Zur Deduktion des Rechtsbegriffs bei Fichte in der GNR – 1. Teil

Zufällig fiel mir ein Buch in die Hände: Hans Georg von Manz, Fairness und Vernunftrecht. Rawls‘ Versuch der prozeduralen Begründung einer gerechten Gesellschaftsordnung im Gegensatz zu ihrer Vernunftbestimmung bei Fichte. Hildesheim: Olms-Verlag, 1992. 

Die Vorstellungen der Erreichung von Gerechtigkeit gehen ja nach wie vor total durcheinander – und eine Vorfrage lautet, wie kann das Recht begründet werden. 

Liegt es im Rechtsbegriff selbst, dass die Idee der Gerechtigkeit darin enthalten ist, oder wird Gerechtigkeit erst nachträglich hineinreglementiert oder generell unerreichbar oder nur durch Gewalt erreichbar?

Eine transzendentalphilosophische Fragestellung geht von vornherein anders an das Thema Recht und Gerechtigkeit heran als eine empirische Beobachtungsanalyse: Es ist eine theoretische Aufgabe gestellt – und welche Lösungsbedingungen sind dafür zu entwerfen. Thema und Objekt der Rechtsbegründung lauten: In welcher Form ist ein Miteinander freier, endlicher Vernunftwesen denkbar? (Einleitung zur GNR, S 9). „Und so hätten wir denn das ganze Object des Rechtsbegriffes; nemlich eine Gemeinschaft zwischen freien Wesen als solchen.“ (FICHTE, GRUNDLAGE DES NATURRECHTS (abk.=GNR) von 1796, SW III, Einleitung, II. Abschnitt, S 9)
H. G. v. MANZ zeichnet (in Absetzung zu RAWLS) sehr präzise und unverfälscht den Standpunkt FICHTES nach, dazu gut gegliedert und mit guten Überschriften zur Orientierung: Es  wird  das transzendentalphilosophische Verfahren der Begründung von Recht in seiner ganzen Relevanz der Einsicht und Evidenz  geschildert –  im Unterschied zu bloß religiösen oder autoritären  Rechts- und Gerechtigkeitsbegründungen.  Wie ist eine gerechte Gesellschaft möglich? Das hängt zusammen mit der Frage: Was ist Recht und wie wird es begründet?

MANZ gliedert wie folgt: 

1) Subjektivität; (oder Selbstbewusstsein, Reflexivität; der transzendentale Möglichkeitsbegriff des Rechtes; FICHTE, GNR,  SW III, 1. Hauptstück §§ 1 – 4; (MANZ, ebd. S 95 – 103)

2) Deduktion der Anwendbarkeit des Rechtsbegriffes (Leib; Kommunikabilität, Geltungsbegriff; GNR, SW III, 2. Hauptstück §§ 5 – 7; von Manz, ebd. S 103-109;) Ich hebe den Übergang vom transzendentalen zum angewandten Rechtsbegriff § 7 als „Geltungsbegriff“ oder in den Anschauungsformen Zeit und Raum (ebd. § 7; S 85-91) hervor. 

3) Schließlich muss von den transzendental nachgewiesenen Anwendungsbedingungen des Selbstbewusstseins zur wirklichen Anwendungsbedingung des Rechtsbegriffes übergangen werden, zu einer reinen Rechtslehre im engeren Sinne. Diese zerfällt

3. 1) in eine systematische Anwendung des Rechtsbegriffes 1. Teil, wiederum aufgegliedert in drei Teile, GNR,  §§ 8 – 16; (v. Manz, ebd. S 109 – 131.) Es sind dies die Folgebegriffe Urrecht, Zwangsrecht und die Synthese des Gemeinwesens im Staat.

3. 2) Systematische Anwendung 2. Teil, wiederum drei Teile, Politik im weitesten Sinne, mit konstitutiven Prinzipien (GNR, §§ 17 – 20;) und regulativen Ausarbeitung von politischen Prinzipien einer konkreten Verfassung für ein bestimmtes Volk (GNR, § 21; S 286 – 303).

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Ad 1)
Im analogen Sinn zu KANTS „metaphysischer Deduktion“ 1 muss von einer metaphysischen Wahrheit und Geltung des Rechtsbegriffes, d. h. von einem  apriorisch geltenden Rechts-Verhältnis freier Vernunftwesen ausgegangen werden. M. a. W. Der Rechtsbegriff ist selbst konstitutives, theoretisches und praktisches Moment des Wissens und des Selbstbewusstseins. Dies entspricht der ganzen Linie der Erkenntnislehre der WL, wonach theoretische wie praktische Momente in der Erkenntnis miteinander verschränkt sind. Die Einheit der erkenntnismäßigen und zugleich sittlichen Konstitution der Objekte ist durch die Einheit im „absoluten Ich“ der GWL von 1794/94 bzw. durch die Einheit eines „durch sich selbst bestimmten reinen Willens“ (§ 12 der WLnm 1796-1799) geschaffen – und wird durch eine Rechtslehre und in Folge durch eine Sittenlehre (SL 1798), ebenso durch eine Naturlehre und Religionslehre, mit Inhalt vollzogen. 

Der Begriff der Freiheit, bei KANT theoretisch nicht erkennbar, ist durch das praktische Streben und Wollen assertorisch gewiss. Er ist ein erkenntniskonstitutiver und wertrelevanter, synthetischer Begriff a priori. Der Wille ist frei – und anders kann der Wille nicht gedacht werden.

Die Deduktion anderer Personen in der Einheit des Wissens ist  in der GWL von 1794/95 und in der WLnm (1796-1799)  schon angespielt, wird aber jetzt in der GNR explizit abgeleitet.
Die Interpersonalität ist, wie v. Manz in einem jüngeren Artikel zusammenfasst, „konstitutives Wesenselement einer Transzendentalphilosophie in ihrer systematischen Entfaltung“.
2 Durch die Interpersonalitätslehre greifen die verschiedenen Disziplinen der philosophischen Prinzipienerkenntnis ineinander: Rechtslehre, Naturlehre, Sittenlehre, Religionslehre.

Der Ich-Begriff in der GNR von 1796 ist zwar großteils noch der kantische Ich-Begriff des Sich-Wissens und Sich-Erkennens, also noch nicht die ausdrückliche, Geltungsbegründung aus einem „absoluten“ Ich, aber dieser kantische Ich-Begriff ist wesentlich erweitert um das willentliche und praktische Wollen und Sollen. In der Lehre der Interpersonalität und in der Aufnahme und Anerkennung eines anderen Ichs wird nicht reduktiv auf andere Personen geschlossen, sondern die Möglichkeit des Selbstbewusstseins (Subjektivität) und des Sich-Wissens ist konstitutiv an die Aufforderung durch ein Du gebunden – und nochmals begründet und gerechtfertigt durch eine absolutes Soll.

Je nachdem, wie auf der Erscheinungsebene der wirkliche Seh-Akt gesehen und reflektiert wird, ergeben sich folgende Alternativen: a) Sieht man bloß auf das actuale Sehen für sich, ergibt sich für und in der Reflexivität des Ichs eine unendliche Dreifachheit des Sehens, oder b) es werden die genetischen Punkte von Grund (als Anfang) und Folge (als bestimmtes Ende) hinzugezählt, so ergibt sich eine Fünffachheit des Bestimmens: Natur, Recht, Moralität, Religion und die Reflexivität der Ichheit selbst. Es sind zwei Bestimmtheiten, Natur und Recht, und zwei Bestimmbarkeiten, Moralität und Religion, schließlich die Form der Reflexivität des Ichs.

Die sich im Bewusstsein darstellende unendliche Mannigfaltigkeit einer rechtlichen Gemeinschaft (Legalität), verbunden mit einer Theorie der Gerechtigkeit, d. h. dass die Idee der Gerechtigkeit im Rechtsverhältnis notwendig teleologisch enthalten ist, ist somit eine eigene transzendentale Sphäre (Materie) des Denkens von Bewusstsein/Selbstbewusstsein und ein wesentlicher Effekt der Vernunft. Der transzendentale Rechtsstandpunkt kann somit nicht hoch genug eingeschätzt werden. Umgekehrt muss aber auch gesagt werden, weil das rechtliche und gesellschaftliche Verhältnis nicht die ganze Vernunftrealisation ist,  dass  die Rechtslehre  integral bezogen  bleiben muss auf die Bereiche der sinnlichen, sittlichen und religiösen Natur, schließlich auf die Reflexionseinheit des Sich-Wissens selbst, um vollauf begründet und dargelegt werden zu können.  

In der etwa gleichzeitig wie die GNR 1796 vorgetragenen WLnm beschreibt FICHTE die Rechtslehre folgendermaßen: „Die Natur dieser Wißenschaft ist sehr lange verkannt worden [;) sie hält die Mitte zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, sie ist theoretische und praktische Philosophie zugleich.“ (GA IV, 2, 264)

Dies bedeutet, wenn ich schon auf das System der WL kurz anspiele,  dass der transzendentale Rechtsstandpunkt nicht unabhängig von den anderen Vernunfteffekten der ERSCHEINUNG des Absoluten gesehen werden kann. Der apriorische Rechtsbegriff, abgeleitet durch die Synthesen der Freiheit in einem Interpersonalverhältnis, leitet von sich her über zu einem Verständnis einer organisierten Natur,  zur Vorbedingung einer Sittenlehre und einer Religionslehre, und in weitere Folge auch zur Politik und Pädagogik.  Die Rechtslehre steht somit immer in einer spezifischen Verknüpfung zu anderen Grunddisziplinen  und Weiterbestimmungen des Wissens.

Manz beschreibt das Verhältnis der Rechtslehre zur Sittenlehre so: „Auch wenn sich das Rechtsgesetz aus dem transzendentalen Rechtsbegriff herleiten lässt, ist in ihm keine kategorische Sollensforderung enthalten, dergestalt, dass eine Gemeinschaft gewollt werden soll und dass die äußeren Verhältnisse dem Rechtsbegriff gemäß gestaltet werden sollen. Insofern ist der Rechtsbegriff bei Fichte tatsächlich wertfrei.“3

Ein Aspekt von Rechtslehre kommt in der GNR von 1796  zusätzlich noch zur Geltung, den ich hervorheben will: Der geschichtliche Aspekt. Da der Geltungsbegriff eines kategorischen Solls nicht ungeschichtlich oder bloß transzendent bleiben kann, muss die sittliche Freiheit, aber auch die Legalität, geschichtlich, pädagogisch und politisch realisiert werden.4 Dadurch kommen zu den reflexiven Denkmöglichkeiten des Selbstbewusstseins (Leib, Kommunikabilität) reelle, geschichtliche Anwendungsbedingungen, wie es in der Jurisprudenz sowieso gang und gäbe ist, wenn dort von „Rechtsquellen“ oder unzähligen kasuistischen Fällen und Formeln der geschichtlichen Erfahrung die Rede ist. Der transzendentale Rechtsbegriff erhält so notwendig geschichtliche und politische Anwendungsbedingungen.

FICHTE arbeitet die transzendentalen Anwendungsbedingungen als Leib und Kommunikabilität heraus, aber ebenso, wie der weitere Verlauf ab § 8 zeigt, die Notwendigkeit eines Übergangs zu einer reellen Rechtslehre in der konkreten Praxis der Gesellschaft.  

„[…] der von uns aufgestellte Begriff einer Constitution (sc. des Rechtsbegriffes)   vollendet die Lösung der Aufgabe der reinen Vernunft: wie ist die Realisation des Rechtsbegriffs in der Sinnenwelt möglich? Mit ihm ist so nach die Wissenschaft (der reinen Rechtslehre) geschlossen. So ist die Constitution a priori bestimmt (GNR, § 21, S. 286), d. h. also rückblickend auf die konstitutiven Prinzipien gesprochen der §§ 1- 20. In § 21 kommt es zur Überleitung des Rechtsbegriffes in eine konkrete Verfassung und zur Gewaltenteilung. 

Ich kehre zur Gliederung von H. G. v. Manz zurück: Nach der metaphysischen Deduktion des Rechtsbegriffes folgen die transzendentalen Anwendungsbedingungen des Rechts in der Form der a) Leiblichkeit des Vernunftwesens und in der Form b) der Kommunikabilität.

Ad 1 – Subjektivität) G. v. Manz spricht vom Begriff der „Subjektivität“ als Intention und Reflexion. (ebd. S 95). „Der erste Schritt in der Deduktion des Rechtsbegriffs ist der Aufweis der ursprünglichen Tätigkeit des Subjekts als primärer Ansatzpunkt von Subjektivität: „Ein endliches vernünftiges Wesen kann sich selbst nicht setzen, ohne sich eine freie Wirksamkeit zuzuschreiben.“ (SW III, GNR § 1, S 17)

In dieser Überschrift zum ersten Paragraphen der GNR steckt eigentlich die ganze WL vom Bewusstsein/Selbstbewusstsein, wie sie die GWL von 1794/95 und die parallel zu der GNR laufende WLnm von 1796 dargelegt haben. Wie das gemeint ist, kann vielleicht eine kurze Erläuterung aus einem späteren § der GNR zeigen:

Durch das Anschauen selbst, und lediglich dadurch entsteht das Angeschaute; das Ich geht in sich selbst zurück; und diese Handlung gibt Anschauung und Angeschautes zugleich; die Vernunft (das Ich) ist in der Anschauung keineswegs leidend, sondern absolut tätig; sie ist in ihr produktive Einbildungskraft“ (ebd., 2. Hauptstück, § 5, S 58).

Wie verläuft die Argumentation bei FICHTE? Ein apriorischer Begriff von Recht unterscheidet sich wesentlich von faktischen oder machtpolitischen, psychologischen oder systemtheoretischen Herleitungen des Rechts.

Dem alltäglichen Bewusstsein mögen die Bewusstseinsbedingungen, warum es notwendig zum Rechtsempfinden kommt, sobald eine freies Vernunftwesen angesetzt wird, nicht explizit bewusst sein. Darüberhinaus gibt es viele falsche Erklärungen und Deutungen des Rechtsbewusstseins, die als solche den eigentlichen Begriff des Rechts aber nicht als vernunftnotwendig ableiten können. Es ist deshalb Aufgabe der Philosophie, wie FICHTE in der Einleitung sagt (SW III, EL, S 7ff), die Materie des Sich-Wissens von Subjektivität (Selbstbewusstseins) – ab dem § 3 spricht FICHTE ausdrücklich von der „Person“ und der Personen-Gemeinschaft – zu thematisieren und apriorisch und  genetisch aus dem Wesen der Vernunft heraus, als Rechtsbegriff, zu bilden und abzuleiten. 5

Der Ausgangspunkt bei FICHTE ist genial gefunden und bestimmt: Wenn Bewusstsein/Selbstbewusstsein möglich sein soll, so muss es als Bewusstsein/Selbstbewusstsein natürlich a) frei sein; das hat zur Folge, dass b) es in einem unableitbaren, anderen, objektivierten Bilde der Freiheit in concreto, d. h. in einem realen Bild eines anderen Ich-Bewusstseins sich selbst als anderes Ich begegnen und anschauen können muss, in einem DU innerhalb eines WIR – und es muss c) eine freie Wirksamkeit und Kommunikabilität aufeinander möglich sein. 

Diese Selbstanschauung der Freiheit in möglicher Affirmation anderer Freiheit ist in den §§ 3- 4, „Deduction des Begriffes vom Rechte“, S 17 – 56, dargelegt; einmalig und erstmalig, wie oft gesagt worden ist. Man kann ruhig andere Rechts- und Staatstheorien dieser Zeit zum Vergleich heranziehen: LOCKE, HOBBES, ROUSSEAU, KANT, MILL. Es fehlt ihnen die „freie Wechselwirksamkeit“ und die konstitutive Interpersonalität – siehe dann Teile 2 und 3. 6

Der Interpersonalitäts- oder Intersubjektivitätsschluss ist  vorbereitet in  § 2 – und kommt in den §§ 3- 4 zur  Ausführung einer transzendentalen Wissbarkeit und Bestimmbarkeit. 

Es ist Wesenseigenschaft und Charakteristik der Vernunft, in einem Vernunftwesen die Form „der Sinnenwelt als Bestimmungsgrund der Subjektivität“ anzusetzen (G. v. Manz, ebd. S 96). Ich zitiere die Überschrift: 

§ 2 Folgesatz. Durch dieses Setzen seines Vermögens zur freien Wirksamkeit setzt und bestimmt das Vernunftwesen eine Sinnenwelt ausser sich.“ (§ 2, ebd. S, 23)

Ich verweise hier der kürzeren Begrifflichkeit halber auf die WL 1804/2: Die transzendentalreflexive Einheit des Wissens (Bildens) ist der Form nach geschlossen und endlich, der Materie nach im ablaufenden Bewusstsein offen und unendlich. Die Reflexion der Vernunft (Intention, Tätigkeit) vermag unendlich etwas Objektives zu teilen, aber die Wissenform selbst ist a) als Bezug auf objektive Realität endlich; zum anderen ist die transzendental-reflexive Einheit des Wissens b) auch actual ein Beenden der virtuell unendlichen Reproduktion der Anschauungsanteile in einem anderen Ich. Das actuale Beenden der Reproduktion (der Reflexion) zeigt sich in einer unbedingten Beschränkung auf die schlechthin notwendigen Elemente für den Du-Begriff.

Notwendig sind dreierlei, im genetischen Vorgang identischer Formen: Gemeinsames und eigenes und fremdes Sichbilden. „Sind sie geschaffen, so kommt der Reproduktionsprozeß durch die identischen Formteile zum Stehen. Und dieses Beenden des Reproduktionsvorgangs wird projiziert im Begriff des Ganzen.“7

FICHTE hat das Sichbilden als individuelles Ich, als Du und als Wir  in § 2 der GNR vorbereitet mittels der hingestellten Aufgabe und des Postulates: Wenn wirklich freie Wirksamkeit des Vernunftwesens möglich sein soll, so kann das nicht mechanisch-deterministisch geschehen, sondern die Vernunft muss selbst Ursache dieser Wirksamkeit werden können, mithin nur durch „absolute Freiheit“ kann Wirksamkeit in und mit und für die Vernunft (im Ich, für das Ich) gedacht werden.

Zuvörderst — der Begriff von der Wirksamkeit des Vernunftwesens ist durch absolute Freiheit entworfen; das Object in der Sinnenwelt, als das Gegentheil derselben ist also festgesetzt, fixirt, unabänderlich bestimmt. Das Ich ist ins Unendliche bestimmbar; das Object, weil es ein solches ist, auf einmal für immer bestimmt. Das Ich ist, was es ist, im Handeln, das Object im Seyn. Das Ich ist unaufhörlich im Werden, es ist in ihm gar nichts Dauerndes: das Object ist, so wie es ist, für immer, ist was es war, und was es seyn wird. Im Ich liegt der letzte Grund seines Handelns; im Objecte, der seines Seyns: denn es hat weiter nichts, als Seyn.
Dann — der Begriff von der Wirksamkeit, der mit absoluter Freiheit entworfen, und unter den gleichen Umständen ins Unendliche verschieden seyn könnte, geht auf eine Wirksamkeit im Objecte
. (…)“ (GNR, ebd. § 2, S 28)

Der Begriff der „Wirksamkeit“ durch „absolute Freiheit“ ist auf die Sinnenwelt (Objektwelt) gerichtet, d. h. die Sinnenwelt muss einerseits als Grundlage der Vorstellung erhalten bleiben, andererseits so veränderbar und formbar sein, bzw. so erscheinen, dass die Charakteristik einer „freien Wirksamkeit“ ebenfalls möglich ist. Die gesuchte Wirksamkeit wird in Folge dann auf den „Stoff“ (SW III, § 2, ebd. S 29) der Sinnenwelt übertragen werden.

Für ein transzendental nicht so geschultes Bewusstsein stellt sich mit der Vorstellung einer freien Wirksamkeit auf ein Objekt die Vorstellung der Zeit ein, die aber gerade für den hier gesuchten Konstitutionsakt des Selbstbewusstseins und der Selbstreflexion abgehalten werden soll.  Normalerweise geht die Wirksamkeit auf ein Objekt „successiv in der Zeit“ (ebd. S 29), hier soll die Wirksamkeit in einer zeitlosen Synthesis mit „absoluter Freiheit“ kombiniert werden. 

FICHTE präzisiert die Fragestellung einer freien Wirksamkeit am Beginn des § 3 (ebd., S 30) nochmals: Es kann im Hinblick auf die transzendentale Erkenntnisfrage nicht von einer beliebigen,möglichen Wirksamkeit(§ 3, ebd. S 31) ausgegangen werden, denn dann wäre es ein bloß subjektivistisch/oder objektivistisch und faktisch vorausgesetztes Selbstbewusstsein, das sich im Zirkelschluss aus dieser modal unterbestimmten „möglichen Wirksamkeit“ zeitlich ableitet. Es soll transzendental eine „freie Wirksamkeit“ vorausgesetzt werden, die zugleich sinnlich wahrnehmbar ist.

Der Grund der Unmöglichkeit, das Selbstbewusstseyn zu erklären, ohne es immer als schon vorhanden vorauszusetzen, lag darin, dass um seine Wirksamkeit setzen zu können, das Subject des Selbstbewusstseyns schon vorher ein | Object, bloss als solches, gesetzt haben musste: und wir sonach immer aus dem Momente, in welchem wir den Faden anknüpfen wollten, zu einem vorherigen getrieben wurden, wo er schon angeknüpft seyn musste.“ (§ 3, S 31. 32)

Wie sind Sinnlichkeit und handelnde Selbsttätigkeit der Vernunft (in der Wirksamkeit) synthetisch und gleichzeitig zu vereinen?

Dieser Grund (von Subjektivität und anderer Subjektivität) muss gehoben werden. Er ist aber nur so zu heben, dass angenommen werde, die Wirksamkeit des Subjects sey mit dem Objecte in einem und ebendemselben Momente synthetisch vereinigt; die Wirksamkeit des Subjects sey selbst das wahrgenommene und begriffene Object, das Object sey kein anderes, als diese Wirksamkeit des Subjects, und so seyen beide dasselbe.“ (ebd. § 3, S 32)

M. a. W., es ist also für die Genese des Bewusstseins/Selbstbewusstseins und der Selbstreflexion, um deren Möglichkeit es ja FICHTE hauptsächlich in den ersten Jahren der WL zu tun ist, die Wahrnehmung einer freien Wirksamkeit in der Sinnenwelt gefordert. Dies lässt sich als Widerspruch formulieren, „Wahrnehmung einer freien Wirksamkeit“? Aber jeder Widerspruch muss auch in Lösungsbedingungen gedacht werden können: Die Antwort lautet: Es geht um eine „freie Wechselwirksamkeit“ (ebd. § 3, S 34)

(…) so muss Wirkung von Gegenwirkung sich gar nicht abgesondert denken lassen. Es muß so sein, dass beide die partes integrantes einer ganzen Begebenheit ausmachen. So etwas wird nun als notwendige Bedingung des Selbstbewußtseins eines vernünftigen Wesens postuliert. (ebd. § 3, S 34).

FICHTE findet hier genial das Aufforderungs-Antwortverhältnis. Ich zitiere G. v. Manz: „Das Aufforderungs-Antwort-Schema ist Grundvoraussetzung für das Anheben der Tätigkeit des Selbstbewusstseins. Zweck der Aufforderung ist die Antwort als freie Wirksamkeit des aufgeforderten Vernunftwesens. Wenn eine Aufforderung an ein (vermeintliches) Vernunftwesen gerichtet wird, ist impliziert, dass das aufgeforderte Wesen die Aufforderung als Aufforderung versteht. Derjenige, von dem die Aufforderung ausgeht, muss mindestens provisorisch annehmen, dass sie als solche verstanden wird. Die Annahme, dass die Aufforderung verstanden werden kann, schließt ein, dass in dem Wesen, an das sie gerichtet ist, sich Verstand findet. Derjenige, der eine Aufforderung als Aufforderung an ein Wesen richtet, muss selbst den Begriff von Freiheit und Vernunft haben. Die Aufforderung kann also selbst nur von einem (anderem) Vemunftwesen kommen.“8

Somit gilt, wie die Überschrift des § 3 klar und deutlich sagt:
§ 3 Zweiter Lehrsatz

Das endliche Vernunftwesen kann eine freie Wirksamkeit in der Sinnenwelt sich selbst nicht zu schreiben, ohne sie auch anderen zuzuschreiben, mithin auch andere endliche Vernunftwesen außer sich anzunehmen“ (ebd. S 30 ).

Die Bestimmung des Begriffs „Mensch“ beinhaltet somit, dass es sich um ein Wesen handelt, das als Individuum notwendig mit anderen Individuen, von Mensch zu Mensch, in Wechselbeziehung, d. h. in Gemeinschaft stehen muss. Transzendental notwendig ist die Existenz mehrerer Vernunftwesen deshalb vorauszusetzen.

Der Mensch (so alle endlichen Wesen überhaupt) wird nur unter Menschen ein Mensch; und da er nichts anderes sein kann, denn ein Mensch, und gar nicht sein würde, wenn er dies nicht wäre – sollen überhaupt Menschen sein, so müssen mehrere sein(ebd. § 3, Corollaria, S 39)

Dies ist nicht faktisch festgestellt, sondern apriorisch aus dem Postulat einer freien Wirksamkeit abgeleitet. „Die Wirksamkeit des Subjects sey mit dem Objecte in einem und ebendemselben Momente synthetisch vereinigt“ (GNR, § 3, S 32)9

Der Geltungsgrund dieser Relationsbeziehung kann jetzt weiter als Rechtsbegriff objektiviert und analysiert werden – in einem noch außermoralischen Sinn.

Allgemein kann gesagt werden, a) dem Sein und der Existenz nach ist die Relationsbeziehung und Gemeinschaft freier Wesen unmittelbarer Vernunfteffekt – und nicht bloß biologisch, historisch, psychologisch oder sonst wie naturalistisch bedingt.
b) den reellen Anschauungsbedingungen und Anwendungsbedingungen nach bedarf es folglich praktisch-logischer Vorgaben und Vorbedingungen eines Gesetzes, damit eine freie Wechselwirksamkeit möglich wird; 
c) es bedarf im weiteren eines gemeinsamen,
absoluten Geltungsgrundes in einem conditionalen und gleichzeitig causalen Wechselverhältnis freier Personen zueinander.

M. a. W., im Vernunftbegriff der geforderten freien Wirksamkeit liegt a) abstrakt durch philosophische Reflexion gefunden – und b) real konkret und c) absolut der Rechtsbegriff.

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© 29. 4. 2021 Franz Strasser

1Nach der Formulierung KANTS zeigt die „metaphysische Deduktion“  den „Ursprung der Kategorien a priori überhaupt durch ihre völlige Zusammentreffung mit den allgemeinen logischen Funktionen des Denkens“ (KrV B 159) an.

Wie durch die logische Funktion der Urteile das Mannigfaltige unter die Apperzeption gebracht wird und damit ist „alles Mannigfaltige, so fern es in Einer empirischen Anschauung gegeben ist, in Ansehung einer der logischen Funktionen zu urteilen bestimmt, durch die es nämlich zu einem Bewußtsein überhaupt gebracht wird.“ (KrV B 143)

2 In: Vergegenwärtigung der Transzendentalphilosophie. Das philosophische Vermächtnis Reinhard Lauths. Hrsg. v. M. Ivaldo, Hans Georg v. Manz, Ives Radrizzani, Würzburg 2017, S 257.

3H. G. v. Manz, Fairneß und Vernunftrecht, Hildesheim 1992, ebd. S 108

4„[d]aß der Mensch diese Gattung nicht sein könne, … weil er zur Moralität erzogen werden, und sich selbst erziehen muß; weil er nicht von Natur moralisch ist, sondern erst durch eigne Arbeit sich dazu machen soll“ (GNR, ebd. S 148). Sowohl KANT wie FICHTE haben sich immer klar für eine Unterscheidung von Rechts- und Sittenlehre ausgesprochen, wenn diese indirekt auch wieder aufeinander verweisen. Siehe z. B. Literatur bei M. IVALDO, Die systematische Position der Ethik nach der Wissenschaftslehre nova methodo und der Sittenlehre 1798, in: Fichte-Studien, Bd 16, 1999; oder K. HAMMACHER, Rechtliches Verhalten und Idee der Gerechtigkeit, 2001. Vom Recht aus sind die hinter ihm stehenden ethischen Begriffe anzuerkennen. Umgekehrt baut eine Ethik auf die Selbständigkeit eines freien Wesens auf, sanktioniert durch Rechtsbegriffe.

5 Es ist de facto keine transzendentale, tiefe Einsicht, wenn in großen Lettern im Österreichischen Verfassungsgerichtshof prangt: „Ihr Recht geht vom Volke aus.“ Das ist sehr missverständlich. Die Begründung des Rechts „vom Volke aus“ ist m. E. definitiv falsch. Oder meint man nur den operativen Vorgang der Festsetzung von Rechtsregeln, sozusagen die Legislative, die sich noch dazu auf eine bloß positivistische Rechtsbegründung beruft? Aber auch das ist falsch. Operatives Denken, wie in jüngster Zeit entwickelt, nimmt nur Verhaltensweisen wahr, die zweckmäßig im Sinne herstellenden Handels sind, durchdringt aber nicht originär, was praktisches Handeln wirklich ist und wie es allein dem freien Vernunftwesen zukommt. (Zum Begriff des praktische Handelns siehe z.B. H. ARENDT). Was wäre der operative Vorgang im Österr. Verfassungsgerichtshof? Die mehrheitliche politische Rechtssetzung und Rechtssprechung in einem Parlament? Aber gerade davor möchte uns ja das Bundesverfassungsgericht (B-VG) bewahren? Das kennen wir von den Diktaturen, das von der Legislative selbst höchstes Unrecht gesetzt worden ist. Diese Satz, „Ihr Recht geht vom Volk aus“ dürfte aus irgendeinem historischen Zusammenhang gerissen sein? Im Hintergrund könnte ROUSSEAU stehe, ein Hans KELSEN, Carl SCHMITT!?  Das Recht und die Idee der Gerechtigkeit verdankt sich nicht irgendwelchen tagespolitischen oder  demagogischen oder parlamentarischen Beschlüssen und Mehrheiten.  Das transzendentale Recht ist dem Staat und der folgenden Realisierung vorgeordnet.

6 Zur Interpersonalität nach  M. IVALDO siehe Blog dort. Die Vernunft existiert als Tendenz, sich selbst absolut und vollkommen zu realisieren, das kann sie aber nur, wenn sie sich letztlich frei durch „Aufruf“ vermittelt. Das Sichbilden der Vernunft ist selbstbestimmend und bestimmt werdend  in Einheit. Die Hemmung muss deshalb den Charakter einer Freiheit an sich tragen, d. h. sie muss ein Virtuelles von anderer Freiheit sein, das durch theoretische und praktische Momente des Ichs im Ich gesetzt ist und weitergebildet werden kann. Diese Charakteristik anderer Freiheit wird dabei im Begriff des „Aufrufs“ bzw. der „Aufforderung“ realisiert und erfüllt. Vgl. M. IVALDO, Die systematische Position der Ethik nach der Wissenschaftslehre nova methodo und der Sittenlehre 1798, in: Fichte-Studien, Bd 16, 1999, 245.

7J. Widmann, Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens, a. a. O., 1977, S 211.

8 H. G. v. Manz, ebd. S 98.

9Die z. B. bei Hegel, Rousseau und Hobbes (tlw. auch bei KANT) entworfenen Staatstheorien begründen das Recht ja mit dem Bedürfnis nach Schutz bzw. durch Macht und Gewalt usw., weil sie ein freies Subjekt in freier Wechselwirkung mit anderen Subjekten nicht ableiten können. D. h. aber, sie kennen gar keine Freiheit!?  Die Antwort FICHTES ist ein „Bestimmtseyn des Subjects zur Selbstbestimmung, eine Aufforderung an dasselbe, sich zu einer Wirksamkeit zu entschliessen.“ (Hervorhebung von mir; GNR, § 3, ebd. S 33)

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser