Transzendentale Deutung der Ideenlehre im „Phaidon“

I) In der Geschichte um das heroenhafte Sterben des Philosophen SOKRATES im Dialog „Phaidon“ findet sich die schöne Stelle vom apriorischen Vorwissen:

Phaidon 74e  ἀναγκαῖον ἄρα ἡμᾶς προειδέναι τὸ ἴσον πρὸ ἐκείνου – Anankaion ara hemas proeidenai (perf. infinitiv, v. orao „sehen“ „wissen“, „kennen“;) to ison pro ekeinou (tou chronou hote to proton idontes ta isa enenoesamen hot oregetai men panta tauta einai oion to ison, echei de endeesteros.)

Notwendig also kennen wir das Gleiche schon vor jener

75a Zeit, als wir zuerst, gleiches erblickend, bemerkten, daß alles dergleichen strebe zu sein wie das Gleiche, aber doch dahinter zurückbleibe? —

Die Kritik des ARISTOTELES an PLATONS Ideenlehre geht m. E. völlig daneben. (Eine Platonkritik von ARISTOTELES findet sich z. B. in seiner Metaphysik 1. Buch 987b; 7. Buch 1040a; 13. Buch 1079b)

Zur Ideenlehre Platons siehe z. B. den m. E. ausgezeichneten Artikel auf wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/Ideenlehre, worin auf die Kritik des Aristoteles eingegangen wird. Siehe auch den Artikel – Chorismos Hwph.  Der Chorismos-Vorwurf wird oft zitiert – wodurch aber Platon um seine intelligierende Kraft gebracht wird. PLATON spricht oft von der Einheit des Wissens und der Selbstbewegung der Seele – wo ist hier eine Verdoppelung der Vorstellung zu finden? Die Reflexivform des Denkens begründet die Begreifbarkeit der Welt, wie sollte sonst erkenntniskritisch gedacht werden?  (siehe z. B. „Phaidon , 104a-106d)

PLATON spricht herrlich von den, transzendentalphilosophisch ausgedrückt,  apriorischen Ermöglichungsbedingungen (Wissensbedingungen) der sinnlichen Dinge, insofern diese nicht denkbar wären ohne jene. Die Ideen sind rein apriorisch, unräumlich, unsichtbar, unzeitlich, und sind deshalb konstitutive Erkenntnisbedingungen. Wer sich dieser apriorischen Wissensbedingungen nicht bewusst ist,  gleicht den „Streitkünstlern“, die Grund und Ursache verwechseln, „mischend wie die Streitkünstler, bald von dem ersten Gründen reden und bald vom dem daraus abgeleiteten, wenn du nämlich irgend etwas, wie es wirklich ist, finden wolltest. (…)“ (101 e).

Gerade die erkenntnisbegründende und auch praktische Funktion der Ideen führen zu mehrfachen Unsterblichkeitsbeweisen für die Seele im „Phaidon“.
Natürlich könnten jetzt viele Stellen bei Platon gebracht werden, nicht nur „Phaidon“, in denen der Anteil des Menschen  an der Vernunft beschrieben wird. Der Mensch ist nicht direkt der „logos“, er hat lediglich Anteil (logon echon) an ihm, weil er zwar einerseits Wahrheit nach PLATON immer schon besitzt (siehe z. B. den Dialog „Theaitetos“ 161 e), aber durch seine Fixierung auf das Sinnliche und das Individuelle sich durch Denken und Gespräch erst zur aktuellen Einsicht erheben muss. („Theaitetos, ebd. 157 c oder „Protagoras“ 333d) 

„Der Vollzug des Denkens (noein), dem ein entsprechendes Vermögen im Menschen zugrunde liegen muss (nous oder dianoia), wird daher bei PLATON insgesamt verstanden nicht nur als ein ununterbrochenes inneres Gespräch der Seele mit sich selbst über die Gegenstände, die sie betrachtet („Theaitetos, 189b – 190a), sondern auch als Dialog des äußeren Redens mit anderen Logoswesen zur Erlangung und Absicherung der Wahrheit, die jeder Mensch besitzt („Theaitetos“ 161e), und an deren denkerischer Entfaltung er nur durch die Bindung an das Stoffliche gehindert wird.“ (Armin Wildfeuer, Artikel Vernunft. Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 3, Freiburg 2011)

In der Seele (und der damit verbundenen Unzeitlichkeit und Unsterblichkeit derselben) ist das apriorische Vorwissen in einem  konstitutiven Vernunftakt gebündelt. DESCARTES nennt diesen Vernunftakt „cogito, sum“,  KANT nennt es „Ich denke“ der transzendentalen Apperzeption, FICHTE spricht von der Ichform des Wissens im Akt der „Tathandlung.“
Ich las  nach langer Zeit
wiederum den dramatischen „Phaidon“  und meine, etwa zehn Beweise für die Unsterblichkeit der Seele gefunden zu haben, abgeleitet aus der Grundeinsicht des Vernunftaktes. (Jeder Stelle verdiente eigentlich genauer kommentiert zu werden.)

1) Aus der Wiedererinnerungslehre und dem apriorischen Vor-Wissen der Ideen –  siehe die Kapitelbeschreibung in der Übersetzung von Schleiermacher, Kap. 17 – 19, ; 72 e – 75 e – kann auf die Zeitlosigkeit und Unsterblichkeit der Seele zurückgeschlossen werden.

2) Ebenfalls kann aus einer eher mythischen Vorstellung von einem vorgeburtlichem Sein der Seele und ihrer Wiedergeburt in den Menschen (Kap. 20 – 22; 75 e – 77 d) auf deren Unsterblichkeit geschlossen werden. (Platon könnte diese mythisch-religiösen Aspekte in Sizilien kennengelernt haben?)

Aus der  Reflexion des Denkens führen weitere Schlüsse zur Unsterblichkeit:

3) Aus einer Begriffsanalyse des Unveränderlichen bzw. des Gegenteils (Kap 25 78 b-79a)

4) Aus einer Begriffsanalyse des Sichtbaren und Unsichtbaren (Kap. 26 79 b)

5) Aus einer Selbstanschauung des Gleichen der Seele (Kap. 27, 79 c)

6) Aus theologischen Gründen (Kap 28 -29; 80 a – 81 a)

Es folgen  Vorstellungen über das Jenseits, über das Schicksal der unphilosophischen und der philosophischen Seelen, ferner ein Eingehen auf die Einwände von Simmias und Kebes. Sehr interessant finde ich die Abweisung der These, die Seele sei bloß eine Stimmung, wie die Saiten einer Leier (Kap 36 – 43). Die Seele hängt vielmehr mit einem sittlichen Begriff zusammen. Die Lehre der Naturphilosophen von den Ursachen sind für Sokrates bislang nicht befriedigend gewesen(Kap. 45). Naturwissenschaftlich können Ursachen letztlich nicht sicher angegeben werden (Kap,. 45). Schließlich geht er von äußeren Seinsbedingungen zu  apriorischen Erkenntnisbedingungen (Kap, 48), zum „Wesen der Dinge (99 e). Es folgen  Erläuterungen des ontologischen Status der Ideen Kap. 50 – 53. Sie können nicht zugleich als ihr Gegenteil angenommen werden. Allein  die Erkennbarkeit dieser Ideen zeigt eine geistige Teilhabe der Seele an ihnen an. 

7) Dies bedeutet wiederum für die Seele und ihrer Teilhabe an den Ideen, dass der Begriff des Lebens selber bereits ein innerlicher, seelischer Begriff ist. Weil dieses Prinzip aber zeitlos, apriorisch ist, bleibt die Seele auch nach dem Tod des Leibes lebendig. (Kap. 54)

8) Es folgen noch weitere Unsterblichkeitsbeweise der Seele aus dem  konstitutiven Vernunftakt: Wenn sie unsterblich ist, ist sie unvergänglich (Kap. 55)

9) Ferner können  theologische Begründungen für die Unsterblichkeit der Seele (Kap. 56) vorgebracht werden. Diese mythische Beschreibungen des Weges der Seele nach dem Tod des Leibes sind allerdings ein Wagnis – und scheinen PLATON  nicht so sicher  zu sein wie die Beweise der Philosophie. Er schränkt deshalb ein,  „obwohl sich das nicht gerade so verhalten müsse.“ (Kap. 63; 114d).  

10) Schließlich verweist SOKRATES nochmals auf die Zuhörer, dass sie sich selbst recht wahrnehmen mögen, „ihr mir und den meinigen und euch selbst alles zu Dank machen“ (Kap. 64, 115 b). In sich selbst können sie die apriorischen Wissensgründe für die Unsterblichkeit der Seele finden, sozusagen reine Vernunftgründe, ohne Rückgriff auf seine ( d. h. des SOKRATES‘) Autorität oder eine andere Überlieferung.

Schließlich folgen noch letzte Schilderungen der Leute, die bei Sokrates‘ Sterben Zeugen gewesen sind, letzte Vorkehrungen (z. B. ein Bad), das Zusammensein mit seinen Kindern, das Trinken des Giftbechers und der Tod.

II) Das ganze unräumliche, unzeitliche, apriorische Wesen und Wissen der Seele (als Beweis ihrer Unsterblichkeit) ist letztlich für PLATON in einem wohlgeordneten, systematischen Ganzen angesiedelt, in einem  qualitativen Totalitätsallgemeinen, worin Allgemeines und Bestimmtes vereinigt sind. Dieses Wissen eines qualitativen Totalitätsallgemeinen ist Bedingung der Möglichkeit aller Wissbarkeit  und verleiht allem Gewussten in konkreter Ableitung Sinn und Bedeutung.  

Zur Erläuterung dieses transzendentalen Grundprinzips im „Phaidon“ sei nochmals auf die von mir als erster Beweis zur Unsterblichkeit der Seele angeführte Argumentation eingegangen: Kap. 17 – 19; 72 e – 75 e 

S72e Und eben das auch, sprach Kebes einfallend, nach jenem Satz, o Sokrates, wenn er richtig ist, den du oft vorzutragen pflegtest, daß unser Lernen nichts anders ist als Wiedererinnerung (hoti hemin he mathesis ouk allo ti e anamnesis), und daß wir deshalb notwendig in einer früheren Zeit gelernt haben müßten 1, wessen wir uns wiedererinnern, und daß dies  S73a unmöglich wäre, wenn unsere Seele nicht schon war, ehe sie in diese menschliche Gestalt kam; so daß //IV110// auch hiernach die Seele etwas Unsterbliches sein muß.

Nicht mit einer bloßen Hypothese der Unsterblichkeit der Seele wird begonnen, sondern gleich in concreto und existentiell mit einer Sinneswahrnehmung in der Vergleichung zweier Hölzer. Ihre Gleichheit, aber auch ihre festgestellte Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, ist die realistische Basis einer sie, transzendental erschlossenen, tragenden, konstitutiven Vernunft-Idee.

Die realistische Basis und das idealistische Gedachtsein  zu trennen in Anschauung und Begriff, das führt zu einer Trennung zweier Welten, woraus der Chorismos-Vorwurf konstruiert wurde. Das ist aber nicht platonisch.  Höchst substantiell, in intellektueller Anschauung von Begriff und Sein, beziehen sich Ideen und sinnliche Wahrnehmungsgegenstände aufeinander.

S73a Aber, o Kebes, sprach Simmias einfallend, welche sind davon die Beweise? erinnere mich daran, denn in diesem Augenblick besinne ich mich nicht recht darauf. — Nur an den einen schönsten, sagte Kebes, daß, wenn die Menschen gefragt werden und einer sie nur recht zu fragen versteht, sie alles selbst sagen, wie es ist, da doch, wenn ihnen keine Erkenntnis einwohnte und richtige Einsicht, sie nicht imstande sein würden, dieses zu tun.

M. a. W. von mir beschrieben: Die aktuelle Gesprächssituation, sozusagen die praktisch-dialogische Erkenntnissituation, führt zu einem besonnenen Verfahren, zu einem transzendentalen Zurückgehen auf die Bedingungen der Wissbarkeit, wodurch eo ipso nicht nur diskursiv und analysierend etwas erkannt wird, sondern synthetisch wird etwas Neues supponiert und ein Begriff gefunden, dessen Idee in der Realisierung verifiziert werden kann.  Wenn ich etwas erkenne und wahrnehme, so nur mittels Begriffe und Ideen, die ich in concreto realisiere. Wenn mir das reflexiv bewusst ist, so „erinnere“ ich mich, dass die Ideen schon da gewesen sein müssen, ehe ich zu dieser Erkenntnis gekommen bin. Sie müssen unzeitlich „da“ gewesen sein.  Wenn ich Unzeitliches wissen kann, so muss ich daran Anteil haben können. In der „Wiedererinnerung“ werde ich mir dieser Teilhabe und der Unsterblichkeit bewusst.  

Und S73b wenn man sie zu den meßkünstlerischen Figuren führt oder etwas ähnlichem, so zeigt sich dabei am deutlichsten, daß sich dies so verhält. — Wenn du es aber so nicht glaubst, o Simmias, sagte Sokrates, so sieh zu, ob du uns, wenn du es etwa folgendermaßen betrachtest, beifallen wirst. Du zweifelst nämlich, wie doch das sogenannte Lernen könne Erinnerung sein? — Ich zweifle zwar, sprach Simmias, gerade nicht; nur eben dieses, wovon die Rede ist, bedarf ich erinnert zu werden; und fast schon aus dem, was mir Kebes versucht hat zu sagen, habe ich mich besonnen und glaube es. Nichtsdestoweniger aber würde ich jetzt gern hören, wie du es vorgetragen hast. —

S73c So ich, sprach er. Wir gestehen doch wohl, daß, wenn sich einer etwas erinnern soll, er dies vorher schon wissen muß. — Gewiß wohl. — Gestehen wir etwa auch dieses, daß, wenn einem Erkenntnis auf folgende Weise kommt, dies Erinnerung sei? ich meine aber diese Art, wenn jemand irgend etwas sieht oder hört oder anderswie wahrnimmt und er dann nicht nur jenes erkennt, sondern dabei noch ein anderes vorstellt, dessen Erkenntnis nicht dieselbe ist, sondern eine andere, ob wir dann nicht mit Recht sagen, daß er sich dessen nicht erinnere (hoti anemnesthe, 3. Pers. sg. aor. ind. pass), wovon er so eine Vorstellung (ten ennoian – pl. fem.)

S73d bekommen hat?

PLATON wird oft eine Art „Realismus“ der Ideen vorgeworfen, doch sehe ich gerade anhand dieses Beispiels  aus dem „Phaidon“ (und viele andere könnten hier noch angefügt werden), dass er sehr konsequent und stringent argumentiert. Die „realistische“ Annahme der Unsterblichkeit der Seele ist nicht dogmatisch und unbewiesen behauptet, sondern ist abgeleitet aus den Denkakten des Verstehens.  M. a. W. in der transzendentalen Einheit von Wissen und Sein ist der Geltungsgrund der Existenz-Folge einer Seele  der Möglichkeit nach eingesehen.  

Die Vorstellungen z. B. des Gleichen bei den Hölzern oder Steinen spiegeln nicht eine Zweiweltenlehre wider,  sondern sind apriorische Wissensbedingungen mit ontologische Konsequenzen: Durch die Einheit von Denken und Sein sind die Vorstellungen des Gleichen (oder auch Ungleichen, beides!) auf die sinnlichen Wahrnehmungen substantiell! bezogen, d. h. können darauf bezogen werden, und deshalb sind sie gleich und scheinen nicht bloß gleich. Es sind die transzendental angewandten Erkenntnisbedingungen zugleich ontologische Seinsbedingungen.  

S75b (….) Ehe wir also anfingen zu sehen oder zu hören oder die anderen Sinne zu gebrauchen, mußten wir schon irgendwoher die Erkenntnis bekommen haben des eigentlich Gleichen, was es ist, wenn wir doch das Gleiche in den Wahrnehmungen so auf jenes beziehen (anoisein – v. anaphero, hinaufbringen, auf etwas zurückführen, beziehen, Fut. Inf. Act.) sollten, daß dergleichen alles zwar strebt zu sein wie jenes, aber doch immer schlechter ist. — Notwendig nach dem Vorhergesagten, o Sokrates.

Durch  die substantielle und in weiterer Folge dynamische Beziehung der Ideen auf die Sinnendinge kommen deshalb auch werthaft-praktische  und sittliche Ausdrücke vor: „Zurückbleiben“, „schlechter“, „besser“.
Eine Sprachphilosophie tut sich bekanntlich mit solchen Komparativen unendlich schwer, weil sie keinen ideellen Zusammenhang und keinen ideellen Vergleich im Zweckbegriff bilden kann.  

S74a (…) Und nicht wahr, in allen diesen Fällen entsteht uns Erinnerung, das einemal aus ähnlichen Dingen, das anderemal aus unähnlichen. — So entsteht sie. — Aber wenn nun einer bei ähnlichen Dingen sich etwas erinnert, muß ihm nicht auch das noch dazu begegnen, daß er innewird, ob diese etwas zurückbleiben in der Ähnlichkeit oder nicht hinter dem, dessen er sich erinnert? — Notwendig, sagte er.

— Kurz zuvor: S74d Wie aber weiter, sprach er, begegnet uns wohl so etwas bei den gleichen Hölzern und andern, von denen wir eben sprachen; scheinen sie uns ebenso gleich zu sein wie das Gleiche selbst? oder fehlt etwas daran, daß sie nicht so sind wie das Gleiche, oder nichts? — Gar viel, sprach er, fehlt daran. — Müssen wir nun nicht gestehen, wenn jemand, der etwas sieht, bemerkt, dieses, was ich hier sehe, will zwar sein wie etwas gewisses anderes, S74e es bleibt aber zurück und vermag nicht so zu sein wie jenes, sondern ist schlechter, daß der, welcher dies bemerkt, notwendig jenes vorher kennen muß, dem er sagt, daß das andere zwar gleiche, aber doch dahinter zurückbleibe? — Notwendig. — Und wie? geht es uns nun so mit den gleichen Dingen und dem Gleichen selbst? — Auf alle Weise. — Notwendig also kennen wir das Gleiche schon vor jener S75a Zeit, als wir zuerst, gleiches erblickend, bemerkten, daß alles dergleichen strebe zu sein wie das Gleiche, aber doch dahinter zurückbleibe? — So ist es.

III) KANT wird ebenfalls diese Einheit von Vorstellung und Sein transzendental behaupten, (siehe KrV A 158),  doch wird er nicht diese Höhe von PLATON  erreichen. Er fasst die letzten transzendentalen Konstitutionsbedingungen der Erscheinungen nur mehr als regulative Ideen. Eine bloß regulativ erfassbare Idee hinter den Erscheinungen der Dinge kann aber nicht die Konstitutions- und Abgrenzungsbedingung für das Wissbare in den Erscheinungen abgeben. 
Oder, wenn ich konsequent den realistischen Standpunkt KANTS einnehmen würde, so dürfte KANT überhaupt von keinen regulativen Ideen sprechen, da unser Erkenntnisvermögen auf die sinnlichen Gegenstände und das Endliche eingeschränkt ist. Wozu noch regulative Ideen? Sie treten von selbst auf, erzeugen dialektischen Schein – aber gewähren keine Erkenntnis? Regulative Ideen führen zu einem Widerspruch. Entweder sind sie wahr oder nicht wahr. Wo bleibt die transzendentale Einheit, die Erkenntnis derselben als Wahrheit, die Bedingung der Möglichkeit ihres Wissens – wie bei PLATON?   

Wenn die Seele zeitlose Dinge einzusehen vermag, so muss sie selbst zeitlosen Bedingungen gemäß existieren. Die Wiedererinnerungslehre im Ganzen, konkreter ausgeführt als Assoziationskette, als „Zurückbleiben“ in der Ähnlichkeit (74 a), als „schlechterer“ Zustand im Vergleichen von Gleichheit und Ähnlichkeit, und schließlich sogar noch als praktisches, werthaftes Streben formuliert, all dieses apriorische Ideenwissen beweist eine substantielle Einheit von Denken und Sein in der Seele, eine theoretisch-praktische Einheit, die jenseits der sinnlichen Wahrnehmungen existieren muss.

Zum praktischen Streben in der Ideenlehre sei nochmals die bereits oben zitierte Stelle gebracht: 75 b Ehe wir also anfingen zu sehen oder zu hören oder die anderen Sinne zu gebrauchen, mußten wir schon irgendwoher die Erkenntnis bekommen haben des eigentlich Gleichen, was es ist, wenn wir doch das Gleiche in den Wahrnehmungen so auf jenes beziehen sollten, daß dergleichen alles zwar strebt (prothymeitai – v. geneigt sein, eifrig bestrebt sein, 3. Pers. sg. ind. med) zu sein wie jenes, aber doch immer schlechter ist. — Notwendig nach dem Vorhergesagten, o Sokrates.

Das platonische Totalitätsallgemeine, eine formal-materiale Einheit von Denken und Sein, begründet alle Erkenntnis.  Hinter allen Erscheinungen (gleich-ungleich) der Dinge dieser Welt oder aller sinnlichen Affekte muss ein  einziges und einiges Prinzip stehen, aus dem reflexiv alle diese Bestimmungen abgeleitet werden können. In einem konstitutiven Vernunftakt, hier eben ideell thematisiert anhand der Unsterblichkeit der Seele, ist  alles reflexiv erkennbar und in einem genus zu bestimmen.
Wahrheit ist transzendental erkennbar – und durch Teilhabe daran, chiffriert im Seelenbegriff,  kann analytisch und synthetisch, diskursiv und narrativ, diese Wahrheit in concreto angewandt und realisiert werden. 


(c) 27. 10. 2015 Franz Strasser

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1ananke pou hemas en protero tini chrono memathekenai“ – v. manthano – perf. inf. Akt – Das Perfekt meint normalerweise eine resultathaft, abgeschlossene Handlung; dem Sinne nach ist keine zeitliche Ermöglichungsbedingung gemeint, denn es würde zu einer unendlichen Iteration führen, wenn der „früheren Zeit“ eine noch frühere Zeit und eine noch frühere vorausginge.

 

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser