso? (….)

Welches ist denn dieses, was du meinst? fragte er.

Was du, sprach ich, das Licht nennst.

Du hast recht, sagte er.

Also sind durch eine nicht geringe Sache der Sinn des Gesichts und das Vermögen des Gesehenwerdens

S508a mit einem köstlicheren Bande als die andern solchen Verknüpfungen aneinander gebunden, wenn doch das Licht nichts Unedles ist.

Das Licht ist eine sich begrĂĽndende Wissensform, ein Sich-Bezug des Sehens.

8) Das Sehen wird weiter als Erkenntnisvermögen ausgefĂĽhrt im Begriff des „Auges“ (als vornehmstes und „sonnenähnlichstes“ Werkzeug des Erkennens.) – und das Licht als Ermöglichungsbedingung. 

Das Gesicht ist nicht die Sonne, weder es selbst noch auch das, worin es sich befindet und was

S508b wir Auge nennen.

Freilich nicht.

Aber das sonnenähnlichste, denke ich, ist es doch unter allen Werkzeugen der Wahrnehmung.

9) Im Sehen liegt offensichtlich ein synthetischer Selbstbezug  von Wissen und Licht. Es nicht das Auge selbst, wenn es auch das „sonnenähnlichste“ ist, das sieht, sondern eine höhere Wissensbedingung liegt dem Sehvermögen des Auges zugrunde.

Das Gesicht ist nicht die Sonne, weder es selbst noch auch das, worin es sich befindet und was

S508b wir Auge nennen.

Freilich nicht.

Aber das sonnenähnlichste, denke ich, ist es doch unter allen Werkzeugen der Wahrnehmung.

PLATON strebt eine reine Vernunfteinsicht an, die sich, was aber nicht weiter ausgeführt ist, von einem „Ausfluss“ (Emanation) und einem „erzeugt“ herleitet.

508b Und auch das Vermögen, welches es hat, besitzt es doch als einen von jenem Gott ihm mitgeteilten Ausfluß.

Allerdings.

Und eben diese nun, sprach ich, sage nur, daß ich verstehe unter jenem Sprößling des Guten, welchen das Gute nach der Ähnlichkeit mit sich gezeugt hat, so daß, wie jenes selbst

S508c in dem Gebiet des Denkbaren zu dem Denken und dem Gedachten sich verhält, so diese in dem des Sichtbaren zu dem Gesicht und dem Gesehenen.

Die Idee des Guten zeugte jenen „Sprößling“ (allegorisch gemeint) nach der Ähnlichkeit, und nach dieser Ähnlichkeit verhält es sich im Gebiet des Denkbaren mit den beiden Komponenten Denken und Gedachtes, bzw. verhält es sich nach dieser Ähnlichkeit  im Sichtbaren mit den beiden Komponenten Gesicht und Gesehenes.

10) Im Ganzen der Erkenntnisbemühung PLATONS, so formulierte es BADER in den Vorlesungen, geht es um einen Übergang, wie Intelligibles und Sinnliches miteinander verbunden werden können.

Die transzendentale Erkenntnisweise und die darin enthaltenen Gegenstandsbereich des Denkens und Gedachten, beziehungsweise des Sehens und Gesehenen, sind sich ähnlich, weil beides genetisch aus der Idee des Guten hervorgehen. 
Anders gesagt: Intelligible und sinnliche Welt sind synthetisch verbunden in einer transzendentalen Disjunktionseinheit,  oder vielleicht besser ausgedrückt, weil die Begründung mitschwingt, in einer Geltungseinheit  des theoretischen  und praktischen Wissens  und Wollens. 

Der praktische, willentliche Anteil in der Erkenntnis  wird nicht vergessen: Wer äußerlich den „Sprössling des Guten“, d. h. das Licht der Sonne, nicht sieht oder sehen will, der wird natürlich das intelligible, überirdische, geistige Licht ebenfalls nicht sehen. Es ist beim sinnlichen Sehen und Erkennen bereits eine Haltung des Wollens und der Freiheit gefordert, a fortiori beim Sehen und Erkennen der höchsten Idee des Guten.

Die Augen, sprach ich, weißt du wohl, wenn sie einer nicht auf solche Dinge richtet, auf deren Oberfläche das Tageslicht fällt, sondern auf die nächtlichen Schimmer, so sind sie blöde und scheinen beinahe blind, als ob keine reine Sehkraft in ihnen wäre?

Ganz recht, sagte er.

S508d Wenn aber, denke ich, auf das, was die Sonne bescheint, dann sehen sie deutlich, und es zeigt sich, daĂź in ebendiesen Augen die Sehkraft wohnt.

11) Das Denken und Sehen, mithin auch das Wollen, ist in einer unräumlichen Einheit zusammengefasst, in einem „substantiellen Denk- und Selbstbestimmungsakt“ (F. Bader) der Seele.

Die Vorstellung der Seele ist die verinnerlichte Seite der verobjektivierten äußeren Kraft des Sehens (und der anderen Sinne) und die Einheit im Erkennen und Wollen.

Die Seele ist  nicht einfach quer eingefĂĽhrt, eine hypostasierte Substanz, sondern bleibt als Seele – wie das Sehen auf die notwendige Bedingung des Lichtes bzw. auf die Ursache des Lichtes – angewiesen auf die intelligible „Sonne“ und intelligible Licht der Idee des Guten.

Die Seele kann dabei positiv – entgegen vielleicht  schon oft geäußerter Relativismen der  Meinungen – das Licht einer Wahrheit erkennen, das für sich selbst untrüglich alles Wissen begleitet und begründet.

(508d) Ebenso nun betrachte dasselbe auch an der Seele. Wenn sie sich auf das heftet, woran Wahrheit und das Seiende glänzt, so bemerkt und erkennt sie es, und es zeigt sich, daß sie Vernunft hat. Wenn aber auf das mit Finsternis Gemischte, das Entstehende und Vergehende, so meint sie nur und ihr Gesicht verdunkelt sich so, daß sie ihre Vorstellungen bald so, bald so herumwirft, und wiederum aussieht, als ob sie keine Vernunft hätte. (Hervorhebung von mir)

12) Es ist im Grunde alles klar und strukturiert  vorbereitet worden: Wie die Sehkraft im Auge nicht von der Sonne herkommt, wiewohl die Sonne („der Sprössling der Idee des Guten“, „des Vaters Abstammung “) die verobjektivierte Bedingung des Lichtes ist, so muss es ein erstes und letztes Bedingungs- und BegrĂĽndungsprinzip geben, eine intelligible „Sehkraft“, die das Wissen und Erkennen begrĂĽndet.  

Es ist wie ein cartesianischer Zweifel formuliert: die faktische Erkennbarkeit von allem im Gedachten wie im Gesehenen sind nicht genug, das führte bloß zu einem faktischen Wahrheitsanspruch („als subjektive Forderung Versicherung“6). Es bedarf einer Rechtfertigung des behauptet Erkennbaren und  behauptet Sichtbaren, mit anderen Worten, einer über apodiktische Faktizität hinausgehenden „genetischen“ Evidenz von Wahrheit und Werterkenntnis.7

Da dem Griechischen das Wort „Geltung“, „Geltungserhebung“, „Geltungsanspruch“, „Geltungsgrund“, dem Wortlaut nach fehlt,8 muss die Bedingung eines absoluten, unbedingt fordernden und in seinem Fordern sich rechtfertigender Wert und eine  komplementäre  Werterkenntnis von Platon eingeführt werden.

Ich analysiere nochmals: a) Wenn notwendig, wie es heißen wird, die „Beschaffenheit der Idee des Guten“ dem Sich-Bezug des Wissens vorhergeht, so besteht klar ein Begründungszusammenhang von Wahrheit und Erkenntnisvermögen durch die Idee des Guten, und b) eine Rechtfertigung von Wahrheit und Erkenntnisvermögen durch diesen Idee, modern ausgedrückt, durch diesen absoluten Geltungsgrund. Die Geltungsform „Wahrheit und Erkenntnisvermögen“ (bei Kant die transzendentale Apperzeption, bei Fichte „Ich“, Ichheit, Sich-Wissen) ist bedingt durch einen absoluten Geltungsgrund eines materialen, werthaften Solls. 

Dieser Geltungsgrund, das Absolute, die Transzendenz, wie immer das jetzt ausgedrückt werden will, ist einerseits nicht außerhalb der Geltungsform und der Immanenz liegend,  weil ja mittels Vernunft und Freiheit das Bild des Einen nachgebildet werden soll, aber andererseits in seinem materialen Gehalt und seiner Bewährung transzendend bleibend.

Es kommt zu dieser schönen Definition:

S 508e Dieses also, was dem Erkennbaren Wahrheit mitteilt und dem Erkennenden das Vermögen hergibt, sage, sei die Idee des Guten; (Touto toinun to ten aletheian parechon tois gignoskomenois kai to gignoskonti ten dynamin apodidon ten tou agathou idean)

aber wie sie der Erkenntnis und der Wahrheit, als welche erkannt wird, Ursache zwar ist, so wirst du doch, so schön auch diese beide sind, Erkenntnis und Wahrheit, doch nur, wenn du dir jenes als ein anderes und noch Schöneres als beide denkst, richtig denken.

Erkenntnis

509a aber und Wahrheit, so wie dort Licht und Gesicht für sonnenartig zu halten, zwar recht war, für die Sonne selbst aber nicht recht, so ist auch hier diese beiden für gutartig zu halten zwar recht, für das Gute selbst aber, gleichviel welches von beiden anzusehen, nicht recht, sondern noch höher ist die Beschaffenheit des Guten zu schätzen.

Eine überschwengliche Schönheit, sagte er, verkündigst du, wenn es Erkenntnis und Wahrheit hervorbringt, selbst aber noch über diesen steht an Schönheit. 

Für Lust also hältst du es doch gewiß nicht.

Frevle nicht! sprach ich, sondern betrachte sein Ebenbild noch weiter so.

S509b Wie? (Hervorhebungen von mir)

13) Nochmals, vielleicht langatmig von mir, eher rhetorisch gefragt: Die Idee des Guten vermittelt Wahrheit und das Vermögen des Erkennens dieser Wahrheit. Ist das nicht ein Zirkelschluss? Die Wahrheit bedingt das Erkennen der Wahrheit, aber ich könnte sie nicht erkennen, wenn ich sie nicht vorher schon erkannt hätte?

Der Zirkel löst sich, wenn das dahinterliegenden platonische Totalitätsallgemeine als eine materiale Wertlehre reflektiert wird. Es ist immer eine über das faktische Sehen und „Ist-Sagen“ hinausgehende genetische, zweifelsfreie, untrügliche Begründung angestrebt, eine sittliche-praktische (R. Lauth „doxische“) Wahrheit, die eine eigene freie Erkenntnisleistung mit einschließt, zumal es im ganzen Kontext der „Politeia“ um die Gerechtigkeit und das rechte Staatswesen und speziell hier um die Weisheit der Leitung des Staates geht, wozu eine logisch-theoretische Begründung nicht ausreichen würde. Der vorausgehende sittliche höchste Wert muss zugleich in seinem Forderungscharakter von einem willentlichen Erkennen und Antworten begleitet sein, also zur vorgegebenen Wahrheit muss zugleich der freie Wille des Erkennbaren kommen, sonst wäre die Wahrheit determinierend und von Wahrheit könnte ohne Willen und Erkennbarkeit gar nicht geredet werden.

Das im Aufstieg vorgebrachte Denken und Gedachte bzw. Sehen und Gesehenes, ist in seinen Disjunktionen mittels „Idee des Guten“ zu einer Disjunktionseinheit (Geltungseinheit)  zusammengeführt, zu einem Geltungsanspruch von Wahrheit und Erkennenkönnen bzw. auch Erkennenwollen.

Anders gesagt: Durch eine Reduktion des Wissens und Erkennens auf eine Geltungsform, die selbst nicht mehr immanent nur im Wissen begründet sein kann, sondern „epeikena“ von Denken und Sein liegt, mithin die Geltungsform der „Idee des Guten“ ausmacht, ist ein analytisch-synthetisches Prinzip gefunden, das theoretisch wie praktisch auf Wahrheit bezogen und auf eine mögliche Erkennbarkeit und Rechtfertigung des Totalitätsallgemeinen offen ist. Das theoretische „Erkanntwerden“ , als auch das ganze Totalitätsallgemeine, das „Sein und Wesen“,  Wahrheit, die Schönheit,  das Sittlich-Praktische, stammt von der „Idee des Guten“.

14) Diese höchste Idee, was jetzt weiter in ihren Folgen noch auszulegen wäre, ergibt einen Begriff des Werdens (der Genesis), ist aber selbst nicht ein Werden, sondern in sich selbst absolute Einheit in der  unwandelbaren Einheit des werdenden Wissens. 

509b Die Sonne, denke ich, wirst du sagen, verleihe dem Sichtbaren nicht nur das Vermögen, gesehen zu werden, sondern auch das Werden und Wachstum und Nahrung, unerachtet sie selbst nicht das Werden ist.

Wie sollte sie das sein!

(509b) Ebenso nun sage auch, dass dem Erkennbaren nicht nur das Erkanntwerden von dem Guten komme, sondern auch das Sein und Wesen habe es von ihm, da doch das Gute selbst nicht das Sein ist, sondern noch über das Sein an Würde und Kraft hinausragt. (…) (ouk ousia ontos tou agathou all epi epekeina tes ousias kai dynamei hyperechontos)

© Franz Strasser, 9. 7. 2015. (revidiert 24. 8. 2024)

1Platon, Sämtliche Werke, Bd. 3, Rowohlt Hamburg 1958, S 221. Übersetzung von Friedrich Schleiermacher.

2In der Gliederungsübersicht zur Politeia heißt es (Text v. Schleichermacher?): „II, Das Königtum der wahrhaften Philosophen als Bedingung für die Möglichkeit eins gerechten Staates. Wesen und Erziehung der Philosophen (V.-VII. Buch). Ebd. S. 68.

Ideelle Erkenntnis und Letztbegründung in der Philosophie hängen mit einer lebenspraktischen Form zusammen, ist theoretisches Erkennen und praktisches Wollen.

3M. Gerten, Transzendentale Wertlehre und philosophische Letztbegründung bei R. Lauth. In: Vergegenwärtigung der Transzendentalphilosophie. Das philosophische Vermächtnis R. Lauths. Würzburg, 2017, 291 – 318.

„i. Der Gesamtweg der philosophischen Erkenntnisfundierung

muss zunächst in einer Reduktion zum Erstprinzip absoluter Wahrheit und Gewissheit führen, von diesem dann deduktiv fortschreiten zur sicheren Begründung aller in der Reduktion hypothetisch angesetzten Elemente und dann aller weiteren (Prinzipien-) Erkenntnisse.“ (ebd. S 307)

4 A. MUES, Die Einheit der Sinnenwelt. Freiheitsgewinn als Ziel der Evolution. Eine erkenntnistheoretische Untersuchung, München 1979. Das Licht ist eine  Qualität zwecks Selbstbestimmung, eine veräußerte Kraft das Handelns, die befreit ist von der unmittelbaren Abhängigkeit in der Tastempfindung. Mittels Licht können wir uns orientieren, mittels Licht kann die Kraft des Tastsinns – eine Form des transzendentalen Triebes – angeschaut und verobjektiviert werden.

5Siehe generell zu einem Geltungsanspruch und zu einer Geltungsform „Ich“ bzw. Wissen, bei M. Gerten, Transzendentale Wertlehre und philosophische Letztbegründung bei R. Lauth. In: Vergegenwärtigung der Transzendentalphilosophie. Das philosophische Vermächtnis R. Lauths. Würzburg, 2017, 291 – 318.

6Die Forderung einer genetischen Evidenz in der Erkenntnisbegründung und Erkenntnisrechtfertigung ist sehr schön in 12 Punkten zusammengefasst von M. Gerten anhand der Rezeption von R. Lauths Erkenntnislehre. Siehe dort: Transzendentale Wertlehre. Ebd., S 307-311.

7M. Gerten, Transzendentale Wertlehre. Ebd. S 309.

8Ich las hier ebenfalls bei M. Gerten, Transzendentalphilosophie als fundamentale Geltungsreflexion. Historische und systematische Überlegungen mit besonderem Blick auf den späten Fichte. Vernunft und Leben aus transzendentaler Perspektive Festschrift für Albert Mues zum 80. Geburtstag. Herausgegeben von Michael Gerten, Leonhard Möckl und Matthias Scherbaum, Würzburg 2018, S. 124. Gerten verweist hier auf ein Zitat von Lotze.

Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser