1) „Cur deus homo“ ist ja bekanntlich das berühmte Werk von ANSELM – siehe Link.
Diese Formulierung nehme ich zum Anlass, weiter über die apriorische Sinnidee nachzudenken und eine Antwort zu geben auf „Cur deus homo“.
Der 1. Teil der Herausarbeitung der notwendigen Sinnidee a priori nach R. Lauth ist fĂĽr mich das schlagende und einsichtige Argument.
Was ich hier sagen will: Es ist direkt als tragisch zu bezeichnen, dass weder Kant noch Fichte, die so stark die Immanenz der Reflexion und die Transzendenz Gottes verknüpfen wollten, das notwendige Denken von Erlösung zureichend eingeholt und erkannt haben.
Eine bloß begriffslogische Vermittlung von Willen und höchstem Gut (Kant) oder das praktisches Streben nach dem moralisch Guten (Fichte), exemplarisch fĂĽr Fichte in Jesus Christus sogar sichtbar geworden, genĂĽgen nicht, die Wirklichkeit im Ganzen zu begreifen: Der Seh-Akt des existentiellen Wollens (der Liebe, des Leidens) verlangt einen Seh-Akt, der notwendig die Anschauungsbedingungen des „höchsten Gutes“ (das Gutsein, „der Gute) in Zeit und Geschichte reflektiert und als pertinente Sinnidee in das Wissen aufnimmt. Warum ist das Kant entgangen – und warum hat Fichte das nicht stärker einbezogen?
2) Vielleicht liegt das daran? Bei Kant ist mir folgendes aufgefallen: Er schreibt einmal von einer „Antinomie der praktischen Vernunft“, die einerseits die Lösung durch eine positive Offenbarung in unmittelbare Nähe gerückt hätte, andererseits genau in dieser halbherzigen Auflösung der Antinomie die positive Offenbarung erst recht weit entfernte. (Zitate wieder in rot hervorgehoben).
„Wie im spekulativen Gebrauche der reinen Vernunft jene natürliche Dialektik aufzulösen und der Irrtum aus einem übrigen natürlichen Scheine zu verhüten sei, (sc. dass zu allen Bedingungen die unbedingte Bedingung zu suchen sei), kann man in der Kritik jenes Vermögens ausführlich antreffen. Aber der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauche geht es um nichts besser. Sie sucht als reine praktische Vernunft zu dem Praktisch-Bedingten (was auf Neigung und Naturbedürfnis beruht) ebenfalls das Unbedingte, und zwar nicht als Bestimmungsgrund des Willens, sondern, wenn dieser auch (im moralischen Gesetze) gegeben worden, die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft, unter dem Namen des höchsten Guts (KpV, Ausgabe Weischedl, Bd. VII, S 194) (Hervorhebung von mir.) 1
Was ist das Problem? Ich will Kant einmal zugestehen, dass er im Sittengesetz eine allgemeine, nicht eine individualistische Gesinnungsethik anstrebt, d. h. dass dem Sittengesetz nicht ein bloĂź subjektives BedĂĽrfnis zugrunde liegt. Ferner soll das moralische Sittengesetz als Wirkung in der Sinnenwelt sichtbar werden können, wenn schon nicht direkt nachweisbar, so doch indirekt möglich durch die transzendente Idee Gottes und als „regulative“ Idee eines Postulates – und im Jenseits erhofft als Idee der Unsterblichkeit.
Anders gesagt: Da eine Realisierung des Sittengesetzes in der Sinnenwelt offensichtlich nicht (immer) gelingt, ist mit einer gewissen postulatorischen und transzendenten Absicherung die Möglichkeit eines „höchsten Guts“ doch gegeben.
Siehe hier Kants Argumentation, wenn auch vertrackt, begrifflich korrekt:Â
„(…) Der erste von den zwei Sätzen, dass das Bestreben nach GlĂĽckseligkeit einen Grund tugendhafter Gesinnung hervorbringe, ist schlechterdings falsch (sc. das wäre Heteronomie; nur aufgrund eines unbedingten Gesetzes kann der Wille sich selbst bestimmen); der zweite aber, dass Tugendgesinnung notwendig GlĂĽckseligkeit hervorbringe, ist nicht schlechterdings, sondern nur sofern sie als die Form der Kausalität in der Sinnenwelt betrachtet wird, und mithin, wenn ich das Dasein in derselben fĂĽr die einzige Art der Existenz des vernĂĽnftigen Wesens annehme, also nur bedingterweise falsch. Da ich aber nicht allein befugt bin, mein Dasein auch als Noumenon in einer Verstandeswelt zu denken, sondern sogar am moralischen Gesetze einen rein intellektuellen Bestimmungsgrund meiner Kausalität (in der Sinnenwelt) habe, so ist es nicht unmöglich, dass die Sittlichkeit der Gesinnung einen wo nicht unmittelbaren, so doch mittelbaren (vermittels eines intelligiblen Urhebers der Natur) und zwar notwendigen Zusammenhang als Ursache mit der GlĂĽckseligkeit als Wirkung in der Sinnenwelt habe, …“ (Hervorhebungen von mir, KpV, Bd. VII, S 243)
Die Realisierung des Sittengesetzes, oft vereitelt und nicht einsehbar, sie ist nicht unmöglich oder widersprüchlich durch die transzendente! Denkmöglichkeit und Erfüllbarkeit mittels „intelligiblen Urhebers der Natur“.
Der noumenale Bestimmungsgrund des Willens, der im Sittengesetz aufleuchtet, ist mittelbar ĂĽber den Begriff des „höchsten Gutes“ und durch das Postulat der Gottesidee und die Unsterblichkeit der Seele garantiert und, wenn man so sagen will, geschĂĽtzt und sanktioniert.
Diese jenseitige (transzendente) Verschiebung und Hoffnung auf eine Wirksamkeit des Sittengesetzes hat sogar den groĂźen Vorteil, dass sie im Diesseits vor aller vorschnellen, aktuellen Einheit von Tugend und GlĂĽckseligkeit bewahrt – was ja politisch schaurige „GlĂĽcksvorstellungen“ hervorrufen könnte, wenn diktatorisch festgelegt wĂĽrde, was „GlĂĽck“ und „GlĂĽckseligkeit“, „höchstes Gut“ heiĂźen soll.
Doch unwillkürlich unterläuft hier Kant eine Äquivokation: Was ist jetzt mit dem „höchsten Gut“ wirklich intendiert?
Ich folge hier AusfĂĽhrungen, die ich bei Hans-Georg Bensch las:2
Bei Kant liegt eine doppelte Bestimmung des Unbedingten vor. Das Unbedingte a) als formales, moralisches Gesetz, das allein seinen Bestimmungsgrund in sich hat und b) als intelligibles Wesen, das gedacht werden können muss, als die Bedingung aller Bedingungen.
Das ergibt aber einen Unterschied a) eines ursprünglich höchsten Gutes, letztlich Gott selbst, als Erfüllung, und eines b) abgeleiteten, höchsten Gutes, das wir befördern sollen.
Die kritische Aufhebung der Antinomie, einerseits das Unbedingte formal zu wollen, andererseits doch die Voraussetzung und Wirksamkeit eines angestrebten „höchsten Gutes“ a) auf Gott zu projizieren oder, äquivok, unklar b) Glückseligkeit zu erstreben, das führt für mich zum gravierenden Problem, dass dadurch methodisch c) die Gottesidee in eine unerreichbare Ferne rückt bzw. unkenntlich wird, sodass sich die Forderung einer apriorischen Sinnidee einer positive Offenbarung sowieso nicht mehr stellt.
Nebenbei rĂĽckt das „höchste Gut“ in eine eigenartige, eudaimonistische Konsequenz – wie dann A. Schopenhauer sĂĽffisant kritisieren wird.3
Kant verzettelt sich a) durch seine Ablehnung einer materialen (oder theonomen), unbedingten Willensbestimmung in unnötige Kontroversen zwischen Gesinnungsethik und Tugendethik, und verschiebt b) den unbedingten Charakter des Sittengesetzes auf einen sowohl eingeschränkten wie illegitim erweiterten Glückseligkeitsbegriff und versetzt c) die Gottesidee in eine äußerliche, ganz und gar nichtssagende, nicht mehr perzipierbare Transzendenz.
3) Viele Begründungen einer positiven Offenbarung verlaufen begriffslogisch dahingehend: Weil dieses oder jenes vorgefallen ist, z. B. der Sündenfall, oder das Wort Gottes verfälscht worden ist, hat Gott sich zwecks Rettung des Menschengeschlechts entschlossen, einzugreifen und sich zu offenbaren oder erneut zu offenbaren (wie im Islam). Der Begriff Gottes wird relationiert auf ein subjektives Bedürfnis des Vernunftwesen hin und umgekehrt wird der Begriff einer positiven Offenbarung auf dieses Bedürfnis abgezweckt.
Eine Sinnidee a priori, die unserem Erkennen und Werten und als „Gutsein“ oder besser, als „der Gute“, zugrundeliegt,  kann natĂĽrlich nicht den zeitlosen, unbedingten Grundsätzen eines apriorischen Sittengesetzes widersprechen, d. h. sie muss universell und total fĂĽr alle von allen zu jeder Zeit annehmbar sein, ist aber doch von spezifisch geschichtlicher und konkreter Evidenz.
Es gibt verschiedene Evidenzen: Die abgeleitete Evidenz auf der faktischen Ebene der sinnlichen Erfahrung, d. h. die Natur-Evidenz; die Evidenz auf der interpersonalen Ebene als abgesteckte Grenze von Recht, Moralität, Liebe; die religiöse Evidenz als eine Perzeption und Evidenz des Gottesbegriffes als reiner, heiliger Wille.
Es ist in jedem Erkenntnisvorgang, neben begriffslogischen Ableitungen und RĂĽckschlĂĽssen, stets ein Anschaulichkeit und Zeitlichkeit der Bewährung verlangt. Die apriorische Sinnidee ist nun nicht analytisch bloß aus dem Gottesbegriff abgeleitet, reduktiv und erschlossen gedacht, sondern ist eine synthetische Forderung a priori, den heiligen Willen in spezifischer Weise, eben den Erkenntnismöglichkeiten und der Freiheit angepasst, zu erkennen.Â
4) Mangels Erkennbarkeit einer disjunktiven Einheit von Anschauung und Verstand in der ursprĂĽnglich produzierenden Einbildungskraft – der Möglichkeit und Pflicht einer „genetischen Erkenntnis“ – entgeht Kant die aktuelle Gegenwarts- und Zeitbindung allen Wollens und der notwendige Anschauungscharakter in der Vorstellung von Universalität und Totalität des Sittengesetzes.Â
Anders gesagt: Es tut sich eine gedankliche und emotional frustrierende Antinomie auf zwischen dem Denken a) eines formal unbedingten Gesetzes fĂĽr die moralische Selbstbestimmung und einer b) fehlenden Einlösung des nur postulatorisch angesetzen „höchsten Guts“, einmal als transzendente Gottesvorstellung genommen, oder als „GlĂĽck“, „GlĂĽckseligkeit“ interpretiert.Â
Gemäß fichtescher Erkenntnistheorie wäre aber eine genetische Lösung angezeigt: Im Seh-Akt des Sich-Wissens ist notwendig bereits ein Handlungszusammenhang und ein Zeitzusammenhang gesetzt, sodass „Sittengesetz“ und „höchstes Gut“ nicht auseinanderfallen und nicht abstrakt fĂĽr ein Jenseits aufbehalten werden dĂĽrfen, sondern Denken und Anschauung, Sittlichkeit und höchstes Gut, verlangen eine Sinn-Evidenz in geschichtlicher, konkreter und individueller Stunde und Person.Â
Kant verfällt in der theoretischen wie in der praktische Philosophie in die freilich unauflösliche Alternative zweier logischer Identitätssetzungen:4
In der praktischen Philosophie: a) Das moralische Gesetz als unbedingtes formales Gesetz ist die Freiheit des Willens; das Gesetz geht auf die Gesinnung des Wollens und der Willkür, nicht auf ein materiales „höchstes Gut“ oder „Glück/Glückseligkeit“.
b) Da aber das „höchste Gut“ („GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit“) ebenfalls nach praktisch-logischer Vernunft anzustreben und zu befördern ist, ergibt sich die Antinomie, dass der Wille zwar denknotwendig auf das „höchste Gut“ gehen mĂĽsse, das aber dann doch nicht könne und dĂĽrfe, weil das widerspricht seiner eigenen, formalen, unbedingten Selbstgesetzgebung. Mit Vorgabe und Blick auf die Konsequenz darf der Wille sich nicht unbedingt bestimmen lassen.Â
Beide Male wird faktisch etwas gesetzt: Faktisch ist sowohl das unbedingte Gesetz vorgegeben – und faktisch handelt der Wille. Einmal handelt der Wille sozusagen ohne göttliche Hilfe, unbedingt nach dem Sittengesetz und aus reiner Pflicht, dann aber doch wieder postulatorisch mit Gottes Hilfe und Gottes ErfĂĽllung. Der Wille – wird er sich nicht selbst widersprĂĽchlich und bleibt faktisch in zwei Identitätssetzungen hängen?
Wie weiß Kant, dass sich der Wille faktisch einmal auf das unbedingte Sittengesetz beziehen soll, dann wieder faktisch auf das Postulat einer erschlossenen ErfĂĽllung des Sittengesetzes – es fehlt ihm hier der apriorische Sinnbegriff – im „höchsten Gut“? Wann und wie kann er beide Identitätssetzungen in einem tertium comparationis vergleichen und in Zusammenhang bringen?5  Der Akt der beiden Identitätssetzungen – das unbedingte Sittengesetz und die erhoffte Ăśbereinstimmung und das „höchste Gut“ – sie sind logisch verschieden und bleiben verschieden, faktisch.
Die Lösung wäre: Die Identitätssetzungen müssten aus einer einsehbaren Disjunktionseinheit hervorgehen, in der apriorisch sowohl a) das unbedingte Sittengesetz als auch b) die anschauliche Erfüllung zugleich hervorgehen.
Das verlangt eine anschauliche, sinnliche und personale, zeitliche und geschichtlich einsehbare Evidenz (nach dem MaĂźstab einer apriorischen Sinnidee bzw. dem apriorischen MaĂźstab des Guten)Â
5) Interessanterweise spricht Kant in der Formulierung der Dialektik der praktischen Vernunft am Ende dieses Kapitels ebenfalls von einer geforderten synthetischen Lösungsmöglichkeit (unbedingtes Gesetz und Postulat eines „höchsten Guts“).
Ich bringe hier das längere Zitat zur Synthesis a priori von freiem Willen und „höchstem Gut“. Sehr interessant und gut formuliert, aber mit dem Manko, wie Kant selber sagt und bedauert, „folglich nicht aus der Erfahrung abgeleitet“. Aus der Erfahrung wird natĂĽrlich nicht a priori abgeleitet, aber in der zeitlich-geschichtlichen Erfahrung kann das a priori Geforderte und Deduzierte synthetisch evident gefunden und abgelesen werden – die positive Offenbarung in der Perzeption des reinen Willens und der Perzeption von Satisfaktion und Restitution in einer absolut guten Tathandlung.Â
„Nun ist aber aus der Analytik klar, daß die Maximen der Tugend und die der eigenen Glückseligkeit in Ansehung ihres obersten praktischen Prinzips ganz ungleichartig sind, und, weit gefehlt, einhellig zu sein, ob sie gleich zu einem höchsten Guten gehören, um das letztere möglich zu machen, einander in demselben Subjekte gar sehr einschränken und Abbruch tun. Also | bleibt die Frage: wie ist das höchste Gut praktisch möglich, noch immer, unerachtet aller bisherigen Koalitionsversuche, eine unaufgelösete Aufgabe. Das aber, was sie zu einer schwer zu lösen- den Aufgabe macht, ist in der Analytik gegeben, nämlich daß Glückseligkeit und Sittlichkeit zwei spezifisch ganz verschiedene Elemente des höchsten Guts sind, und ihre Verbindung also nicht analytisch erkannt werden könne (daß etwa der, so seine Glückseligkeit sucht, in diesem seinem Verhalten sich durch bloße Auflösung seiner Begriffe tugendhaft, oder der, so der Tugend folgt, sich im Bewußtsein eines solchen Verhaltens schon ipso facto glücklich finden werde), sondern eine Synthesis der Begriffe sei. Weil aber diese Verbindung als a priori, mithin praktisch notwendig, folglich nicht aus der Erfahrung abgeleitet, erkannt wird, und die Möglichkeit des höchsten Guts also auf keinen empirischen Prinzipien beruht, so wird die Deduktion dieses Begriffs transzendental sein müssen. Es ist a priori (moralisch) notwendig, das höchste Gut durch Freiheit des Willens hervorzubringen; es muß also auch die Bedingung der Möglichkeit desselben lediglich auf Erkenntnisgründen a priori beruhen.“(Hervorhebungen von mir, KpV, Bd. VII, S 241)
6) Cur Deus homo – war meine Ausgangsfrage. Die Antwort, die sich mir bietet: a) In der apriorischen Vernunftoffenbarung Gottes, wie sie als transzendente Denkmöglichkeit realer Wirksamkeit von sittlicher Freiheit und Modifizierbarkeit der sinnlichen Welt bei Kant postuliert ist, liegt ebenso b) eine freiheitstheoretische, Zeit und Raum hervorbringende, intelligible und sinnliche Wirksamkeit beschlossen, eine appositionelle Sinnordnung, die  Entscheidungsfreiheit ermöglicht, nach einer unbedingten Sinnerfahrung und einer Restitution aller Widersinnerfahrung im Hier und Jetzt der Gegenwart Ausschau zu halten, mithin nach einer positiven Offenbarung Ausschau zu halten der Möglichkeit nach.  Die Zeit und der zugleich zu setzende, bestimmbare Raum, sind konstitutiv fĂĽr das Wissen und Selbstbewusstein, und können und mĂĽssen fĂĽr eine sinnhafte und folgenhafte, existentielle, gegenwärtige und erinnerte und zukĂĽnftig erhoffte Erkenntnis, einbezogen werden, aus VernunftgrĂĽnden, zu Bedingungen der Freiheit. Die tatsächlich positive Offenbarung kann natĂĽrlich nur aposteriorisch aufgefunden werden – nach diesem apriorischem MaĂźstab der Sinnidee und den vernunftgemäßen Erkenntnisbedingungen bzw. nach Bedingungen der Freiheit.Â
Erkennen ist immer umfassendes Erkennen, nicht nur sinnliches Perzipieren, auch interpersonales und ĂĽbersinnliches Perzipieren, logoshaftes und geschichtlich-sinnhaftes Perzipieren  einer Sinnidee und Annehmen eines reinen, heiligen Willens von allen fĂĽr alle zu jeder Zeit. Somit ist in diesem reflexiven und zeitlichen Rahmen eine geschichtliche Offenbarung ebenfalls denkmöglich und nicht von vornherein ausgeschlossen. (Es gibt ja auch die Kritik, dass der Offenbarungsbegriff von sich her eine Religion schon verdächtig macht. Das wäre das pantheistische Lager; Lessing hat hier Vorarbeiten geleistet.)Â
Einen Schritt jetzt weiter: Die Notwendigkeit einer positiven Offenbarung – zusätzlich zur möglichen Denkbarkeit – entspringt jetzt wiederum der Entscheidungsfreiheit und der reflektierten Anwendungs- und geschichtlichen Seinsbedingungen: Die apriorische SInnidee verlangt notwendig nach einer Satisfaktion und Restitution alles Bösen. Das ist keine Determination der formalen Freiheit, sondern die Basis und Gewissheit einer weiterhin möglichen Entscheidungsfreiheit trotz Widersinnigkeit in der Welt und der Erfahrung des Bösen.Â
Eine bloß gesinnungsmäßige Korrektur einer verkehrten Maxime im Verhältnis zum Sittengesetz, um so das Böse zu ĂĽberwinden, das wäre zu kurz gedacht und der Freiheit und dem Wollen des Vernunftwesens nicht angemessen. Kant halt das in der RGV fĂĽr möglich, ist aber m. E. falsch.6 Selbst bei aller maximengerechten Formung des Willens nach dem Sittengesetz (Kant) – oder mangelhaft auch bei Fichte, bei angenommenen Idealfall des Können und Wollens – bleibt die apriorische Sinnidee und Sinnforderung erhalten, noch dazu bei geschichtlicher Last und Schwere geschehener Sinnwidrigkeiten.Â
Warum haben diese Philosophen diesen Schritt zur positiven Offenbarung nicht mehr gesetzt? Aus VernunftgrĂĽnden, nicht aus psychologischem BedĂĽrfnis, besteht die apriorische Sinnidee nach Satisfaktion und Restitution. ansonsten bleibt die mögliche Entscheidungsfreiheit zumindest höchst prekär, wenn nicht gar unmöglich. Â
Der christliche Glauben verkĂĽndet diese prinzipielle Aufhebung des Bösen , Satisfaktion und Restitution, die Tathandlung eines ĂĽber das moralische Gesetz hinausgehenden Opfers des Gottmenschen JESUS CHRISTUS. Die christliche VerkĂĽndigung, d. h. konkreter, die christliche Gemeinde vor 2000 Jahren, setzte diesen apriorischen, synthetischen Schluss einer erschienenen Perzipierbarkeit des reinen Willens, erkannte genetisch einen Sinn aller Schöpfung und aller Zeit und Geschichte. Dieser Schluss ist einerseits apriorisch, weil genetisch erkennbar, andererseits historisch-aposteriorisch in JESUS CHRISTUS erschienen. „Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn“, spricht es der römische Hauptmann aus – apriorisch und aposteriorisch. Â
7) Cur Deus homo, war meine Frage. Nicht weil Gott gezwungen gewesen wäre oder Gott besänftigt hätte werden mĂĽssen, sondern weil ein individuelles Vernunftwesen historisch von sich her frei wollte, dass der moralische und ĂĽber-moralische Begriff von Gott sich bewähre und sich positiv, faktisch perzipierbar mache.Â
Aus der Wahrnehmung der Person Jesu Christi, seines ganzen Tuns, schließlich seines Leidens und Sterbens und seiner Auferstehung, schloss die christliche Gemeinde auf die apriorische Gottesidee, nicht aufgrund einer subjektiven Einbildung oder aus einem psychologischem Bedürfnis heraus, sondern aus freiheitstheoretischen, vernünftigen Gründen und unter Einbeziehung der Zeit und Geschichte und der ganzen „condition humaine“:
Cur Deus homo, das ist nicht analytisch wissbar, wie es ANSELM folgerte, aber synthetisch wissbar aus der geforderten Sinnidee a priori und der historischen Wahrnehmung.
Anders gesagt: Diese synthetische Erkenntnis a priori der Vergebung und Erlösung war anwendungsspezifisch und anschauungsbezogen auf das ganze Tun Jesu Christi bezogen und wurde dort gefunden – mit der Auflage und wieder prekär werdenden Aufgabe, dass diese eingelöste Sinnidee pertinent weitergegeben werden soll – dank des Heiligen Geistes.
Die positive Offenbarung widerspricht nicht der apriorischen Vernunftoffenbarung, im Gegenteil, weil im Aktcharakter der Erkenntnis notwendig eine appositionelle Zeit- und Raumordnung und geistige Sinn- und Interpersonalgemeinschaft gesetzt ist, kann die apriorische Vernunftoffenbarung Gottes genetisch übergehen zu einer personalen und historischen Erfahrung. Umgekehrt muss jetzt sogar gesagt werden: Erst durch eine positive Offenbarung kann auf eine apriorische Vernunftoffenbarung Gottes mit Gewissheit zurückgeschlossen werden. Letztere wird durch erstere begründet und gerechtfertigt.
Nochmals: Gott musste sich nicht offenbaren, weil der Mensch gesĂĽndigt hatte, das wäre eine analytische und psychologische Erklärung. Wenn der Mensch sich aber in seiner Freiheit und zugleich Ohnmacht und, biblisch gesprochen, „SĂĽndhaftigkeit“, erkennt und sieht, verlangt er, wenn er noch nicht ganz sittlich verkommen und noch sittlich zu Bedingungen der Freiheit handeln will, ebenfalls nach einer Wiedergutmachung und Restitution fĂĽr sich und fĂĽr alle zu jeder Zeit, konstruiert und rekonstruiert seine individuelle Zeit und kollektive Zeit und Geschichte – und sucht nach einer untrĂĽglichen Evidenz der Sinn- und Erlösungserfahrung.
Populär gesagt: Der Mensch geht im Aktcharakter seines Erkennens und Handelns notwendig zu einer zeitlichen und räumlichen und freiheitsbedingten apriorischen Sinnidee über, wenn er und weil er frei bleiben will. Ist er sittlich noch nicht ganz verloren und verkommen, so hält er (frei, aus Vernunftgründen) Ausschau nach Rettung und Erlösung. Gäbe es nun keine evidente Einsicht in eine direkte Perzeption des Willens Gottes, keine Erfahrung von Vergebung und Erlösung, von tiefster Sinnerfüllung, so müsste ihm sein fragmentarisch gutes Handeln und Wollen im implikativen und appositionellen Setzen letztlich vergeblich erscheinen.?
Und mehr noch: Da im Aktcharakter der Erkenntnis eine notwendige, zeitliche Reihe von zusammenhängender Freiheit von Gut und Böse aufgebaut wird, so wird, je größer die Last des Bösen ist, umso drängender die Sinnsuche nach Erlösung und Vergebung – und zugleich umso schwerer.
Tritt sie ein – die Evidenz und Sinnerkenntnis von Erlösung und Vergebung – ist sie synthetisch aus dem unbedingten Sittengesetz und dem zeitlich-geschichtlichen, Implikations- und Appositionsakt des Erkennens – und nicht aus einem psychologischen BedĂĽrfnis gewonnen.7
Negativ gesagt: Gäbe es keine apriorische Sinnidee und keine Evidenz der Erlösung, wäre das praktische Streben des Vernunftwesen in der ganzen zusammenhängende „Kette“ der Freiheit und der Zeit (und des Raumes) praktisch ungewiss, leerer Schein, sinnlos, durch das Böse sogar ein Stück weit determiniert und immer stärker determiniert, je mehr das Böse anwächst.
Die Notwendigkeit einer positiven Offenbarung liegt nicht im psychologischen BedĂĽrfnis, sondern in der notwendigen Bedingung der Möglichkeit, frei handeln zu können und weiter frei handeln zu wollen. Von keiner Notwendigkeit der positiven Offenbarung auszugehen, reflektierte nicht mehr die Anhäufung des Bösen und die Anwendungsbedingungen freien Handelns. Â
Mit dem Sittengesetz ist notwendig Erlösung postuliert, wie im 1. Teil nach R. Lauth ausgeführt. Wird diese positive Offenbarung historisch evident erkannt, was möglich sein muss, ist jetzt weiter die Frage aufgeworfen, wie sie zu implikationslogischen und appositionellen Zeitbedingungen pertinent als Sinnidee weitergegeben und tradiert werden kann. 8
(c) Franz Strasser, 3. Jän. 2024 (Heiligster Name Jesu)Â
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1Zum Begriff des „Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ siehe bei Kant bereits lange AusfĂĽhrungen vorher – KpV, Bd. VII, S 174ff., bis er zu diesem Problem der Dialektik und Antinomie kommt, ebd. S 193ff (Ausgabe Weischedl).
Kant sagt ausdrücklich, dass diese Dialektik der praktischen Vernunft der Dialektik der KrV gleich kommt. Die Auflösung ist aber da wie dort halbherzig, nämlich eine noumenale oder phänomenale Sichtweise werden nebeneinander gestellt, aber wodurch die Spaltung kommt, wird nicht gesagt.
2Hans-Georg Bensch, Das höchste Gut in Kants Kritik der reinen Vernunft im Unterschied zur Kritik der praktischen Vernunft. Download bei academia.edu., ebd. S 10.
3Siehe nochmals oben 1. Teil bei R. Lauth – Link 1. Teil. Kant habe „a) die Forderung des Sittengesetzes illegitim ausgeweitet auf den Begriff der GlĂĽckseligkeit. Die GlĂĽckseligkeit liegt aber apriorisch nicht in der Allgemeinheit der Sittengesetzes. Das Sittengesetz fordert nur die völlige Angemessenheit der Gesinnungen, nicht aber auch die reale Kongruenz des GlĂĽcks. b) Umgekehrt hat KANT die Forderung des Sittengesetzes wieder ungerechtfertigt eingeschränkt. Die Forderung des Sittengesetzes ist total und wendet sich unaufhebbar gegen alle Unsittlichkeit. Wenn diese Forderung, wie von KANT selber öfter ausgefĂĽhrt und behauptet, nicht phantastisch und leer sein solle, so mĂĽsse diese Forderung erfĂĽllbar sein. Mit dem Sittengesetz ist Erlösung postuliert.“
4Siehe dazu schon einen Blog von mir zu der theoretischen Teilungs-Antinomie nach Kant, und warum er sie nicht lösen konnte, d. h. ausgelegt nach J. Widmann, Der Weg zur Transzendentalphilosophie 3. Teil, Abschlussteil.
5 Die Idee der „Achtung“ als Anwendungsbedingung des unbedingten Sittengesetzes in der Sinnlichkeit ist nur ein peripheres Wissen eines Zusammenhangs – bzw. geht ĂĽberhaupt am Thema der Erlösung und apriorischen SinnerfĂĽllung vorbei – und verspricht schon gar nicht eine Einsicht in die ErfĂĽllbarkeit des Sittengesetzes in einem höchsten Gut.
6Dies ist m. E. nicht möglich vorstellbar. Kant führt diese, wie er sagt, „Revolution im Menschengeschlechte“ in „ Die Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft“ besonders aus – siehe Link, 2. Teil, RGV, 1793/94. Die Erlösungsidee muss notwendig in ihrer Universalität und Totalität auch zeit- und raumbezogen und geschichtlich erfahrbar sein, sonst ist das Postulat unbedingtes Sittengesetz und mögliche Erfüllung durch die Gottesidee und der Unsterblichkeit der Seele ein leerer Wunsch und bloße Phantasie. Meine Kritik zu Kants „Revolution“ – siehe dort Blog 2. Teil zu RGV.
7Hier wäre die Explikation des Begriffes „Heiliger Geist“ und „Kirche“ jetzt notwendig.
8R. LAUTH, Der Sinnbegriff in Kants praktischer Postulatenlehre, a. a. O. 136. Ich erinnere mich an Vorlesungen von Prof. LAUTH (1981, München), in denen er das Manko einer Erlösungsidee deutlich und drastisch ausführte. Die vollendete Vernünftigkeit in einem System der Philosophie, wie es die Transzendentalphilosophie sein will, worin sowohl die Apriorität des Denkens wie die Einmaligkeit des Geschichtlichen (der Aposteriorität) gewahrt bleiben, hat den Gedanken der Schuld und Sühne nicht mehr integriert. Vgl. Auch R. LAUTH, Jacobis Vorwegnahme romantischer Intentionen. In: Transzendentale Entwicklungslinien, 311-313.