Stichworte – Anweisung zum seligen Leben, 6. Vorlesung – 4. Teil

S 475 Sechste Vorlesung

Ausgehend vom absoluten Sein und Leben Gottes, transzendental verwandelt in das Dasein dieses Seins und Lebens, „tritt es wieder heraus in dem Leben und Handeln des gottergebenen Menschen.“ (ebd. S 475)

„In diesem Handeln handelt nicht der Mensch, sondern Gott selber in seinem ursprüng|lichen inneren Seyn und Wesen ist es, der in ihm handelt, und durch den Menschen sein Werk wirket. Ich sagte in einer der ersten und einleitenden Vorlesungen: diese Lehre, so neu und unerhört sie auch dem Zeitalter erscheinen möge, sey darum doch so alt, als die Welt, und sie sey insbesondere die Lehre des Christenthums, wie dies, in seiner ächtesten und reinsten Urkunde, in dem Evangelium Johannis noch bis diesen Augenblick vor unseren Augen liegt; und diese Lehre werde daselbst sogar mit denselben Bildern und Ausdrücken vorgetragen, deren auch wir uns bedienen.“ (ebd. S 475.476)

Die Einheit transzendentaler Ich-Setzung, Einheit des Sich-Wissens, Einheit eines Denkens, aus der sowohl die Anschauung der Mannigfaltigkeit durch die ursprĂĽnglich produzierende und dann reflektierende Einbildungskraft, als auch das Denken eines fĂĽnffachen, systematischen Zusammenhangs der objektivierten Produkte Natur, Legalität, Moralität, Religion und Wissenschaft abgeleitet werden können – das wird jetzt in den Kontext der christlichen Lehre und Ăśberlieferung gestellt. Eine interessante Wendung:

Fichte will die Ăśbereinstimmung der WL mit der Lehre des Christentums erweisen, in dem er a) von einer Art historischen BegrĂĽndung selbst des wissenschaftlichen Denkens und der WL durch das Christentum spricht, nämlich in dem Sinne, dass sich durch das Christentum das Denken der Vernunft in apriorischer Weise weiterentwickelt hat – zur apriorischen Geschichtsphilosophie generell siehe die etwa zeitgleich entstandenen „GrĂĽndzĂĽge des gegenwärtigen Zeitalters“ – , als auch, dass er b) die ĂĽberzeitliche, metaphysische Dimension des religiösen Lebens klar hervorheben will.

Als Zeuge oder Beleg einer metaphysischen Sicht von Religion dient Fichte das Johannes-Evangelium, und hier wiederum der Johannes-Prolog.

„Es versteht sich wohl auch ohne unsere ausdrückliche Erinnerung, dass wir durch den Erweis dieser Uebereinstimmung unserer Lehre mit dem Christenthume keinesweges erst die Wahrheit dieser unserer Lehre zu beweisen, oder ihr eine äussere Stütze unterzulegen gedenken. Sie muss schon in dem vorhergehenden sich selber bewiesen und als absolut evident eingeleuchtet haben, und sie bedarf keiner weiteren Stütze. Und ebenso muss das Christenthum, eben als übereinstimmend mit der Vernunft, und als reiner und vollendeter Ausdruck dieser Vernunft, ausser welcher es keine Wahrheit giebt, sich selbst beweisen, wenn es auf irgend eine Gültigkeit Anspruch machen will.“ (ebd. S 476)

Fichte hebt das Johannes-Evangelium sogar in Absetzung zum Apostel Paulus hervor, den er etwas abwertend so beschreibt „(…)Apostel Paulus und seine Partei, als die Urheber des entgegengesetzten christlichen Systems, (die) halbe Juden geblieben; (…)“(ebd.)

„Nur mit Johannes kann der Philosoph zusammenkommen, denn dieser allein hat Achtung für die Vernunft, und beruft sich auf den Beweis, den der Philosoph allein gelten | lässt: den innern.“ (ebd. S 476.477)

Fichte möchte das Prinzip einer buchstäblichen Schriftauslegung ernst nehmen, keineswegs „die unumwundensten Aesserungen dieser Schriftsteller für blosse Bilder und Metaphern halten“ (…) (ebd. S 477)

„Das Christenthum aber, und ganz besonders Johannes, stehen isolirt, als eine wunderbare und räthselhafte Zeiterscheinung, ohne Vorgang und ohne eigentliche Folge, da.“ (ebd. S 477.478)

Fichte unterscheidet dann zwar nochmals im Johannes-Evangelium selbst das nach seiner Ansicht zeitlos Gültige und das „nur für Johannes und des von ihm aufgestellten Jesus Standpunct (es)“ (ebd. S 478), will aber das historische Bedingte „getreu aufstellen“ (ebd.)

Innerhalb des Johannes-Evangeliums hat es ihm der Johannes-Prolog besonders angetan. Er kommt seinem metaphysischen Denken in vielem entgegen:

„Halten Sie diese Vorrede ja nicht für ein eigenes und willkürliches Philosophen des Verfassers; gleichsam für eine räsonnirende Verbrämung seiner Geschichts-Erzählung, von der man, rein an die Thatsachen sich haltend, der eigenen Absicht des Verfassers nach denken könne, wie man wolle; sowie einige diesen Eingang anzusehen scheinen. Es ist vielmehr derselbe in Beziehung auf das ganze Evangelium zu denken, und nur im Zusammenhange mit demselben zu begreifen. Der Verfasser führt, durch das ganze Evangelium durch, Jesum ein, als auf eine gewisse Weise, die wir unten angeben werden, von sich redend; und es ist ohne allen Zweifel Johannes Ueberzeugung, dass Jesus gerade also, und nicht anders gesprochen habe, und dass er ihn also reden — gehört habe: und sein ernster Wille, dass wir ihm dies glauben sollen.“ (ebd.)

Was Fichte im Text wiederfindet, das gibt ihm Anlass, sehr schroff gegen eine zeitliche Schöpfung zu sprechen – was natürlich für christliche Ohren verstörend sein muss!

„ Aus Unkunde der im bisherigen von uns aufgestellten Lehre entsteht die Annahme einer Schöpfung; als der absolute Grundirrthum aller falschen Metaphysik und Religionslehre und insbesondere, als das Urprincip des Juden- und Heidenthums.“ (ebd. S 479)

„(…) nein, sagt Johannes: im Anfange, in demselben Anfange, wovon auch dort gesprochen wird, d.h. ursprünglich und vor aller Zeit, schuf Gott nicht, |und es bedurfte keiner Schöpfung, — sondern es — war schon; es war das Wort — und durch dieses erst sind alle Dinge gemacht.
Im Anfange war das Wort, der Logos, im Urtexte; was auch hätte übersetzt werden können, die Vernunft, oder, wie im Buche der Weisheit beinahe derselbe Begriff bezeichnet wird, die Weisheit: (…)“ (ebd. S 479.480)

Ohne Fichte hier großartig verteidigen zu wollen, spricht einiges für diese Ablehnung einer zeitlichen Schöpfung: Sie verträgt sich nicht mit dem unveränderlichen, ewigen, zeitlosen Sein Gottes, weil sowohl der Begriff Gottes verendlicht würde, als auch die autonome Freiheit des Menschen infrage gestellt sein könnte in der kreatürlichen Abhängigkeit. Es kann kein endliches Sein neben dem absolut Seienden angesetzt werden – und die autonome Freiheit angesichts eines unbedingten Sollens verträgt keine kreatürliche Abhängigkeit.
Die Frage ist nur, ob „Schöpfung“ nur in dieser kreatürlichen, mit endlichen und moralischen Abhängigkeiten verknüpften Begriffen gedacht werden muss?

Das Verhältnis eines zureichenden göttlichen Grundes im Bewusstsein zu denken ist eine höchst differenzierte Sache und verlangt als Grund eine Ursache, die ihren Grund außerhalb des Begründeten hat, welcher Grund aber Grund einer Folge ist, die im Aufgerufen- und Aufgefordertsein eingesehen werden kann. Also bedarf es doch einer Schöpfung!

Die von Kant ähnlich argumentierte Freiheit im unbedingten Sollen müsste als geschöpfliche Freiheit denkbar sein!?

Ja, so möchte ich jetzt sagen, der Begriff der Schöpfung bekommt im transzendentalen Sinne sogar eine höchst relevante Bedeutung, was die ganze Struktur und das System des transzendentalen Wissens betrifft:

a) Der Geltungsgrund des Absoluten ist gerade nicht eine bloße „regulative Idee“, wie Kant noch den Gottesbegriff postulierte, sondern rechtfertigt sich aus sich, von sich und durch sich – und ist in genetischem Sinne geltend und allgemein gültig. Wir sind zwar formal frei, diesen Geltungsgrund zu leugnen, aber faktisch setzten wir ihn immer schon voraus und de jure lässt er sich nicht bezweifeln. Wir können keinen Rechtsgrund letztlich vorbringen, dieses Aus-Sich, Von-Sich, Durch-Sich zu bestreiten oder zu bezweifeln. Der Geltungsgrund ist absolutes und höchstes Prinzip, ist erste Ursache oder Schöpfungsgrund, ist „veracitas“ der Einheit von Denken und Sein (Descartes), ist ein „aliquid quo maius (oder gesteigert „melius) cogitare non potest“ (Anselm) – und kann nicht nicht gesetzt sein.

b) Im Unterschied zu den ontologischen Gottesbeweisen der Tradition, die objektivierend einen Gottesbegriff setzt, liegt der Akzent des „ontologischen Gottesbeweises“ bei Fichte im aktualen Sehen: Im Sehen liegt immer eine wirkliche Objektivation und Bildlichkeit, ein Sehen der allgemeinen Möglichkeit und ein Sehen der Vielheit der Wirklichkeit im Besonderen. Dieses Sehen kann nicht geleugnet werden. Es ist „notwendiges Sehen“ mit der WL 1804/2, 27. Vortrag, gesprochen. Im Denken des Sehens ist das Sehen wirklich und existentiell vorausgesetzt. „(…) Daß das Absolute nicht außer dem Absoluten gesucht werden müsse, und insbesondere, daß wir das Absolute wohl nie erfassen werden, wenn wir es nicht einmal leben und treiben, ist von Zeit zu Zeit zur Genüge erinnert und deutlich gemacht worden“ (WL 1804/2; 27. Vortrag, GA II, 8 ebd. S 404, Z 11f)

Schöpfung in einem zeitlich-endlichen Sinne ist nicht möglich denkbar, Schöpfung in einem transzendentalen Sinne des notwendigen Sehens hingegen ist notwendige Begründungs- und Rechtfertigungsfigur des Wissens.

Er kommt jetzt auf seinen Begriff von Dasein, Vernunft – und in Anlehnung an das Johannes-Evangelium – auf das „Wort“ („logos“) zu sprechen.

Er will den Text hier ganz wörtlich nehmen:

„(….) Vernünfteln wir doch ja nicht über den Ausdruck; sondern sehen wir lieber unbefangen hin, was Johannes von diesem Worte aussagt: — die dem Subjecte beigelegten Prädicate, besonders wenn sie diesem Subjecte ausschliessend beigelegt werden, pflegen ja das Subject selbst zu bestimmen. Es war im Anfange, sagt er; es war bei Gott; Gott selbst war es; es war im Anfange bei Gott. Kann deutlicher ausgesprochen werden dasselbe, was wir früher so ausgesprochen haben: Nachdem, ausser Gottes innerem und in sich verborgenem Seyn, das wir zu denken vermögen, er auch noch überdies da ist, was wir bloss factisch erfassen können, so ist er nothwendig durch sein inneres und absolutes Wesen da: und sein, nur durch uns von seinem Seyn unterschiedenes Daseyn, ist an sich und in ihm davon nicht unterschieden; sondern dieses Daseyn ist ursprünglich, vor aller Zeit und ohne alle Zeit, bei dem Seyn, unabtrennlich von dem Seyn, und selber das Seyn: — das Wort im Anfange, — das Wort bei Gott, — das Wort im Anfange bei Gott, — Gott selbst das Wort, und das Wort selbst Gott. Konnte schneidender und herausspringender der Grund dieser Behauptung angegeben werden: in Gott, und aus Gott, wird nichts, entsteht nichts; in ihm ist ewig nur das Ist, und was daseyn soll, muss ursprünglich bei ihm seyn, und muss er selbst seyn?“(ebd. S 480)

Trifft Fichtes Metaphysik den Sinn der Aussagen der Johannes-Prologs? „Wort“ im Sinne von „Dasein“, wie er es oben bestimmt hat als Äußerungsform Gottes in der Reflexion des Sich-Wissens?
Die ganze Kontextualität des Prologs nimmt mancherlei Bezug zu der damals vertrauten Logos-Philosophie, bindet die historische Einmaligkeit der Person Jesu Christi an diesen „logos“, verbindet mit dem „logos“ einen bestimmten Sinn von positiver Offenbarung, d. h. die durch Jesus gewirkte Satisfaktion und Restitution (Erlösung), und eröffnet eine in der Geschichte ermöglichte lebendige Teilhabe an der Erlösung durch den Glauben und das Wirken des Heiligen Geistes.1

Trifft Fichte diese Kontextualität von Joh 1, 1- 18?

Ich möchte hier Hansjürgen Verweyen in seiner Einleitung zur AsL sprechen lassen:

„Hat Fichte aber recht, wenn er die johanneische Aussage ĂĽber den ewigen Logos nur auf das Da-Sein und nicht auch auf das In-ich-Sein Gottes bezieht? Zunächst einmal muss man sehen, dass die Qualität der Fichteschen Spekulation darin beruht, nichts von all dem, was die menschliche Vernunft aus ihrer Form als Bild Gottes (theologisch: aus ihrer Geschöpflichkeit) erkennt, in das Sein Gottes selbst zu projizieren (z. B. Substantialität, Personalität). Und dennoch bedroht dieser Ausfall an Differenzierung des absolut einen göttlichen Seins,,vor“ aller Erscheinung den zentralen Evidenzpunkt der WL, wie sich recht deutlich beim Ăśbergang von der metaphysischen Aussage (ĂĽber den ewigen Logos) zur historischen (ĂĽber Jesus) zeigt. Dort wird nämlich unversehens die Behauptung ĂĽber das ewige Sein des LogĂłs zu der ĂĽber eine bloĂźe „Möglichkeit des Seins“. Wirklich wird das Wort oder Bild Gottes in der Erscheinung nur in einem geschichtlichen Akt von Freiheit. (…)“2

Das aufgeworfenen Problem von Verweyen anders formuliert: Für das transzendental-kritische Denken eines Vernunftwesens, das sich als „Bild Gottes“ begreifen will, bedarf es für die sein-sollende und sein-könnende Freiheit eines konkreten interpersonalen Gegenübers, eines konkreten Du, damit anhand der initiierten Aufforderung die Freiheit aufgenommen und weitergeführt werden kann. Die geschichtliche Person Jesu Christi ist im Johannes-Prolog wohl nicht als bloße modale Seinsform perfekter Gottesliebe beschrieben, sondern als konkrete historische Person mit allen weiter beschriebenen Taten und Wundern und Reden, mit anschließender Kreuzigung und Auferstehung, immer in einen konkreten interpersonalen Modus und Verhältnis.

Wäre es nur bei einer theoretischen Idealform des Denkens von Gott geblieben, wie Fichte es exemplarisch und vollkommen in Jesus Christus verwirklicht sieht, wäre es nie zu dieser interpersonalen Praxis konkreter Jesus-Nachfolge und anschließender kirchlicher Überlieferung gekommen.

Die Moralität, die Liebe, das Leben abstrahiert gedacht – wie es Fichte deduziert – oder alles konkret genommen, in und aus der historischen Person Jesu Christi abgeleitet – das ist wohl der große Unterschied in der Exegese des Prologs?

Die Auslegung des johanneischen Christus bei Fichte nimmt stets eine mehrdeutige, bloß metaphorische Bedeutung an – entgegen seiner Absicht oben, dass er das Evangelium wörtlich nehmen möchte, nicht bloß frei fabulierend. 3

„Dieses — bei Gott Seyn nun, nach unserem Ausdrucke dieses Daseyn, wird ferner charakterisirt als Logos oder Wort. Wie könnte deutlicher ausgesprochen werden, dass es die sich selbst klare und verständliche Offenbarung und Manifestation, sein geistiger Ausdruck sey, — dass, wie wir dasselbe aussprachen, das unmittelbare Daseyn Gottes nothwendig Bewusstseyn, theils seiner selbst, theils Gottes sey; wofür wir den strengen Beweis geführt haben.“ (ebd. S 481)

Der Begriff der „Schöpfung“, siehe oben, der als endlich-kausale Wirkung nicht vorgestellt werden kann, wird wieder metaphorisch ausgelegt, als reflexive Selbst-Darstellung der Struktur das transzendentalen Wissens (ohne zu fragen, wie wiederum dieses Wissen möglich wäre.)

„Ist nun erst dies klar, so ist nicht die mindeste Dunkelheit mehr in der Behauptung: v. 3. »dass alle Dinge durch dasselbige Wort gemacht sind, und ohne dasselbige nichts gemacht ist, was gemacht ist u.s.w.« — und es ist dieser Satz ganz gleichgeltend mit dem von uns aufgestellten, dass die Welt und alle Dinge lediglich im Begriffe, in Johannes Worte, und als begriffene, und bewusste, — als Gottes Sich-Aussprechen seiner selbst, — da sind; und dass der Begriff, oder das Wort, ganz allein der Schöpfer der Welt überhaupt, und, durch die in seinem Wesen liegenden Spaltungen, der Schöpfer der mannigfaltigen und unendlichen Dinge in der Welt sey.“ (ebd.)

„In Summa: ich würde diese drei Verse in meiner Sprache also ausdrücken. Ebenso ursprünglich als Gottes inneres Seyn ist sein Daseyn, und das letztere ist vom ersten unzertrennlich, und ist selber ganz gleich dem ersten: und dieses göttliche Daseyn ist in seiner eigenen Materie nothwendig Wissen: und in diesem Wissen allein ist eine Welt und alle Dinge, welche in der Welt sich vorfinden, wirklich geworden.“ (ebd.)

Mein Einwand: Die historische Person Jesu ist beliebiges Exemplar geworden, ohne Kennzeichen einer einmalig geleisteten Satisfaktion und Restitution und ohne eschatologische und teleologische Bedeutung einer erwarteten Hoffnung und Sinn-Idee.

Folgende Deutungen Fichtes können wohl als gnostische Stimmen gehört werden – Stimmen, gegen die die Apologeten und kirchlichen Schriftsteller des 2. u. 3. Jhd. vehement aufgetreten sind:

„Ebenso klar werden nun auch die beiden folgenden Verse. In ihm, diesem unmittelbaren göttlichen Daseyn, war das Leben der tiefste Grund alles lebendigen, substantiellen, ewig aber dem Blicke verborgen bleibenden, Daseyns; und dieses Leben ward im wirklichen Menschen Licht, bewusste Reflexion; | und dieses Eine ewige Urlicht schien ewig fort in den Finsternissen der niedern und unklaren Grade des geistigen Lebens, trug dieselben unerblickt, und erhielt sie im Daseyn, ohne dass die Finsternisse es begriffen.“ (ebd. S 481.482)

In einer seltsamen Spannung liegen die Aussagen Fichtes zur historischen Bedeutung Jesu Christi und des Christentums. Es ist keinerlei Selbstdünkel oder Überheblichkeit der Philosophie gegenüber der christlichen Überlieferung herauszuhören (vgl. ebd. S 842-843), aber trotzdem, die Frage: Ist die Überlieferung und die christliche Sinnidee hier methodisch eingeholt? Fichte wählt eine Art psychologische Erklärung und Introspektion in das Wesen Jesu, um die Aussagen historisch lesen und verstehen zu können.

„Dass jemand hinterher, nachdem die Wahrheit schon entdeckt ist, sie nacherfinde, ist kein so grosses Wunder; wie aber der erste, von Jahrtausenden vor ihm und von Jahrtausenden nach ihm durch den Alleinbesitz dieser Einsicht geschieden, zu ihr gekommen sey, dies ist ein ungeheures Wunder. Und so ist denn in der That wahr, was der erste Theil des christlichen Dogmas behauptet, dass Jesus von Nazareth der, — auf eine ganz vorzügliche, durchaus keinem Individuum ausser ihm zukommende Weise, — eingeborene und erstgeborene Sohn Gottes ist:“ (ebd. S 484)

Einerseits WĂĽrdigung der Historie, dann aber heiĂźt es:

„2) Ob es nun schon wahr ist, dass jetzt ein jeder in den Schriften seiner Apostel diese Lehre wiederfinden, und für sich selbst und durch eigene Ueberzeugung sie für wahr anerkennen kann; ob es gleich, wie wir ferner behaupten, wahr ist, dass der Philosoph — so viel er weiss, — ganz unabhängig vom Christenthume dieselben Wahrheiten findet, und sie in einer Consequenz und in einer allseitigen Klarheit überblickt, in der sie vom Christenthume aus an uns wenigstens nicht überliefert sind; so bleibt es doch ewig wahr, dass wir mit unserer ganzen Zeit und mit allen unseren philosophischen Untersuchungen auf den Boden des Christenthums niedergestellt sind, und von ihm ausgegangen:“ (ebd. S 484)

Historisch-faktisch ist das Christentum konstitutiv für die WL geworden, genetisch kann aber dessen reinen Inhalt (vom göttlichen Dasein) philosophisch unabhängig eingesehen werden.

„Nur das Metaphysische, keinesweges aber das Historische, macht selig; das letztere macht nur verständig.“ (ebd. S 485)

Der Konflikt der brisanten Fragen, inwiefern die historische Person Jesu Christi konstitutiv ist im Sinne einer positiven Offenbarung, oder doch nur exemplarisch in eine Moral- und Liebeslehre hineinpasst, ist eine Disjunktion, die vernunftmäßig nicht richtig gefasst ist.

Es müsste m. E. auf der Erscheinungsebene des Denkens selbst geklärt werden können, dass genetisch es zu keiner unableitbaren Disjunktion zwischen Metaphysik und apriorischer Geschichtsphilosophie kommen muss.

Wie möchte Fichte mit der vernünftigen Gottesidee der Seligkeit und Liebe noch das Sinnwidrige der Geschichte und das Böse auffangen und restituieren? Wie möchte er die Notwendigkeit einer kirchlichen Überlieferung aus transzendentalen Gründen des Denkens begründen? Hier hat ihn wohl zu stark die protestantische Tradition der Skepsis gegenüber der kirchlichen Überlieferung eingeholt.

Nach der scheinbaren Auflösung der Disjunktion Metaphysik/Historie auf der Erscheinungsebene folgen a) markante Bibelstellen zur Person Jesu Christi, als auch b) zur konkreten Rezeption seiner Worte durch die Jüngerinnen und Jünger.

Alles nimmt zusehends eine moralische Wendung. Es unterscheidet sich zwar diese Auslegung nochmals stark von der moralischen Interpretation Kants in der „RGV“, allein schon in der Auswahl der Bibeltexte, trotzdem bleibt ein Unbehagen (vgl. ebd. S 486 – 491)

Der „Glaube“ (ebd. S 489) ist eine vorläufige Bedingung, das göttliche Dasein im Sinne der WL zu erkennen, wie es exemplarisch „(keineswegs) als unerreichbares Ideal“ (ebd. S 489) in Jesus Christus aufgeschienen ist,

„ (…) Aber der endliche und entscheidende Beweis, der durch die vorläufige Voraussetzung oder den Glauben erst möglich gemacht werden soll, ist der: dass jemand nur wirklich den Willen thue des, der Jesus gesandt hat, d.h. dass er, in dem erklärten Sinne, sein Fleisch und sein Blut esse, wodurch er denn inne werden werde, dass diese Lehre | von Gott sey, und dass er nicht von sich selber rede.“ (ebd. S 489.490)

Es klingt mystisch, ist aber nur moralisch gemeint.

Die Frage der Rechtfertigung ist nicht relevant, ja ist falsch in Hinblick auf einen reinen, moralischen Gottesbegriff:

„Ebensowenig ist die Rede von einem Glauben an sein stellvertretendes Verdienst. Jesus ist bei Johannes zwar ein Lamm Gottes, das der Welt Sünde wegträgt, keinesweges aber ein solches, das sie mit seinem Blute einem erzürnten Gotte abbüsst. Er trägt sie weg: Nach seiner Lehre existirt der Mensch ausser Gott und Ihm gar nicht, sondern er ist todt und begraben; er tritt gar nicht ein in das geistige Reich Gottes; wie könnte doch der arme, nichtseyende, in diesem Reiche etwas verwirren und die göttlichen Plane stören? Wer aber in Jesum, und dadurch in Gott sich verwandelt, der lebet nun gar nicht mehr, sondern in ihm lebet Gott: aber wie könnte Gott gegen sich selbst sündigen? Den ganzen Wahn demnach von Sünde, und die Scheu vor einer Gottheit, die durch Menschen sich beleidigt finden könnte, hat er weggetragen und ausgetilgt.“ (ebd. S 490)

Ich möchte kritisch zurückfragen: a) Dass Gott selbst zürnt und das Opfer verlangt, ist zwar eine häufig wiederkehrende, missverständliche Rede in der Kirchengeschichte, gegen die hier Fichte zurecht anschreibt, doch kann das Opfer im Sinne einer notwendigen Wiedergutmachung für die Menschen selbst von Bedeutung sein (nicht als von Gott geforderte Sühne); b) dass Jesus Christus nur diese verkehrte Idee einer für Gott zu leistenden Sühne „weggetragen“ habe, da ist ja Fichte beizupflichten, aber die Worte des Johannes-Evangeliums harren einer besseren Auslegung, wenn es heißt: dass Jesus Christus nicht nur im Geiste und in schönen Worten gekommen ist, sondern im „Wasser und im Blut“ (1 Joh 5, 6).

Es sind verdächtig, gnostische Züge in der Bibellektüre Fichtes, Erlösung durch Erkenntnis, ohne Überlieferung, ohne sakramentale Kirche, ohne konkrete Nachfolge Jesu Christi.

„Und so fällt denn, wie wir oben behaupteten, das Christenthum, seinen Zweck als erreicht setzend, wieder zusammen mit der absoluten Wahrheit, und behauptet selbst, dass jederman zur Einheit mit Gott kommen, und das Daseyn desselben selber, oder das ewige Wort, in seiner Persönlichkeit werden könne und solle.“ (ebd. S 490)

Fichte zitiert noch diese schöne Stelle von 1 Joh 1ff, aber gerade diese Kontextualität ist nicht rein moralisch zu lesen, sondern mystisch und in einem geschichtsrelevanten Sinne.

(c) Franz Strasser, 25. 7. 2023 

1Zur Überlieferungsgeschichte des Johannes-Prologs, zu Textkritik, Redaktionskritik, sonstige biblischen Verweise –siehe diverse Literatur der Exegese oder Lexikas. Z. B. Samuel Vollenweider, Antike und Urchristentum Studien zur neutestamentlichen Theologie in ihren Kontexten und Rezeptionen. Tübingen 2020.

2HansjĂĽrgen Verweyen, Einleitung zu AsL, Hamburg 2012, ebd. S LVIII.

3Ich möchte noch anfügen, dass Fichtes Respektierung der Person Jesu Christi um Welten höher steht als bei den Philosophen seiner Zeit – man vergleiche die moralische Auslegung bei Kant oder die mehr oder minder absurde und überhebliche Auslegung bei Schelling und Hegel.

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser