Fichtes Sittenlehre – §§ 9-10 – 9. Teil

Fichtes Sittenlehre – § 9, Folgerungen, ebd. S. 119 – 129, und § 10, ebd. S 129-139.

Bekanntlich geht es seit dem „Zweiten Hauptstück“ und ab § 4 um die „Realität“ und die „Anwendbarkeit des Prinzips der Sittlichkeit“ (ebd. S 62ff).

Aus den Bedingungen der Selbsttätigkeit und Selbständigkeit der Vernunft wurde zuletzt ein organisches Naturwesen in seiner Selbstständigkeit als Trieb, das seinerseits bereits eine objektivierte, vorgestellte Form von Freiheit ist, abgeleitet – wie behauptet: die Freiheit ist auch theoretischer Bestimmungs- und Erkenntnisgrund der Wirklichkeit.

Ab § 9 kommt Fichte jetzt immer konkreter zum eigentlich moralischphilosophischen Bereich der Sittlichkeit,   der aber natürlich nicht diametral getrennt von den vorherigen Prinzipien des Denkens und Wollens gesehen werden kann. (Dann fiele ja jede Begründungsform und jeder Geltungsgrund weg.)

Der Triebbegriff wird in einem anderen Sinne wieder aufgegriffen.
Generell etwas verschieden zu den §§ 1- 8 kann vielleicht gesagt werden, dass jetzt direkt vom alltäglichen, phänomenalen Standpunktes ausgegangen wird, nicht vom wtranszendentallogischen des Setzens. 

Wiederum werden das Sittengesetz und das moralische Gesetz transzendental auf ihre Bedingungen der Wissbarkeit und Anwendbarkeit hin analysiert. Es kommt,  angelehnt an Kant, zur Bestimmung eines niederen und höheren Begehrungsvermögen (§§ 9-10), zum Begriff des Interesses (§ 11) und zum Bewusstsein der Pflicht und der moralischen Forderung des kategorischen Imperativs, sprich zu einer immer  konkreter werdenden Sittenlehre (ab § 12ff)

a) Wir finden uns als organisches Ganze vor mit dem Streben nach Selbsterhaltung gemäß unserer Triebstruktur ( als Selbsterhaltungstrieb). Dieses Streben muss sonach „Kausalität“ haben (ebd., S. 120). Unser organisches Wesen konstituiert sich vielfältig durch einen Verband von natürlichen Ursachen und dem korrespondierenden, konsistent und kohärent erscheinenden Streben.

Wenn ich hier einwerfen darf: Man bedenke das oft diametral entgegengesetzte Denken von Evolution: Dort sollen äußere akzidentielle Bestimmungen die Evolution antreiben?!

Schon hier eine wichtige Bemerkung, deren Folgen sich weit erstrecken, und deren Vernachlässigung sowohl für die Philosophie überhaupt, als insbesondere für die Sittenlehre beträchtliche Nachteile erzeugt hat. Mein Trieb gehe auf das Objekt X. Geht etwa der Reiz, das Anziehende, aus von X, bemächtigt sich meiner Natur und bestimmt so meinen Trieb? Keineswegs. Der Trieb geht lediglich hervor aus meiner Natur. Durch diese ist schon im voraus bestimmt, was für mich da sein soll, und mein Streben und Sehnen umfasst es, auch ehe es für mich wirklich da ist und auf mich gewirkt hat; würde es umfassen, wenn es auch gar nicht sein könnte, und würde sich nicht befriedigen, ohne dasselbe. Aber es ist, und muss sein, zufolge der Vollendung der Natur in sich selbst; und darum weil diese selbst ein organisiertes reelles Ganzes ist. Ich hungere nicht, weil Speise für mich da ist, sondern weil ich hungere, wird mir etwas zur Speise. Nicht anders ist es bei allen organisierten Naturprodukten. Nicht durch das Vorhandensein der Materialien, die in seine Substanz gehören, wird das Gewächs gereizt, sie aufzunehmen; durch seine innere Einrichtung werden, unabhängig von ihrem wirklichen Vorhanden- sein, gerade diese Materialien gefordert; und wenn sie überhaupt nicht in der Natur wären, könnte auch das Gewächs nicht in der Natur sein.“ (ebd. S 121)

Wir werden uns dieser harmonischen Wechselseitigkeit und Wechselwirkung im Trieb durch Reflexion erneut bewusst – was wir dann „Sehnen“ im Gefühl nennen. (ebd. S 122).

Die organische Zweckmäßigkeit kann dabei nochmals unterschieden werden in „niederes“ und „oberes“ Begehrungsvermögen (gemäss kantischer Diktion).1

Ebenso kann hier die organisierte Ganzheit das Vermögen der „Articulation“ und generell das bestimmte Ganze des „Leibes“ (ebd. S 125) herausgearbeitet werden. Bekanntlich ein Hauptproblem in der ganzen Philosophiegeschichte, die Leib-Seele-Einheit. 2

Die natürlichen Triebe, zur Organisation und Artikulation des Leibes dann zusammengefasst, können einer anderen Art von Trieben entgegengesetzt werden, die aus der nochmaligen Reflexion derselben hervorgehen: den „geistigen Triebe“ (ebd., S 128), womit dann das „obere Begehrungsvermögen“ umschrieben wäre.

b) § 10 „Über Freiheit und oberes Begehrungsvermögen“ (ebd., S. 129)

Die nächste Aufgabe besteht darin, diese neue Art von Trieb zu untersuchen und seine Verbindung zu unserer Freiheit aufzuweisen. Es ist für Fichtes Argument an dieser Stelle zentral, dass Freiheit als etwas angesehen wird, das bereits unseren grundlegendsten organischen Trieben oder Wünschen zukommt, einfach weil diese zu einem lebenden Wesen gehören, das artikuliert ist und die Triebe nur durch Reflexion als bestimmte auffasst. Was Fichte damit sagen will, ist, bezogen auf heutige Konzeptionen, dass Handlungen niemals nur durch Wünsche verursacht oder adäquat erklärt werden können, sogar wenn diese kombiniert werden mit Meinungen darüber, wie diese Wünsche zu befriedigen sind. Denn jeder Wunsch ist wesentlich etwas Reflektiertes, das auf uns nur durch unser Vermögen zu freier Selbstbestimmung hindurch wirkt. Jedes Begehren präsentiert sich uns als etwas, dem auch widerstanden werden kann und dem man zuwiderhandeln kann.“ 3

Wird jetzt die Freiheit direkt auf sinnliche Natur und ihrer Organisation bezogen, ergeben sich höhere Synthesen von Freiheit bzw. neue Differenziationen, was Freiheit selbst betrifft. Freiheit kann nicht kausal erklärt werden (vgl. ebd. S 132); „jeder freie Entschluss ist sich selbst substantiell“ (ebd.)

Der Trieb als reflektiertes Ganzes kann als solcher keine „Kausalität“ haben (ebd.). „Was auf den Trieb folgt, wirkt nicht die Natur, denn sie ist mit Erzeugung des Triebes erschöpft; ich wirke es, zwar mit einer Kraft, die von der Natur abstammt, die aber doch nicht mehr ihre, sondern meine Kraft ist, (….) (wir nennen es in dieser Rücksicht)formale Freiheit“ (ebd.)

c) Diese Freiheit enthält aber weitere materiale Voraussetzungen. Nach einer nochmaligen, sehr luziden Analyse von Zweckbegriff und Tat, Unbestimmtheit und Bestimmtheit der Selbstbestimmung (ebd. S 134 – 135), nennt er diesen Trieb dann „Freiheit um der Freiheit willen“ (ebd. S 136) – „materiale Freiheit“ (ebd.).

Dieser Trieb ermöglicht uns, nicht nur nach einem Naturtrieb zu handeln, bzw. davon restlos determiniert zu sein.  Der Naturtrieb und der reinen Trieb sind sich dabei formal nicht entgegengesetzt, sind nicht zwei Tatsachen des Bewusstseins, die unabhängig voneinander agieren, sie sind vielmehr zwei Seiten ein und desselben Strebens. (Bekanntlich ein Hauptproblem der Willensbestimmung bei Kant, dort widersprechen sich sinnliche Neigung und reiner Wille des Moralgesetzes.)4

Wird der Naturtrieb nochmals von der höheren Tätigkeit des reinen Triebes reflektiert, wird daraus die Differenzsphäre des tätigen „Leidens“ (innerhalb des reinen Ichs, siehe die Begriffe bereits in der GWL von 1794/95) und die Sphäre des Handelns und Tuns. (vgl., ebd. GWL) S 137) bzw. die unterschiedenen Tätigkeiten „reale Tätigkeit“ und „ideale Tätigkeit“ (ebd. S. 138)

Der bestimmte Naturtrieb wird dabei als so und nicht anders bestimmter Trieb „zufällig“ (ebd. S 138), aber der reine Trieb gehört zum Ich „wesentlich“; (ebd.)

Nebenbei wird hier der Begriff des „Hangs“ und der „Selbstachtung“ (ebd. S 139) aus dem Gegensatz Naturtrieb und materialer, wesentlicher Trieb gewonnen. Bekanntlich kommt der „Hang“ zum Bösen“ in Kants RGV ausführlich vor als naturale, angeborene Eigenschaft, die durch einen Akt der Freiheit überwunden werden kann. Aus freiheitstheoretischen Sicht kann es nach Fichte einen solchen naturalen Ursprung des Bösen (oder wie bei M. Luther) nicht geben.5

Demgegenüber gibt es nur die Alternative, entweder den Standpunkt der Freiheit einzunehmen und sich selbst zu einer autonomen Gewissheit und Freiheit emporzuheben, realisierbar in einem Vernunft-Staate der Freiheit, oder doch einem Dogmatismus verhaftet zu bleiben.

Dann der reine Trieb ist ein oberer Trieb; ein solcher, der mich meinem reinen Wesen nach über die Natur erhebt: und als empirischem Zeitwesen von mir fordert, dass ich mich selbst darüber erhebe. Nämlich die Natur hat Kausalität, und ist eine Macht auch in Beziehung auf mich; sie bringt in mir hervor einen Trieb, der an die lediglich formale Freiheit gerichtet, sich äußert als Hang. Aber zufolge des oberen Triebs hat diese Macht keine Gewalt auf mich, und soll keine haben; ich soll mich ganz unabhängig vom An-/ triebe der Natur bestimmen. Dadurch werde ich von der Natur nicht nur abgetrennt, sondern auch über sie erhoben: ich bin nicht nur kein Glied in der Reihe derselben, sondern ich kann auch selbsttätig eingreifen in ihre Reihe. – Da- durch, dass ich die Macht der Natur unter mir erblicke, wird sie etwas, das ich nicht achte. Nämlich das, wogegen ich meine ganze Energie zusammenfassen muss, um ihm nur das Gleichgewicht zu halten, achte ich. Wogegen es dieser Energie nicht bedarf, das achte ich nicht. So ist es mit der Natur. Ein Entschluss, und ich bin über sie erhaben. Wenn ich mich hingebe, und ein Teil dessen werde, das ich nicht achten kann, so kann ich, von dem höheren Gesichts- punkte aus, mich selbst nicht achten. In Beziehung auf den Hang sonach, der mich in die Reihe der Natur-Kausalität herabzieht, äußert sich der Trieb als ein solcher, der mir Achtung einflößt, der mich zur Selbstachtung auffordert, der mir eine Würde bestimmt, die über alle Natur erhaben ist. Er geht gar nicht auf einen Genuss, von welcher Art er auch sein möge, vielmehr auf Geringschätzung alles Genusses. Er macht den Genuss als Genuss verächtlich. Er geht lediglich auf Behauptung meiner Würde, die in der absoluten Selbständigkeit und Selbstgenügsamkeit besteht.“ (ebd. S 139)

© Franz Strasser, 16. 4. 2024

1Vgl. Allen W. Wood, Von der Natur zur Freiheit, Kommentar, a. a. O., S 95. „Die grundlegende Form des organischen Triebes ist daher ein Begehren, das lediglich auf einen gewissen subjektiven Zustand der Befriedigung oder des Genusses ausgeht, ohne ein darüber hinausgehendes Objekt zu haben. (…)“ -folglich „niederes Begehrungsvermögen“ benennbar.

2In der zeitgleich vorgetragenen WLnm geht Fichte ausführlich darauf ein: Diese  WLnm (1796-1799) demonstriert sehr anschaulich, wie Freiheit und Natur zusammenwirken im System der Sensibilität [ebd., § 8, § 11; § 13], in der Ableitung der Motorik und Sensorik des Leibes [§ 14 [GA IV, 2, 155ff], in der Ableitung der Organizität [§ 15; GA IV, 2, 171f]; schliesslich in der Ableitung des Begriffes der Kraft [§ 17; GA IV, 2, 197f und 210ff] und in der Ableitung der Artikulation und Organisation [§ 19; GA IV, 2, 256 – 261]. Siehe auch Blog von mir https://www.platonjgf.net/das-leib-seele-problem/

3A. W. Wood, Von der Natur zur Freiheit, a. a. O., ebd. S 95/06.  Es bekommt eine „Analytische Philosophie“ sogleich erhebliche Schwierigkeiten, wenn sie „nicht-kausale Handlungstheorien“ erklären soll: Siehe Literatur z. B. bei Katinka Schulte-Ostermann, Das Problem der Handlungsverursachung. Eine kritische Untersuchung zur kausalen Handlungstheorie, 2011. Oder siehe eine existentialistische Philosophie a la Sartre  dreht das Movens einer Handlung durch den Freiheitsakt um und interpretiert die Freiheit selbst als Verneinung, als  weiteren „Antrieb“ zu den anderen Trieben hinzu. Siehe Jean Paul Sartre: Lêtre et le néant, Paris 1943, vgl. hauptsächlich S. 522 ff.

4Dazu A. W. Wood, ebd. S 101: “Aber das macht eine weitere wichtige Revision der Kantischen Lehre notwendig, denn es ist ja gerade die Trennung von Vernunft und Sinnlichkeit, die Kants Zurückweisung des stoischen Eudaimonismus begründet, seine Betonung der letztgültigen Trennung und Divergenz von Moralität und Klugheit bzw. des Wertes der Tugend und des Wertes der Glückseligkeit (KpV, V, 110–113). Fichtes Einheitskonzeption des wollenden Selbst impliziert eine Zurückweisung Kants in diesem Punkt und eine Rückkehr zur stoischen Position, was Fichte an anderer Stelle auch explizit macht.“

5Inwiefern Fichte im späteren § 16 das Böse als durch Freiheit und Autonomie zu überwinden trachtet, hingegen Kants und M. Luthers Sicht des angeborenen Bösen ablehnt, das stellt m. E. eine offene Frage dar. Siehe dann den relativ umfangreichen Kommentar zu § 16 „Das Böse“ von Jean Christoph, Merle, a. a.O., ebd. S 119 – 128.

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser