Cur deus homo. 2. Teil

1) „Cur deus homo“ ist ein bekanntes Werk von ANSELM – siehe Link. Darauf gehe ich hier nicht ein, nur die Frage nehme ich zum Anlass, um ĂĽber die apriorische Sinnidee, die in unserem Denken vorausgesetzt werden muss, einen Zugang zu einer möglichen Antwort „Warum Gott Mensch geworden ist“, zu erhalten.

Die Transzendentalphilosophie nach Kant und Fichte fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung bzw. Wissbarkeit.

Wie kann ich wissen, dass Gott Mensch werden konnte, wenn ich nicht im Nachhinein erst begründen will, er musste Mensch werden zwecks Tilgung der Erbschuld und alles Bösen?

Im Nachhinein zu begründen, das stellt immer wieder ein Relationsverhältnis zwischen dem philosophisch Absoluten (oder direkt und persönlich „theos“ angesprochen) und dem Denken des Vernunftwesen her, das so nicht zulässig ist und eher einiges an psychischen Projektionen des Vernunftwesens offenbart, als etwas über das Denken einer positiven Offenbarung aussagt.

Die Bedingungen der Erfahrung nach Kant schränke ich hier gleich ein auf seine Moralphilosophie und praktische Vernunft: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was kann ich hoffen?1 – so die drei Fragen am Ende der KrV – und die implizit damit gesetzte Ăśberleitung zur praktischen Vernunft und Moralphilosophie.

Das sage ich natürlich so schnell hin und es bedürfte jetzt vieler Ausführungen zum Denken des „höchsten Gutes“ und zur Einführung eines Kategorischen Imperativs durch das Sittengesetz und das Denken über praktische Vernunft als Autonomie.

Hat Kant in seinen Postulaten des Unbedingten, d. h.  in der Idee der Freiheit, der Unsterblichkeit und der Existenz Gottes, das genügend gesehen, was Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung ist und  ich unter „apriorischer Sinnidee“ zusammenfassen möchte? Hat Fichte in seiner Auffassung von Religion den Standpunkt der Moralität verlassen zugunsten einer positiven Offenbarung? 

2) Ich will Kant einmal zugestehen, dass er im Sittengesetz eine allgemeine, nicht eine individualistische Gesinnungsethik angestrebt hat – und das Sittengesetz soll als Wirkung in der Sinnenwelt sichtbar werden, ja muss sichtbar werden können – mit einer gewissen postulatorischen Absicherung im Denken des „höchsten Gutes“, das durch Gott in der intelligiblen Welt und durch  Unsterblichkeit herbeigefĂĽhrt werden kann. 

Aber, so jetzt meine Anfrage: die Realisierung des universalen und totalen Sittengesetzes – nicht unmöglich gedacht durch die transzendente! (Gottes) Denkmöglichkeit und ErfĂĽllbarkeit, ebenfalls nicht unmöglich gedacht als Modifizierbarkeit der Sinnenwelt durch unseren freien Willen – wenn solche freie Kausalität in der Erscheinung auch nicht bewiesen werden kann – ist solche Realisierung des Sittengesetzes ohne Einberechnung einer apriorischen Sinnidee oder Erlösungsidee, die im geschichtlichen Erinnerungsprozess wirksam ist, möglich? Die Bedingungen der Erfahrung – sie mĂĽssen unsere ganze Wirklichkeit umfassen, nicht nur begriffslogische Allgemeinheiten eines Sittengesetzes oder juridische Begriffe von freier Zurechenbarkeit. Zu dieser ganzen Wirklichkeit gehört  die ganze Widerständigkeit und Sinnwidrigkeit des Bösen, das wiedergutgemacht sein will. Wiedergutgemacht nicht im Sinne eines Gott jetzt wohlgefälligen und geforderten Opfers und einer fĂĽr Gott notwendigen SĂĽhne, sondern wiedergutgemacht fĂĽr die Opfer des Bösen selbst, fĂĽr die vielen Geopferten der Geschichte und der unschuldig oder schuldig Leidenden.

Die Notwendigkeit der Wiedergutmachung möchte ich als „apriorische Sinnidee“ zusammenfassen.

3) Die Sinnidee a priori widerspricht natürlich nicht den moralischen Grundsätzen eines Sittengesetzes, d. h. sie muss universell für alle von allen zu jeder Zeit annehmbar sein, ist aber doch eine spezifische geschichtliche Evidenz.2

Die Evidenz auf der faktischen Ebene der sinnlichen Erfahrung nach den Prinzipien der transzendentalen Erkenntnistheorie steckt die Grenzen der Natur ab; die Evidenz auf der interpersonalen Ebene offenbart bereits eine andere Art von Evidenz und steckt die Grenzen von Recht und Moralität, Achtung und Liebe ab; die religiöse Evidenz schließlich soll eine Grenze abstecken, die die Immanenz der Bewusstseinsbedingungen nicht schwärmerisch überschreitet, zugleich aber eine  subjektiv-objektive Wirklichkeit der Transzendenz in der Weise sichtbar werden lässt, dass eine überaus wiedergutmachende, positiv erfahrbare Wirklichkeit des Sinns erfahrbar wird, die zum apriorischen, rein sittlichen Gottesbegriff hinzukommt und passt. 

Die Sinnidee ist mehr als eine bloß moralische Achtungserfahrung, mehr als bloße Gesetzes-Moral. Ich würde sie  finden in den religiösen Weisheitslehren des Ersten Testamentes (bei aller Ambivalenz der verschiedensten Texte), mehr noch und deutlicher in den  Abschiedsreden JESU, siehe dort Joh 14-17, oder in diesem ganzen Zusammenhang von Tod JESU und seiner Auferstehung. 

Da alles Erkennen ein Bilden des Bildes vom Sein ist, so ist das Denken einer positiven Offenbarung ein Nach-Bilden eines Ur-Bildes, das apriorisch als Sinnidee im Denken zwar gebildet, aber als Nach-Bilden nur historisch aufgenommen werden kann. Die positive Offenbarung zwingt nicht, wiewohl sie einer bloĂź faktischen Moralität und Legalität und  sogar dem begriffslogisch „höchsten Gut“ spezifisch und positiv in der Wahrnehmung vorausgeht.  

4) Es tauchen bei Kant beim Denken des guten Willens und des Sittengesetzes Fragen und Probleme auf, die er unter „Dialektik“ der praktischen Vernunft und Antinomie der praktischen Vernunft einreiht. Man muss das „höchste Gut“ als gegenständliche Totalität zwar anstreben und denkerisch voraussetzen, begriffslogisch gefordert, es kann und darf aber keinen materialen Bestimmungsgrund des freien Willens durch das „höchste Gut“ geben.  3

Ă„hnlich zur KrV und der dort formulierten Antinomien formuliert Kant eine praktische Antinomie  und löst sie mit Verweis auf zwei Ebenen des Denkens auf: Vom Sittengesetz her ist die Wirkung des freien Willens auf die Sinnlichkeit zwar gefordert (noumenal), aber der Kausalität nach in der Sinnenwelt der Erscheinung  muss die Wirksamkeit einem transzendentem  Urheber von  intelligibler und sinnlicher Welt ĂĽberlassen werden.  Diese einerseits jenseitige (transzendente) Verschiebung und Hoffnung der Wirksamkeit des Sittengesetzes auf die sinnliche Welt hat den Vorteil, dass sie vor aller vorschnellen, aktuellen Einheit von Tugend und GlĂĽckseligkeit bewahrt – was ja politisch schaurige „GlĂĽcksvorstellungen“ heraufrufen könnte -, andererseits wird doch der natĂĽrlichen und notwendigen Forderung nach einem „höchsten Gut“ GenĂĽge getan. Noumenale wie sinnliche Welt werden vereint im Gottespostulat und in der Forderung der Unsterblichkeit und in der Hoffnung auf ein „höchstes Gut“. Aber wie werden sie hier vereint?

Ich folge den kurzen AusfĂĽhrungen von Hans-Georg Bensch:4
Bei Kant liegt eine doppelte Bestimmung des Unbedingten vor. Das Unbedingte a) als formales, moralisches Gesetz, das allein seinen Bestimmungsgrund in sich hat und b) als intelligibles Wesen, das gedacht werden können muss, als die Bedingung aller Bedingungen. Das ergibt aber einen Unterschied a) eines ursprünglich höchsten Gutes, letztlich Gott selbst, als Erfüllung, und eines b)  abgeleiteten, höchsten Gutes, das wir befördern sollen. Diese Doppelung ergibt das Antinomische im Denken und Handeln der praktischen Vernunft.

Die kritische Aufhebung der Antinomie, einerseits das Unbedingte formal zu wollen, andererseits doch die Voraussetzung und Wirksamkeit eines angestrebten „höchsten Gutes“ (bzw. auch „Glück/Glückseligkeit“ benennbar)  auf Gott zu projizieren, das führt Kant zu folgender Auflösung der Antinomie:

„(…) Der erste von den zwei Sätzen, dass das Bestreben nach GlĂĽckseligkeit einen Grund tugendhafter Gesinnung hervorbringe, ist schlechterdings falsch (sc. das wäre Heteronomie; nur aufgrund eines unbedingten Gesetzes kann der Wille sich selbst bestimmen); der zweite aber, dass Tugendgesinnung notwendig GlĂĽckseligkeit hervorbringe, ist nicht schlechterdings, sondern nur sofern sie als die Form der Kausalität in der Sinnenwelt betrachtet wird, und mithin, wenn ich das Dasein in derselben fĂĽr die einzige Art der Existenz des vernĂĽnftigen Wesens annehme, also nur bedingterweise falsch. Da ich aber nicht allein befugt bin, mein Dasein auch als Noumenon in einer Verstandeswelt zu denken, sondern sogar am moralischen Gesetze einen rein intellektuellen Bestimmungsgrund meiner Kausalität (in der Sinnenwelt) habe, so ist es nicht unmöglich, dass die Sittlichkeit der Gesinnung einen wo nicht unmittelbaren, so doch mittelbaren (vermittels eines intelligiblen Urhebers der Natur) und zwar notwendigen Zusammenhang als Ursache mit der GlĂĽckseligkeit als Wirkung in der Sinnenwelt habe, …“ (Hervorhebung von mir, KpV, Bd. VII, S 243)

Meine Anfrage: Wenn ich nur postuliere, dass Gott und Unsterblichkeit die Kongruenz zwischen formalem Sittengesetz und freier Wirksamkeit und Modifizierbarkeit der Sinnenwelt sicherstellen – ein sicherlich hoher Gedanke, weil er, wie gesagt,  vor vorschneller aktueller Einheit bewahrt wird – so frage ich mich: 1.) Wann darf und muss ich auf die noumenale Ebene der Denkbarkeit springen, d. h. nur logisch schlieĂźen, und wann darf ich auf der phänomenalen Ebene bereits einen Nexus zwischen Sittlichkeit und ErfĂĽllung (des höchsten Gutes, des GlĂĽcks/der GlĂĽckseligkeit) erkennen und spĂĽren? Ferner 2.) Gibt es nicht schon einen dauernden, sei es positiv oder negativ erfahrenen, zeitlichen Sinn wie Widersinn in jeder Freiheitsentscheidung? und 3) Ist in diesem geforderten Postulat des „höchsten Gutes“ nicht eine konkrete, historische positive Offenbarung zu erkennen, die notwendig jeder vorläufigen Sinnsuche und Sinnerfahrung oder Aufhebung einer Wider-Sinnerfahrung und des Bösen vorausgehen muss?

Es fallen, wenn ich vorausblicke auf Fichte, bei Kant die Einheit von Anschauung und Verstand auseinander. Nur begrifflich wird eine Sinnerfahrung postuliert, etwas vertrackt als GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit nach dem MaĂźe der WĂĽrdigkeit abgeleitet, aber das bleibt bloĂź erhofft und transzendent.

Mangels Erkennbarkeit der disjunktiven Einheit von Anschauung und Verstand in der ursprünglich produzierenden Einbildungskraft entgeht Kant die aktuelle Gegenwarts- und Zeitbindung allen Wollens und aller Willkür und aller notwendige Anschauungscharakter in der Vorstellung von Totalität.

Anders gesagt: Die Antinomie des Denkens a) eines formal unbedingten Gesetzes fĂĽr die moralische Selbstbestimmung und einer b) doch irgendwie sinnlich wirksam sein sollenden Moralität im Begriff des „höchsten Gutes“ – das lässt sich nur mit einer vollständigen Erkenntnisphilosophie lösen. Die fichtesche Lösung heiĂźt: Im Seh-Akt des Sich-Wissens ist notwendig bereits ein Handlungszusammenhang und ein Zeitzusammenhang gesetzt, sodass „höchstes Gut“ und „Sittengesetz“ nicht abstrakt und fĂĽr ein Jenseits gesetzt sein können, sondern hier und heute in Wirksamkeit und zeitlicher Erfahrung einsehbar sein mĂĽssen.5

Kant verfällt in der theoretischen wie in der praktische Philosophie in die unauflösliche Alternative zweier logischer Identitätssetzungen: 6
In der praktischen Philosophie: a) Das moralische Gesetz als unbedingtes formales Gesetz ist die Freiheit des Willens; das Gesetz geht zuerst auf die Gesinnung des Wollens und der Willkür, nicht auf ein materiales „höchstes Gut“ (oder „Glück/Glückseligkeit“).
b) Da aber das „höchste Gut“ („Glück/Glückseligkeit“) ebenfalls anzustreben und zu befördern ist, ergibt sich eine Antinomie, dass der Wille zwar denknotwendig auf das „höchste Gut“ gehen müsse, das aber dann doch nicht könne und dürfe, weil das widerspricht seiner eigenen, formalen, unbedingten Selbstgesetzgebung. Beide Male wird faktisch etwas gesetzt: Faktisch ist sowohl das unbedingte Gesetz vorgegeben – und faktisch handelt der Wille. Auf der Ebene der Faktizität bleibt logisch die Antinomie.
Die etwas halbherzige Lösung bei Kant: c) Der Wille kann nur so auf das „höchste Gut“ („Glück/Glückseligkeit“) gehen, indem er sich noumenal der intelligiblen Sphäre des unbedingten moralischen Gesetzes verpflichtet weiß, zugleich aber die Wirkung seiner moralischen Selbstgesetzgebung und seines Strebens von der einheitlichen Ursache von noumenaler wie sinnlicher Welt erwartet, sprich  von Gott erwartet.  Gott als Schöpfer der sinnlichen wie intelligiblen Welt (und die Unsterblichkeit der Seele) wird die Antinomie lösen und wird das Streben erfüllen.

Woher weiß Kant, dass er faktisch einmal auf das unbedingte Sittengesetz sich beziehen soll, noumenal, das andere Mal doch auf das „höchste Gut“ reflektieren muss, transzendent postuliert, aber phänomenal nicht in der Zeit ablesbar? Der Akt zweier  Identitätssetzungen, die beidemal im Erkenntnis-Akt faktisch gesetzt ist, ist er zugleich und gleichzeitig beides?  

Fichte wird Zeit und Raum begrifflich notwendig aus dem Handeln ableiten. Die Zeit und der zugleich zu setzende, bestimmbare Raum sind konstitutiv im Bewusstsein ableitbar. Eine Sinnerfüllung, von der niedersten bis zur höchsten Ebene der Sinn-Erfahrung, muss notwendig  in der Zeit und im Raum wahrgenommen werden können, wenn das Ich sie bewusst wissen können soll. Zeit und Raum sind existentielle Folgewirkungen im Erkenntnisakt, folglich gehören sie konstitutiv bereits zum Erkennen. Erkennen ist umfassendes Erkennen, nicht nur naturales oder logoshaftes, sondern auch geschichtliches und sinnhaftes Erkennen von allen für alle zu jeder Zeit. 

5) R. Lauth sagt, Kant habe die Postulate von Gott und Unsterblichkeit der Seele methodisch nicht eingeholt – siehe Blog 1. Teil.

Es wird im Bewusstsein und Denken immer schon eine genetische Einheit einer Universalität und Totalität des Sittengesetzes vorausgesetzt, zeitlich und räumlich als  synthetische Sinnidee a priori.

Interessanterweise spricht Kant in der Formulierung der Dialektik der praktischen Vernunft am Ende dieses Kapitels ebenfalls von einer geforderten synthetischen Lösungsmöglichkeit (unbedingtes Gesetz/höchstes Gut).  Diese Synthesis von Freiheit des Willens und höchstem Gut löst er aber nicht prinzipiell, sondern nur in verschiedener Hinsicht. Die Synthesis a priori wäre eine Einheit im Erkenntnisakt selbst, die von sich her ebenso zeitliche und räumliche Wirksamkeit zeigt, d. h. zur Realisierung von Erkenntnis überzugehen vermag.  

Kant  denkt die Synthesis faktisch und bloĂź begrifflich, einmal fĂĽr das unbedingte Gesetz, dann wieder fĂĽr das „höchste Gut“. Begriffslogisch scheint alles geregelt, d. h. aber hier, es ist schon alles vor-entschieden, das unbedingtes Gesetz bestimmt die autonome Freiheit und die Wirksamkeit, aber die zeitliche und räumliche Modifizierbarkeit der Sinnenwelt nach dem Ideal des „höchsten Gutes“ wird dem Begriff Gottes und der Transzendenz ĂĽberlassen. 

Ich bringe hier das längere Zitat zur Synthesis a priori von freiem Willen und „höchstem Gut“. Sehr interessant und gut formuliert, aber mit dem Manko, wie Kant selber irgendwie bedauert?,  „folglich nicht aus der Erfahrung abgeleitet“:

„Nun ist aber aus der Analytik klar, daß die Maximen der Tugend und die der eigenen Glückseligkeit in Ansehung ihres obersten praktischen Prinzips ganz ungleichartig sind, und, weit gefehlt, einhellig zu sein, ob sie gleich zu einem höchsten Guten gehören, um das letztere möglich zu machen, einander in demselben Subjekte gar sehr einschränken und Abbruch tun. Also | bleibt die Frage: wie ist das höchste Gut praktisch möglich, noch immer, unerachtet aller bisherigen Koalitionsversuche, eine unaufgelösete Aufgabe. Das aber, was sie zu einer schwer zu lösen- den Aufgabe macht, ist in der Analytik gegeben, nämlich daß Glückseligkeit und Sittlichkeit zwei spezifisch ganz verschiedene Elemente des höchsten Guts sind, und ihre Verbindung also nicht analytisch erkannt werden könne (daß etwa der, so seine Glückseligkeit sucht, in diesem seinem Verhalten sich durch bloße Auflösung seiner Begriffe tugendhaft, oder der, so der Tugend folgt, sich im Bewußtsein eines solchen Verhaltens schon ipso facto glücklich finden werde), sondern eine Synthesis der Begriffe sei. Weil aber diese Verbindung als a priori, mithin praktisch notwendig, folglich nicht aus der Erfahrung abgeleitet, erkannt wird, und die Möglichkeit des höchsten Guts also auf keinen empirischen Prinzipien beruht, so wird die Deduktion dieses Begriffs transzendental sein müssen. Es ist a priori (moralisch) notwendig, das höchste Gut durch Freiheit des Willens hervorzubringen; es muß also auch die Bedingung der Möglichkeit desselben lediglich auf Erkenntnisgründen a priori beruhen.“(Hervorhebungen von mir, KpV, Bd. VII, S 241)

6) Da aber doch ein Übergang von der gesuchten reinen praktischen Vernunft zur sinnlichen Wirksamkeit des freien Willens gefunden werden muss, wählt Kant, wie bekannt, den Weg des Begriffes der „Achtung“, wodurch intelligible Moralgesetzgebung und sinnliche Erfahrungsebene zusammengehen sollen.7

Kant will offensichtlich das unbedingte Gesetz doch zugleich als Anwendungsprinzip (principium diiudicationis und principium executionis) in der „Achtung“ eines anderen Vernunftwesen realisieren – um einer von vornherein unmöglichen Einlösung (unmöglicher Wirksamkeit) eines unbedingten Gesetzes in der phänomenalen Welt  bzw. einer bloĂźen Vertröstung auf das Jenseits, zu entgehen. 

Es sind ihm in seiner Natur- und Vernunftauffassung  die Zeitgenossen bald nicht mehr gefolgt – Rehberg, Schmid, Maimon, Reinhold, Fichte, weil der freie Wille sich in diesem Zwiespalt von noumenaler und sinnlicher Welt bald machtlos zeigen sollte. Er soll sowohl auf das faktisch gesetzte, unbedingte Sittengesetz hören, als auch auf die „Triebfeder“ der Achtung RĂĽcksicht nehmen und die sinnlichen Triebfedern zumindest als negative Folie einbeziehen und davon abhalten. 

Die Frage der Zurechenbarkeit der Freiheit zu einer guten wie bösen Tat, sozusagen die Hauptgedanken dann in RGV und in der MdS (1797/98),  kann vielleicht noch mit den zwei Ebenen noumenal/phänomenal rechnen, das mag für juridische Entscheidungsfragen noch hinreichen, aber die ganze Vernunftnatur und der ganze Erkenntnisakt, er setzt zeitlich und räumlich die Einheit einer apriorischen Sinnerfahrung, geschichtlich wahrnehmbar,  voraus, will er theoretisch und praktisch die Erkenntnis realisieren.  

Das Vernunftdenken wurde von REINHOLD  durch den Begriff der „Person“ auf eine neue, über Kant hinausführende, freiheitstheoretische Ebene gestellt. Der Wille ist keine praktische Vernunft. Die Gesetze der sinnlichen Natur und der Vernunft bestimmen (inklinieren) zwar den Freiheitsgebrauch, doch nötigen (necessitieren) sie nicht den Willen und die Freiheit der Person. Es gibt zwei Triebfedern das Handelns, den eigennützigen Trieb der Sinnlichkeit und den uneigennützigen Trieb der Achtung, die wesentlich gemeinschaftsorientiert, d. h. personal und interpersonal strukturiert sind. Freiheit ist so nicht bloß innere Abwägung und Maxime und Willkür im Akt der Gesinnung, sondern Freiheit wirklicher Menschen, die naturtheoretisch und sinnlich und intelligibel sowohl im eigennützigen wie im uneigennützigen Trieb verbunden sind und zusammenhängen. 

Die eigentliche Lösung der obigen Antinomie – unbedingtes Sittengesetz versus freier Wille mit der Forderung des „höchsten Gutes“ – kann nicht im dialektisch-täuschenden Wechsel der Ebenen liegen, einmal Beurteilung der noumenalen Wirklichkeit, dann Beurteilung der phänomenalen Ebene, sondern grundsätzlich muss erklärt werden können, wie es zu diesen zwei Sichtweisen genetisch kommen kann im Akt des Sich-Wissens – und wie sie in der Wurzel eine Einheit sind. 

Die Vermittlung der subjektiv-objektiv Sichtweisen der Wirklichkeit im Ganzen  – so jetzt die transzendental gefolgerte  Idee nach R. LAUTH – geschieht in der akthaften Einbeziehung der Zeit und des Raumes, mithin durch einen Geschichtsbegriff  – durch den Sinnbegriff a priori. 

Der Sinnbegriff ist im Zweckdenken immer gesetzt, ebenso, wenn auch davon unterscheidbar, die Linie der Zeit und des Raumes.
In jedem lebendigen Naturwesen, im Denken von anderer Freiheit, im Handeln nach moralischen Maximen, im Sich-Anvertrauen in religiöser Freiheit – es ist immer schon ein Zwecke und ein Sinn gesetzt, sei es rein bezogen auf eine naturkausale Wirksamkeit, oder sei es bezogen auf eine Reihe freier Entscheidungen. Natural, rechtlich, moralisch, medial, geschichtlich. (Siehe Blog zum Sinnbegriff an sich, eine kritische Anfrage an die Systemtheorie, Husserl und Luhmann,  in der  Besprechung von TdB, 1811. Siehe z. B.
Link 1. Teil)

Cur Deus homo – war meine Ausgangsfrage. Die Antwort, die sich mir bietet: a) In der apriorischen Vernunftoffenbarung Gottes, wie sie als transzendente Denkmöglichkeit realer Wirksamkeit von sittlicher Freiheit und Modifizierbarkeit der sinnlichen Welt bei Kant postuliert worden ist, liegt ebenso b) eine freiheitstheoretische, Zeit und Raum hervorbringende intelligible und sinnliche Wirksamkeit beschlossen, eine appositionelle Sinnordnung, die die Entscheidungsfreiheit bietet, nach einer unbedingten Sinnerfahrung  und einer Restitution aller Widersinnerfahrung Ausschau zu halten, mithin einen Begriff einer positiven Offenbarung zu erwarten. 

Eine unbedingte Sinnerfahrung wie eine Restitution alles Bösen kann nicht durch eine bloße Korrektur einer verkehrten Maxime im Verhältnis zum Sittengesetz  geleistet werden. Das wäre zu wenig. Sie muss notwendig in ihrer Totalität auch zeit- und raumbezogen und geschichtlich erfahrbar sein, sonst ist der Begriff einer Universalität und Totalität der Erkenntnis nicht denkbar.  

Selbst bei aller maximengerechten Formung des Willens nach dem Sittengesetz (Kant) bzw. Wollen des Guten (bei Fichte), selbst bei angenommenen Idealfall, bleibt die geschichtliche Last und Schwere geschehener Sinnwidrigkeiten, die als solche nach Satisfaktion und Restitution verlangen, erhalten. 

7) Der christliche Glauben verkündet diese Aufhebung des Bösen und des Todes in dem über das moralische Gesetz hinausgehenden Opfers der Stellvertretung und der Vergebung. Der freie Wille des Gottmenschen JESUS CHRISTUS war nicht genötigt zu einer Befolgung eines unbedingten, formalen Sittengesetz, sozusagen von Gott bedroht, von Gott zur Sühne gefordert, und verpflichtete sich doch zu einem inhaltlichen Sinnbegriff des unbedingten Gesetzes für alle von allen zu allen Zeiten, in Freiheit zurechenbar und entscheidbar, beschreibar als Idee der Vergebung oder Idee der Erlösung. 
Dies war  ein synthetischer Akt der höchsten Wert- und Sinn-Erkenntnis.

Cur Deus homo, war meine Frage. Nicht weil Gott gezwungen gewesen wäre oder Gott besänftigt hätte werden mĂĽssen,  sondern weil ein individuelles Vernunftwesen historisch von sich her frei wollte, dass der moralische Begriff von Gott sich bewähre – und so wird zurĂĽckgeschlossen, „war dieser Mensch Gottes Sohn“ (Bekenntnis des römischen Soldaten beim Kreuzestod Christi.) SĂĽhne und Wiedergutmachung, nicht weil Gott es verlangt hätte, sondern fĂĽr die Menschen, fĂĽr die Welt, geschah die Wiedergutmachung. 

Cur Deus homo – das ist nicht analytisch wissbar, aber synthetisch a priori erkennbar in der alles ĂĽberragenden sittlichen Tat der Person JESU CHRISTI. Dies ist nicht rein begriffslogisch behauptet, sondern transzendentallogisch erkennbar, insofern in jedem theoretischen wie praktischen Akt der Erkenntnis notwendig die zeitlichen und räumlichen und geschichtlichen Realisierungsbedingungen mitgesetzt sind – und diese haben die ersten Christen ĂĽberzeugt, der Tod am Kreuz und nochmals bestätigt und bekräftigt, die Auferstehung. 

Die positiven Offenbarung widerspricht nicht der apriorischen Vernunftoffenbarung, im Gegenteil, weil im Aktcharakter der Erkenntnis  notwendig eine appositionelle Zeit- und Raumordnung und geistige Sinn- und Interpersonalgemeinschaft gesetzt ist, kann die apriorische Vernunftoffenbarung Gottes genetisch übergehen zur Interpersonalität und geschichtlich-positiven Offenbarung. Umgekehrt muss sogar gesagt werden: Erst durch eine positive Offenbarung kann auf eine apriorische Vernunftoffenbarung  mit Gewissheit zurückgeschlossen werden, dass der Begriff Gottes wahr ist, weil er sich zeitlich und räumlich und interpersonal und in höchster Liebe am Kreuz  bewährt hat und sich weiterhin  bewähren kann, sofern im Glauben diese Wahrheit angenommen und aufgenommen wird.  

Anders gesagt: Gott musste sich nicht offenbaren, weil der Mensch gesĂĽndigt hat, das wäre eine begriffslogische, analytische Erklärung. Wenn der Mensch sich aber in seiner Freiheit und zugleich Ohnmacht und, biblisch gesprochen, „SĂĽndhaftigkeit“ (nicht unbedingt gleich irgendwie als kleines schuldhaftes Versagen zu banalisieren) erkennt und sieht, verlangt er ebenfall nach einer Wiedergutmachung, fĂĽr sich selber, nicht fĂĽr Gott. Diese Erlösung und apriorische Sinnidee fanden die ersten Christen in der Person JESU CHRISTI, in seinem ganzen Lebenswerk, zuletzt in seinem Tod am Kreuz und in dessen Erfahrung der Auferstehung. Die apriorische Vernunftoffenbarung Gottes bekam eine geschichtliche, durch Erfahrung und Wahrnehmung beglaubigte, positive BegrĂĽndung und Rechtfertigung.

Der „sĂĽndige“, verlorene, den vielfältigen Mächten des Bösen ausgesetzte Mensch geht im Aktcharakter seines Erkennens und Handelns notwendig zu einer zeitlichen und räumlichen und freiheitsbedingten Anschauung ĂĽber, wenn er frei bleiben und noch irgendwie einen letzten Rest von Selbstachtung und Achtung des anderen bewahren will,  und hält Ausschau nach Rettung und Erlösung. Gäbe es keine positive Offenbarung des Guten und der Vergebung, wäre das fragmentarisch gute Handeln und Wollen im implikativen und appositionellen Setzen letztlich reine Sysiphosarbeit und vergeblich. 
Und mehr noch: Im Aktcharakter der Erkenntnis wird eine notwendige, freie,  zeitliche Reihe von zusammenhängender Freiheit zum Guten wie Bösen aufgebaut. Je größer die  Last des Bösen ist, umso strukturell schwerer – nicht prinzipiell –  wird es, das Gute zu wählen. Je bedrängender das Böse in der Geschichte ist,  umso dringender wird es fĂĽr alle von allen zu jeder Zeit nach einer apriorischen Sinnidee der Erlösung zu verlangen – aus Freiheit. 

Will das Vernunftwesen „Mensch“ frei und appositionell sich frei entscheiden können, in der aktuellen Präsenz wie fĂĽr die Zukunft, braucht er  eine synthetische Sinnidee a priori – und eine geschichtliche Erfahrung von Erlösung und Wiedergutmachung,  die prinzipiell seiner reflexiven Natur entspricht, sprich seiner Menschennatur, aber nicht frangiert ist von letztem Zweifel.  Tritt sie ein – die Sinnidee und die Erlösung – ist sie synthetisch nach dem Moralprinzip und nach einer geschichtlichen Implikations- und Appositionsakten prĂĽfbar und erkennbar – und vermag zur pertinenten Sinnidee des ganzen zeitlichen Daseins zu werden.  

Negativ gesagt: Gäbe es keine apriorische Sinnidee und Idee der Erlösung, wäre das praktische Streben des Vernunftwesen in der ganzen zusammenhängende „Kette“ der Freiheit und Zeit (und des Raumes) praktisch ewig ungewiss, letztlich  sinnlos, und die Anhäufung des Bösen verhindere immer mehr mehr die freie Entscheidung, das Gute zu wollen und zu tun. 

Es ist als tragisch zu bezeichnen: Dass weder Kant noch Fichte, die so stark die Immanenz der Reflexion und die Transzendenz Gottes  verknüpfen wollten, das notwendige Denken von Erlösung zureichend eingeholt haben. Eine bloß  begriffslogische Vermittlung von Willen und höchstem Gut (Kant) oder das praktisches Streben nach dem moralisch Guten (Fichte) genügt nicht, die Wirklichkeit im Ganzen zu begreifen: Der Seh-Akt des existentiellen Wollens (der Liebe, des Leidens) verlangt einen Seh-Akt, der notwendig die Anschauungsbedingungen des Guten wir Bösen mitreflektiert.

Zusammengefasst: Mit dem Sittengesetz ist notwendig Erlösung postuliert, die Notwendigkeit einer positiven Offenbarung zu Bedingungen der Erkennbarkeit und Zurechenbarkeit. 8

(c) Franz Strasser, 3. Jän. 2024 (Heiligster Name Jesu) 

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1 KrV, A 805/B 833, II. Transzendentale Methodenlehre, 2. Hauptstück. Der Kanon der reinen Vernunft, 2. Abschnitt. Von dem Ideal des höchsten Guts, als einem Bestimmungsgrunde des letzten Zwecks der reinen Vernunft.

2 Ich muss mich hier zwar einer näheren Beschreibung der „Sinnidee“ überheben, aber natürlich versammle ich darunter nicht eine bloße therapeutische Leistung oder eine ästhetische Nebenwirkung, sondern das überaus kritische Potential sowohl von höchstem Glück, Leben, Liebe, wie Satisfaktion alles Bösen und Restitution aller Sinnwidrigkeit, des Schmerzes, des Todes.

3 „Wie im spekulativen Gebrauche der reinen Vernunft jene natürliche Dialektik aufzulösen und der Irrtum aus einem übrigen natürlichen Scheine zu verhüten sei, kann man in der Kritik jenes Vermögens ausführlich antreffen. Aber der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauche geht es um nichts besser. Sie sucht als reine praktische Vernunft zu dem Praktisch-Bedingten (was auf Neigung und Naturbedürfnis beruht) ebenfalls das Unbedingte, und zwar

nicht als Bestimmungsgrund des Willens, sondern, wenn dieser auch (im

moralischen Gesetze) gegeben worden, die unbedingte Totalität des

Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft, unter dem Namen des höchsten Guts (KpV, Ausgabe Weischedl, Bd. VII, S 194)

Zum Begriff des „Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ siehe bei Kant bereits lange AusfĂĽhrungen vorher – KpV, Bd. VII, S 174ff., ehe er zu diesem Problem der Dialektik und Antinomie kommt, ebd. S 193ff)

4Hans-Georg Bensch, Das höchste Gut in Kants Kritik der reinen Vernunft im Unterschied zur Kritik der praktischen Vernunft. Download bei academia.edu., ebd. S 10.

5 Siehe dazu schon einen Blog von mir zu der theoretischen Teilungs-Antinomie nach Kant, und warum er sie nicht lösen konnte, d. h. ausgelegt nach J. Widmann, Der Weg zur Transzendentalphilosophie 3. Teil,  Abschlussteil.

6 Kant sagt ausdrĂĽcklich, dass diese Dialektik der praktischen Vernunft der Dialektik der KrV gleich kommt. Die Auflösung ist ähnlich, noumenale oder phänomenale Sichtweise – (vgl. KpV, Bd. VII, S 243). Es bleibt die Spaltung im Prinzip.

7Das Gefühl der „Achtung“ wird in der KpV im „Dritten Hauptstück. Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft“ ausführlich beschrieben. Siehe ebd. KpV, Bd. VII, S 127ff. „(…) Da dieses Gesetz aber doch etwas an sich Positives ist, nämlich die Form einer intellectuellen Causalität, d.i. der Freiheit, so ist es, indem es im Gegensatze mit dem subjectiven Widerspiele, nämlich den Neigungen in uns, den Eigendünkel schwächt, zugleich ein Gegenstand der Achtung und, indem es ihn sogar niederschlägt, d.i. demüthigt, ein Gegenstand der größten Achtung, mithin auch der Grund eines positiven Gefühls, das nicht empirischen Ursprungs ist und a priori erkannt wird. Also ist Achtung fürs moralische Gesetz ein Gefühl, welches durch einen intellectuellen Grund gewirkt wird, und dieses Gefühl ist das einzige, welches wir völlig a priori erkennen, und dessen Nothwendigkeit wir einsehen können.“ (KpV Bd. VII, S 130f)

8R. LAUTH, Der Sinnbegriff in Kants praktischer Postulatenlehre, a. a. O. 136. Ich erinnere mich an Vorlesungen von Prof. LAUTH, in denen er das Manko einer Erlösungsidee deutlich und drastisch ausführte. Die vollendete Vernünftigkeit in einem System der Philosophie, wie es die Transzendentalphilosophie sein will, worin sowohl die Apriorität des Denkens wie die Einmaligkeit des Geschichtlichen (der Aposteriorität) gewahrt bleiben will, hat den Gedanken der Schuld und Sühne nicht mehr integriert. Vgl. Auch R. LAUTH, Jacobis Vorwegnahme romantischer Intentionen. In: Transzendentale Entwicklungslinien, 311-313.

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser