Fichtes Sittenlehre 1798, 1. Teil – Stichworte

Johann Gottlieb Fichte, Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre (1798). Zitiert nach der  Ausgabe Phil. Bibliothek Meiner, Hamburg, 1995.  

In der Kennzeichnung der Moral- und Ethiklehren haben sich verschiedenen Charakteristika eingebürgert wie „Tugendethik“, „Deontologische Ethik“, „Teleologische Ethik“, „Utilitaristische Ethik“ u. s. w. (Zur Definition „deontologische Ethik“ siehe – Wikipedia; zur Definition „Tugendethik“ würde ich nicht Wikipedia empfehlen; dort eher das Stichwort „Tugend“ – Wikipedia.)

Fichte gliedert seine SITTENLEHRE von 1798 wie folgt:
I. Hauptstück: Deduktion des Prinzips der Sittlichkeit (ebd. S 13 – 58). Zugleich mit der Herausarbeitung eines Begriffes einer Idee von Sittlichkeit wird die Reflexion auf die Anwendungsbedingungen dieser Idee vorbereitet (ebd. S 58 -61).

II. Hauptstück, Deduktion der Realität und der Anwendungsbedingungen (ebd. S 62 – 154),  Begriff des Sollens (ebd. S 152).

III. Hauptstück – systematische Anwendung; über die weitere Begrifflichkeit eines Willens, formale Bedingungen der Moralität, Begriff des Gewissens (154 – 202).

Ich ging mit dem Vorurteil einer „deontologischen“ Ethik an die SL 1798 heran, dass rein nach einem Pflichtbegriff gehandelt werden müsse, koste es, was es wolle, d. h. ohne Seitenblick auf mögliche Folgen einer Handlung und Reflexion der Anwendungsbedingungen.  Fichte vertritt aber weder einen Intuitionismus in dieser Richtung, dass der Geltungsgrund des Guten oder Wahren (des „Solls“) durch  reflexive Bedingungen überhaupt nicht erreicht werden könne, er müsse  intuitiv, irgendwie naturalistisch, „blind“ eingesehen und befolgt werden – noch einen  Dezisionismus, dass ohne reflektierende Urteilskraft  und Wissen um die Anwendungsbedingungen (ohne Trieb und Gefühl) die Entscheidungen getroffen werden müssten. Im Gegenteil, es kommt viel Pragmatismus und Eudaimonismus vor – wenn halt dieses Wort im transzendentalen Bereich nicht so verpönt wäre!  

Es  geht sowohl  um eine einzigartige Durchdringung und Erkenntnis eines  a) vorgegebenen, sittlich Guten, ohne dass es autoritär oder heteronom aufgesetzt sein müsse, vorausgesetzt als absoluter Geltungsgrund, als auch b) um  die Aufgabe einer anwendungsbedingten und intersubjektiv überprüfbaren, kritischen, transzendentalen Selbstbesinnung auf die Realisierung und Anwendung von Selbstbestimmung und Freiheit  durch Trieb und Urteilskraft.

Das klingt jetzt noch reichlich allgemein; siehe dann konkreter  die folgenden §§ 1- 13, und siehe hier zuerst eine allgemeine,  systematische Gesamteinordnung der Position der „Sittenlehre“ ( oder anders gesagt, der Ethik) nach  M. Ivaldo : (Rot markierte Stellen sind Zitate von Fichte; genaue Stellenangaben Fichtes  siehe dort bei Ivaldo.)

1) Generell muss für die Teildisziplin einer „Sittenlehre“ gesagt werden: „(Fichte teilt) die WißenschaftsLehre der Theorie (oder der Erkenntniß) im kantischen Sinne“ und die „Wissenschaftslehre des [P]raktischen“ (ein.)
„Wissenschaftslehre der Theorie“ heißt Nachkonstruktion der Prinzipien dessen, was faktisch ist. Ihr Resultat ist „reine Empirie“. Die Wissenschaftslehre des Praktischen untersucht, wie die Welt als durch unsere Tätigkeit zu prägen gedacht werden muss. Ihr Resultat ist das „Ideal“, „inwiefern dieß Resultat sein kann“, denn das Ideal kann bloß theoretisch „nicht begriffen“, sondern lediglich durch praktische Ideen erfaßt werden. Die „theoretische Philosophie“ (oder: die „Weltlehre“) hat die „Natur“ zum Objekt und untergliedert sich in die Theorie des Mechanismus und in die Theorie des Organismus. Die Wissenschaftslehre des Praktischen wird – so Fichte – „insbesondere Ethik“.

In der Aufstellung des Gebiets des Praktischen kommt aber eine weitere bedeutende Unterscheidung zum Vorschein. Auf der einen Seite betont Fichte. „das [P]raktische [sei] Handeln überhaupt“, dessen wissenschaftliche Herausarbeitung in der Grundlage der Wissenschaftslehre stattfindet. Auf der anderen Seite fügt er hinzu: „Die besondere Wissenschaftslehre des [Praktischen [kann] nur sein eine Ethik.“1

„Die Ethik ist die systematische Untersuchung der Prinzipien des spontanen „Wissens„, das der moralischen Wesenskonstitution des Bewußtseins ursprünglich angehört. Ethik heißt daher prinzipielle Durchdringung des „Ethischen“ als Grundbestimmung des Ich-Bewußtseins, bzw. des „Vernunfteffekts“ (vgl. den 28. Vortrag der WL 1804-II). Dem transzendentalen Gedanken zufolge „erschafft“ die Ethik ihr „Objekt überhaupt nicht; sie ist (allein) erkenntniskritische Reflexion ihres „Objekts“ aus Prinzipien und nach Prinzipien: (….)

Daraus folgt aber nicht, daß die philosophische Ethik einem naturalistischen Fehlschluß erliegend das Prinzip der Sittlichkeit aus dem moralischen Faktum „ableite„.“ Sie untersucht die (transzendentale, nicht geschichtliche) Genesis des moralischen Faktums, indem sie jene „ursprüngliche Handlung“ der Vernunft herausstellt, die das Faktum „setzt“ und von der her sein Anspruch auf unbedingte Gültigkeit legitimiert wird. Der erste Teil der Sittenlehre 1798 erklärt in diesem Sinne, dass Freiheit als solche sich nur unter einem Freiheitsgesetz (Sittengesetz) denken lässt; sie bringt dadurch den Kern der moralischen Evidenz ans Licht.“2

„Die Philosophie „reinigt“ nämlich das geistige Auge, weil sie Irrtümer über die eigentliche Natur des sittlichen Sollens widerlegt und beseitigt: sie „zeigt aus den höchsten Gründen“, wie die moralische Gesinnung gebildet werden muss.“3

2) Das alles führt zu einer ziemlich anders konzipierten Sittenlehre, wenn ich die Titeln von Kant analog verwenden darf, zu einer anderen „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“, in der (bei Kant) das Sittengesetz als Grund aller Moralität faktisch vorausgesetzt wird, aber nicht erklärt werden kann, warum und wie es zu diesem Faktum kommt, und nochmals zu einer viel breiteren und weiteren Sicht des Praktischen überhaupt. Die Freiheit wird selbst ein erkenntnistheoretisches Prinzip in der „theoretischen Vernunft“ und die praktischen Seite der Vernunft führt zu recht konkreten Anwendungsbedingungen der Ethik und konkreten Pflichten.

Das Bewusstsein ist ein Ganzes, ist eine Einheit seiner Grundbestimmungen, und ist theoretisch wie praktisch konstituiert mit dem Vorrang des Praktischen. Das muss sich  systematisch aufbauen und durchdringen lassen: Was ist Geltungsform überhaupt, und was macht den materialen  Teilbereich der Moralität (der Ethik) aus. Der Titel bei Fichte ist deshalb präzise zu verstehen, ein „System“ soll die Sittenlehre sein, eine Grundbestimmung mit darin liegenden Weiterbestimmungen – und abgeleitet „nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre“.  

Die Erkenntnis des Sollens (des Guten) muss durch die Anwendungsbedingungen des Triebes und des Gefühls getragen und einsichtig werden. Das führt zu einer Begrifflichkeit der Gewissheit und des Gewissens, der für die Bestimmung des Sollens maßgeblich wird. Das Gewissen – ein in der Philosophiegeschichte vieldiskutierter und vielleicht vernachlässigter?  Begriff – wird hier u. a. zentral. Ebenso soll aber auch eine intersubjektiv überprüfbare, wissenschaftliche Darlegung der Rechte und Pflichten möglich werden – nicht nur eine Berufung auf das Gewissen. 4

Man bemerke den Fortschritt gegenüber Kant: Es wird nicht nachträglich durch den ebenfalls unvermittelt eingeführten „kategorischen Imperativ“ das Sittliche oder sittlich Gute  ermittelt, sondern a) der apriorische Geltungsgrund des Guten steht von vornherein  ontologisch fest, b) die transzendentale Vorstellung und Konstitution des Guten im Handeln und im Gewissen verlangt aber jetzt eine transzendentale Erklärung (Genese) und Umsetzung (Anwendung), wie das sittlich Gute erkannt und möglich realisiert werden kann. Das heißt wiederum, c) dass die sinnlichen und medialen und geschichtlichen Anwendungsbedingungen der ganzen Natur des Vernunftwesen „Mensch“ einbezogen werden müssen, um das sittlich Gute (oder Böse) einzusehen und zu realisieren. Das ergibt d) schlussendlich ein offenes System, insofern die Hemmungen und Aufforderungen in ihrem Sinngehalt zwar hierarchisch-systematisch gegliedert sind, aber im einzelnen offen, denn der entsprechende  Sinn- und Wertgehalt bleib als Hemmung oder Aufforderung oder geschichtlicher Anspruch unableitbar.

Anders gesagt: Das Rechtfertigende des Handelns liegt im vorausgesetzten Guten schon fest, das Begründende des Handelns (die Genese) ist aber Sache des transzendentalen Schematisierens und der sinnlichen Triebnatur und vieler pragmatischer Überlegungen in den begegnenden Aufforderungen und  Hemmungen, generell gesagt, der Freiheit.

Nochmals zur Gesamteinordnung des Ethischen in das Gesamtkonzept des Praktischen der Vernunft: „Dem transzendentalen Gesichtspunkt zufolge umgreift also das Praktische einerseits mehrere Ebenen und bedeutet andererseits die spezifische Stufe des Moralisch-Praktischen, die von grundlegender Bedeutung für eine angemessene Ontologie des menschlichen Lebens ist.“ 5

2) Es ist die SL von 1798 nicht nur eine Vertiefung und direkte Ausführung der WL selbst, sei es der GWL von 1794/95 oder der WLnm von 1796-1799, sondern ebenso umfangreiche Anthropologie und große Seelenkenntnis und allgemeine Menschen- und Weltkenntnis (als „Tugendlehre“ oder Weisheit  benennbar). Was Fichte hier empathisch, liebevoll, optimistisch, pädagogisch, rhetorisch einfließen lässt! Ich könnte seine SL ebenfalls eine transzendental konstituierte Wertlehre oder Pädagogik nennen. Vorallem ab Mitte des III Hauptstücks (ebd. S 251 bis Ende S 362) wird das moralische Sollen konkretisiert in einzelne Pflichten, was besondere Welt- und Menschenkenntnis verlangt: So z. B. was es heißt, in einem jeweilig-natürlichen Stande und im gesellschaftlichen Stande sittlich zu sein, für Gerechtigkeit, Schutz des Lebens und des Leibes einzutreten, allgemeine und besondere Pflichten zu erfüllen usw. usf.
Die Pflichten im „eigentlichen Verstande“ (ebd. S 251) sind nicht rigoristische Gebote oder Verbote, sondern eher zu übersetzen als materiale Tugenden dessen, was Pflicht heißen kann. 6
Um nochmals die Sache zu problematisieren: Ethik nach „Prinzipien der Wissenschaftslehre“ ist eine prinzipielle Durchdringung des Ethischen, d. h. eine begriffliche Begründung und Rechtfertigung  und systematische Aufstellung des material Sittlichen als Grundbestimmung des Ich-Bewusstseins. Die Tugenden werden einerseits wie bei ARISTOTELES gefunden, andererseits, weil sie durch die Reflexionsform  gebildet  sind, transzendental konstitutiert d. h. in  und aus einem höchsten Begriff des Solls deduziert und auf die Bedingungen ihrer Vorstellbarkeit und Realisierbarkeit hin analysiert. Deshalb die hervorragende Ableitung des Triebes als naturale Voraussetzung der Freiheit – und weiterer Anwendungsbedingungen. 

3) J. Widmann stellt die Frage nach der Ethik bei FICHTE so: „Das wesentliche Problem aller konkreten Rechtskonstitution war, dass die gleichwertige Freiheitsverwirklichung aller nur dann bestehen und gedeihen kann, wenn der einzelne seine Handlungen entsprechend entwirft und ausführt. Wie aber kommt der einzelne überhaupt zu Handlungszielen und insbesondere zum Ziel selbsttätiger Freiheitsverwirklichung? Mit dieser Frage betreten wir jenen Bereich, den Fichte in seiner Sittenlehre untersucht.“7

3. 1) In der praktischen Konstitutionsordnung des Bewusstseins spielt das Wollen  die Hauptrolle. In dieser Selbstbeobachtung des Wollens fällt auf, dass im Begriff  nicht vom Sein des Wollens abstrahiert werden kann. Das Wollen ist eine ursprünglich objektivierte Äußerung des Bewusstseins. Es ist die vermittels des Denkens bewusst gemachte Selbsttätigkeit des Bewusstseins.8

Durch eine Einheit im Wollen, formale wie materiale Einheit, denkt sich deshalb Fichte nicht reduktiv irgendwelche Bedingungen des freien Wollens aus, sondern beginnt mit der sinnlichen Erfahrung, d. h.  mit einem synthetischen Begriff – und wie diese Erfahrung und dieser zugrundeliegende Begriff den Bedingungen der Möglichkeit nach wissbar sein kann. Jeder Begriff muss anschaulich und in Bezug auf eine Idee hin wissbar gesetzt und bewährt werden können.

Das Wesen des Ichs – nach der GRUNDLAGE von 1794/95, der WLnm von 1796/99 und der GNR 1796 und diversen anderen Schriften und Vorträgen dieser Zeit –  ist Tätigkeit und Bilden. Von dieser Tätigkeit muss ausgegangen werden.

Wieder J. Widmann: „Vor jedem bestimmten Wollen, das sich in einer realen Handlung manifestiert, liegt somit die reine Tendenz zur absoluten Tätigkeit. Schaut das Ich diese Tendenz an und identifiziert sich mit ihr, so setzt es sich als frei, d. h. es setzt sich als ursprüngliche Potenz zu einer ,,Kausalität“. Und zwar zu einer schöpferischen Kausalität, deren Wirkungsform nicht als Glied einer vorausgehenden Kausalkette bestimmt ist, sondern die allein und ursprünglich durch ein Begriffsbild des Ich in Gang gesetzt – also „angefangen“ – und geprägt wird. Die spezielle Frage in der Grundlegung der Sittenlehre ist nun, wie das Ich sich seiner Tendenz zur Selbsttätigkeit begrifflich bewusst wird.
Die Tendenz zur Selbsttätigkeit äußert sich zunächst als
Trieb. Doch nicht als ein Trieb, der auf einen Teil des Ich, sondern der auf das ganze Ich gerichtet ist. Diese Gesamtausrichtung hat zur Folge, dass aus dem Trieb nicht ein Gefühl erfolgt, wie nach der in der ,,Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre“ dargelegten allgemeinen Regel zu erwarten wäre. Die Existenz eines Gefühls setzt Abhängigkeit des Subjektiven von einem Objektiven voraus. Im Trieb zur unabhängigen Selbsttätigkeit ist jedoch der Sonderfall gegeben, dass eine solche Abhängigkeit gerade nicht statt hat. Was erscheint dann als Folge dieses besonderen Triebes? Ein „reiner Gedanke, dem nicht das geringste von Gefühl oder sinnlicher Anschauung beigemischt sein kann“. 9

So komme ich jetzt erst zum eigentlichen Text der SL von 1798. Ich werde nur bis § 13 Stichworte bringen. Es sind sagenhafte, genau ausgearbeitete Argumentationen Fichtes, eine angewandte WL. 

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4) Die Einleitung überspringe ich hier, weil sie wesentliche Teile des nachfolgenden Werkes zusammenfasst. Sie wird vom Ende der SL 1798 von sich her klar, würde aber umgekehrt viele Verweise brauchen.  Ich setze deshalb bei  der „Vorerinnerung“, 1. Hauptstück, ein:

Vorerinnerung“ (ebd. S 13 ff)10

Gegen alle heteronomen Vorbehalte und heteronomes Zweckdenken wird  von einem Freiheitsethos ausgegangen. Für den moralischen Menschen kann und darf es keine Nötigung von außen geben. Er muss vielmehr von selbst die genetische Erkenntnis (Erhellung) aus dem Wesen der Vernunft finden, was gut und richtig ist, was er tun und lassen soll, um seine Freiheit zu gewinnen (zu realisieren und zu leben).

FICHTE beginnt, ähnlich wie in der WLnm, die zeitgleich vorgetragen wurde: Denke dich selbst und siehe dir dabei zu, wie du es machst.

§ 1. Aufgabe. Sich selbst, bloß als sich selbst, d. i. abgesondert von allem, was nicht wir selbst ist, zu denken“  Auflösung 1. Lehrsatz. Ich finde mich selbst, als mich selbst, nur wollend.(ebd. S 18) Was heißt eigentlich, ich finde mich?

Das Gefundene soll so sein, wie es ist. Der Findende erscheint sich hier passiv. (ebd. S 19)  Ferner, was kann das heißen, ich finde mich wollend?

Der Beweis gründet sich auf den Begriff des Ichs. Der Charakter des Ichs ist, dass es ein Handelndes ist und zugleich das, worauf gehandelt wird, ein und dasselbe. (S 22)  Der Begriff der Ichheit, oder anderes gesagt, der Begriff der Gewissheit, der Sittenlehre, der gesamten Philosophie – sie haben im (absoluten) Ich ihren Grund.

Das Wollen ist unter Voraussetzung eines vom Ich Verschiedenen denkbar.  Das bestimme Wollen und ein reines  Wollen (reiner Wille)  müssen  dabei unterschieden werden.  Ein bestimmtes Wollen heißt etwas wollen.  Die Möglichkeit des Wollens setzt aber den Begriff eines außer uns“ (in intellektueller Anschauung). Um das wahre Wesen des Wollens zu finden muss ich deshalb jenes „außer uns“ und Fremdartige im bestimmten Wollen wegdenken. Übrig bleibt das reine Sein. (ebd. S 24)  Nach der Abstraktion von jedem bestimmten Wollen entsteht ein Wollen als solches. Das ist eigentlich nur negativ fassbar; d. h. es soll nicht abhängig sein von etwas, sondern durch sich selbst begründet, ein Erstes sein. 

Das Wollen soll sein ein absolutes und erstes und durch kein Etwas außer dem Ich bedingt, sondern nur aus dem Ich selbst sein. (S 25)  Das Wollen erscheint als absolut, aber diese Erscheinung muss jetzt  trotzdem in intellektueller Anschauung konstituiert und erklärt werden können, sonst würde dogmatisch-unbewiesen etwas behauptet bzw. überhaupt nichts erkannt und gesagt. Die Erklärung zielt auf das, was dem Begriff der Wahrheit nach von selbst sich begründet und wahr ist. Die Wahrheit ist selbst ihre Begründung und ihr Kriterium (Inwiefern das bonum davon unterschieden oder gleichgesetzt wird, wäre eine weitere Frage.) Dahinter steht ein praktisches Interesse. (ebd. Anmerkung S 25.26)

Hierzu möchte ich wiederum mithilfe von J. Widmann weiter ausholen: 11

J. Widmann macht darauf aufmerksam, dass im 3. Hauptteil § 14 (ebd. S 154ff), wenn FICHTE von den formalen Bedingungen der Moralität spricht, der Wille vom bestimmten Wollen unterschieden werden muss.  FICHTE distinguiert:

a) das actuale Wollen ist zwar faktische Bedingung für das distinkte Erscheinen des Willens, aber nicht unmittelbar Bedingung für den Begriff des Willens.

b) Die primäre Willensentscheidung geht auf einen umfassenden Begriff von Sinn und Inhalt aus, der aber im bestimmten Wollen, das „ein absolut freies Uebergehen von Unbestimmtheit zur Bestimmtheit, mit dem Bewusstseyn desselben“ (S 154) ist, nicht gefasst werden kann. Das bestimmte Wollen ist im Rückgriff auf das faktische Resultat bereits relativ erscheinend, nicht mehr absolut.

M. a. W., der genetische Ursprungsmoment des Wollens und die eigentliche Intention des Ichs wird im bestimmten Wollen nicht mehr greifbar und sichtbar, sondern das Ich zieht hier seinen Blick vom primär Gewollten ab, vom genetischen Ursprungsmoment, um ein sekundär Gewolltes zu realisieren, nämlich das Mittel, das es zum Erreichen des primären Zweckes – der umfassenden Zweck- und Sinnbildung – braucht.Dies Mittel überhaupt ist der Wille: er ist nicht um seiner selbst willen, sondern um des im absoluten Soll gesetzten Zweckes willen.“ 12

Der Begriff des Willens resultiert so nicht aus dem Wollen überhaupt, sondern aus einem bestimmten Wollen: dem Willen zur Sich-Erkenntnis und Sich-Bejahung. 

„Der Begriff des Willens entsteht aus der Abstraktion vom konkreten Zielinhalt des Wollens. Als Ziel bleibt hierbei dem essentiell zielgerichteten Wollen nur seine eigene prinzipielle Form. Sie gibt den Inhalt des reinen Begriffs vom Willen.“ 13

c) Wenn sich faktisches Wollen und Willen unterscheiden, so bedeutet das für alle je mögliche Willenssetzung eines endlichen Ichs innerhalb des absoluten Ichs, dass jede faktische Wollenssetzung (im Bewusstseins) nur ein Teil der überhaupt möglichen Erkenntnis und womöglichen Erfüllung bieten kann –  verglichen mit der faktisch uneingeschränkten Potenz des Wollens. Die ursprünglich angestrebte Wollenssetzung im Resultat fällt faktisch immer relativ, nicht absolut, aus.

Dies ist der genetische Ort der Entstehung des Triebes. Der Triebbegriff heißt Gehemmtsein  – im angestrebten Bewirken einer vollkommenen Erfüllung, Kausalität ohne Wirkung, aber deshalb auch vor-reflexive Bedingung der Möglichkeit eines wirklichen Sehens, dass es zu einem erfüllten Wollen nach Bedingungen der Freiheit  kommen kann, sprich, zu einem wirklichen Sehen einer Selbstbestimmung in der Erscheinung und für die Erscheinung. 

„Der unmittelbar unbestimmbare und unsichtbare Trieb des Sehens wird in seiner Ausrichtung rein bestimmbar durch die Synthesis, die er zwischen Sehen und möglichem Begreifen schafft.“ 14

In der Kraft dieser Synthesis, einem möglichen Sehen als einer Relation zwischen einem triebhaft Gewolltem und einem selber nicht herbeiführbaren Gewollten (Erfüllung des Gewollten), wird der Trieb zur notwendigen Voraussetzung der Freiheit, dass letztere sich durch den Trieb konkret entscheiden und handeln kann, was es selbst  zu ihrer Selbständigkeit und Selbstbestimmung für richtig hält und wählt und frei rechtfertigt.

Dies ist aber jetzt von mir weit über § 1 hinausgeblickend, wenn auch notwendig.

Es geht (hier in § 1) um die höchste Abstraktion eines „Ich“, dass gewisse Bedingungen aufweist – nach A. Schmidt: „a) Selbstständigkeit ohne wesentliche Relationen zu Verschiedenem“, b) „Bestehen unabhängig von der philosophischen Reflexion“, c) „Verfasstsein als selbstbezügliche Tätigkeit.“ 15

Die selbstbezügliche Tätigkeit des Ichs mit der Selbstbestimmung des Willens verlangt ein Gewolltes im Wollen; dies ergibt das Denken vom Zweck, der schlussendlich aber mit einem normativen Moralgesetz der Freiheit und der Rationalität zusammenfallen wird – siehe dann die §§ 2-3. Vorerst ist das Ich so abstrakt wie möglich bestimmt.

Das Wollen soll sein ein absolutes und erstes und durch kein Etwas außer dem Ich bedingt, sondern nur aus dem Ich selbst sein. (S 25)  Wie kann dieses Absolute im Wollen gedacht werden? (S 26 )

FICHTE bringt den Vergleich mit einer niedergedrückten Stahlfeder. Im Wollen wie in der Stahlfeder liegt ein Grund einer Selbstbestimmung. In beiden liegt ein Sichtbarwerden der inneren Tendenz, sobald die Bedingung von außen eintrifft. Trotzdem aber denken wir uns den Zustand einer niedergedrückten Stahlfeder und den Zustand eines gehemmten Wollens verschieden. Letzteres ist frei im Wählen der Bedingung, erstere nicht.

Es ist die Aufgabe, der Form nach dieses Ich in der geforderten Abstraktion des Wollens als Bestehendes zu denken, mit innerer Tendenz, als Wesen, das nach Denkgesetzen handelt und ihren materialen Grund in einem absoluten Wollen hat.

Es besteht die absolute Tendenz zum Absoluten, absolute Unbestimmbarkeit durch irgend etwas außer ihm. (S 28)
Diese absolute Tendenz ist hier noch nicht direkt als eine Kraft oder Vermögen zu bezeichnen, denn ein Vermögen kann es erst geben unter der Bedingung, dass eine Äußerung in der Wirklichkeit erfolge.

Es ist diese innere Tendenz auch noch nicht als Trieb zu benennen, denn der Trieb wirkt erst, wenn die Bedingung seiner Wirksamkeit eintritt.

Der Charakter des Ichs ist „eine Tendenz zur Selbsttätigkeit um der Selbsttätigkeit willen.“ (S 28)

Diese Tendenz ist gesetzt, wenn das Ich an und für sich ohne alle Beziehung auf etwas außer ihm beschrieben und gedacht und gesetzt sein soll.

© Franz Strasser, 26. 1. 2021

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1Marco Ivaldo, Die systematische Position der Ethik nach der Wissenschaftslehre nova methodo und der Sittenlehre 1798. In: Fichte-Studien, Bd. 16, 1999, S. 239.

2M. Ivaldo, ebd., S. 241.

3M. Ivaldo, ebd., S. 242.

4Vgl. dazu: Wolfgang H. Schrader, Gewissen und Realität. In: Transzendenz und Existenz. (…) Hrsg. v. Manfred Baum und Klaus Hammacher, Amsterdam-Atlanta, GA 2001, S 239- 255.

5M. Ivaldo, ebd., S. 243

6 KANTS Ethik wird bekanntlich ebenfalls oft als bloße „Pflichtenethik“ verschrien – und man übersieht dabei den oft warmherzigen Ton dahinter, übersieht die Beschreibung der Tugenden u. a. m. Die Bezeichnung „deontische“ Moralbegründung in der „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“( AA IV, 432. 434, 437, 444. 447) und in der KpV ist eigentlich nichtssagend. Ausdrücklich schrieb KANT eine „Tugendethik“ in der „Metaphysik der Sitten“. „Tugend ist die Stärke der Maxime des Menschen in Befolgung seiner Pflicht.“ (Tugendlehre, Metaphysik der Sitten, AA VI, 394). Eine Tugendethik widerspricht nicht einer „deontologischen“ Pflicht-Ethik, wenn ich nochmals diese Schlagwort strapazieren darf, weil ja „nach einem Prinzip der inneren Freiheit“, und das heißt, „durch die bloße Vorstellung seiner Pflicht, nach dem formalen Gesetz derselben.“ (ebd) gehandelt wird, d. h. also völlig frei und mit Emotion.

7J. Widmann, J. G. Fichte, Berlin 1982, S 178.

8Vgl. J. Widmann, J. G. Fichte, Berlin 1982, S 179.

9J. Widmann, ebd. S 180.181

10Ich zitiere nach der Meiner-Ausgabe, Hamburg 1995.

11Vgl. J. Widmann, Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens, Hamburg 1977, S 115f.

12J. Widmann, Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens, Hamburg 1977, S 115.

13J. Widmann: ebd. S 115. „Ein solches Absehen vom ursprünglich gesetzten und verwirklichten Zweck des Wollens – der Erkenntnis des Selbstseins – wäre nicht möglich, wenn die Verwirklichung dieser Erkenntnis dem Ich schon absolute Erfüllung gebracht hätte. Die Rückbesinnung auf den reinen Willensbegriff, d. h. auf die faktisch uneingeschränkte Potenz des Wollens, enthüllt, dass die ursprünglich verwirklichte Wollenssetzung im Resultat nur relativ, nicht absolut war. Das bedeutet, dass das Ich noch anderer „Mittel“ bedarf, um die absolut mögliche Intention seines Wollens verwirklichen zu können.“

14J. Widmann,  ebd. S 189.

15Vgl. Andreas Schmidt, Die Deduktion des Prinzips der Sittlichkeit. Fichtes System der Sittenlehre. Ein kooperativer Kommentar. Hrsg. v. Jean-Christoph Merle und Andreas Schmidt, Frankfurt a. M., 2015, ebd. S. 44.

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser