E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. 2. Teil

Im II. Abschnitt der Einleitung „Die allgemeine Funktion des Zeichens – das Bedeutungsproblem“ (ebd. S 15 – 25) wird die formale Anschauung eines mathematischen Zeichensystems als Paradigma genommen für alle Sinn- und Bedeutungsgebung der Sprache. E. C. beruft sich, wie schon angedeutet, auf H. HERTZ, aber das wäre ja schon das Thema der Antike gewesen: Wie kommt ein EUKLID auf die Definition des Punktes, der Linie, des Dreiecks – kann er das ableiten? Das Zeichensystem ist in den geometrischen Vorstellungen und in algebraischen Ausdrücken eine appositionelle Einheit, eine künstliche und im Denken verobjektivierte  Erfindung aus einer übergeordneten Einheit des Wissens. Nichts dagegen einzuwenden, aber wie kann das begründet werden?

Ich bringe hier ein längeres Zitat, weil dies irgendwie die Gesamttheorie E. C`s. widerspiegelt – mit allen seinen für mich idealistischen Schwachpunkten: 

Die Logik der Sachen, d. h. der inhaltlichen Grundbegriffe und Grundbeziehungen, auf denen der Aufbau einer Wissenschaft beruht, kann nach der Grundüberzeugung, die er vertritt und festhält, von der Logik der Zeichen nicht getrennt werden. Denn das Zeichen ist keine bloß zufällige Hülle des Gedankens, sondern sein notwendiges und wesentliches Organ. Es dient nicht nur dem Zweck der Mitteilung eines fertig-gegebenen Gedankeninhalts, sondern ist ein Instrument, kraft desssen dieser Inhalt selbst sich herausbildet und kraft dessen er erst seine volle Bestimmtheit gewinnt. Der Akt der begrifflichen Bestimmung eines Inhalts geht mit dem Akt seiner Fixierung in irgendeinem charakteristischen Zeichen Hand in Hand. So findet alles wahrhaft strenge und exakte Denken seinen Halt erst in der Symbolik und Semiotik, auf die es sich stützt. Jedes „Gesetz“ der Natur nimmt für unser Denken die Gestalt einer allgemeinen „Formel“ an — jede Formel aber läßt sich nicht anders denn durch eine Verknüpfung allgemeiner und spezifischer Zeichen darstellen. Ohne jene universellen Zeichen, wie sie die Arithmetik und Algebra darbieten, wäre auch keine besondere Relation der Physik, kein besonderes Naturgesetz aussprechbar. Darin prägt sich gleichsam sinnfällig das Grundprinzip der Erkenntnis überhaupt aus, daß sich das Allgemeine immer nur im Besonderen anschauen, das Besondere immer nur im Hinblick auf das Allgemeine denken läßt. „(ebd. S 16)

Die Abbildlichkeit von Zeichen (Denken) und Sein ist natürlich alte, bewährte Anschauung der Metaphysik und Logik, da habe ich nichts dagegen, später wird die Abbildlichkeit und Zusammengehörigkeit noch verstärkt durch ein gemeinsames Vermögen von Tun und Leiden, ebd. S 17 (wohl gemäß „Sophistes“), aber worin liegt genau die strukturerhaltende eindeutige Zuordnung des Zeichens zum Sein wie behauptet:  „der Akt der begrifflichen Bestimmung eines Inhalts geht mit dem Akt seiner Fixierung in irgendeinem charakteristischen Zeichen“? Wie wird die Verknüpfung zwischen Allgemeinem und Besonderen begründet? In der Fragestellung nach dem Bestehen einer Abbildung fließen realistische oder idealistische Vorstellungen vom Allgemeinen und Besonderen ein, die einen bestimmten Kontext der Argumentation und Abbildung aufbauen, zuerst Separation von Zeichen und Sein, dann Verknüpfung, Spiegelung, Abbildung – aber kann die Zuordnungsbeziehung in den Sprachzeichen selber gesucht werden, in einer Theorie des symbolischen Erkennens? Es klingt mir alles nach einer zweiwertigen Semantik von Zeichen und Gegenständen/Gedanken/Inhalten, erzeugt durch die alles vermittelnde symbolische Erkenntnis? Vielleicht tue ich E. C. hier Unrecht, aber eine Semantik von Wort – Bedeutung – Inhalt auf eine separierte und dann wieder durch Symbolik zusammengeknüpfte Einheit und als Theorie der Abbildung (durch symbolische Erkenntnis) zu definieren, das klingt mir reichlich post-faktisch und  instrumentell. Diese Theorie der Abbildung, da steckt ja auch ein Geltungsanspruch dahinter, aber welcher? Welche Absicht geht hier einher?  Ich kann nur soviel bis jetzt herauslesen: Eine Theorie im Sinne der funktionellen Bewältigung der sinnlichen Mannigfaltigkeit (ebd. S 18)? Aber was heißt wieder „Bewältigung“ – von mir so genannt? 

So zeigt etwa der Prozeß der Sprachbildung, wie das Chaos der unmittelbaren Eindrücke sich für uns erst dadurch lichtet und gliedert, daß wir es „benennen“ und es dadurch mit der Funktion des sprachlichen Denkens und des sprachlichen Ausdrucks durchdringen. In dieser neuen Welt der Sprachzeichen gewinnt auch die Welt der Eindrücke selbst einen ganz neuen „Bestand“, weil eine neue geistige Artikulation. Die Unterscheidung und Sonderung, die Fixierung gewisser Inhaltsmomente durch den Sprachlaut bezeichnet an ihnen nicht nur, sondern verleiht ihnen geradezu eine bestimmte gedankliche Qualität, kraft deren sie nun über die bloße Unmittelbarkeit der (…) sinnlichen Qualitäten erhoben sind. So wird die Sprache zu einem der geistigen Grundmittel, vermöge dessen sich für uns der Fortschritt von der bloßen Empfindungswelt zur Welt der Anschauung und Vorstellung vollzieht.“ (ebd. S 18)

Ich halte das Gesagte für gut möglich, wenn nur der Begriff der Zuordnung von Zeichen und Inhalt in der Bedeutungsgebung genauer begründet wäre. Es wird zwar die „Bildkraft“ des Geistes und die Bedeutungsgebung „im Reflex die Wesenheit des Geistes“ (ebd. S 19) angesprochen, aber die Begründung dieses Geltungsanspruches in einer symbolischen Abbildtheorie – welcher Objektivierung wird hier stillschweigend vollzogen? Wer vollzieht hier eine Objektsetzung? Transzendentalkritisch gesehen kann nur das Bewusstsein und Wissen einen Inhalt als seinen Gegenstand fassen und sich selbst dabei Setzen als Vollzug dieses Inhalts. Nach E. Cassirer ist es eine (nicht im welchen Interesse deklarierte) Selbsteinschränkung des Bewusstseins, objektiviert als „symbolische“ Erkenntnis und Abbildtheorie. Die Konstitutionsbedingungen der Objektivierung – sie liegen in einem (evolutiven?) Prozess der Kulturentwicklung, oder doch überzeitlichen Denk-Vollzug? Welcher Geltungsanspruch soll erhoben werden, ein zeitlich-empiristischer oder ein logoshaft-überzeitlicher? Im Grunde kann aber keiner erhoben werden, wenn die absolute Wahrheit des Geltungsgrundes zu einem Prozess gemacht würde. Der „symbolischen“ Erkenntnis liegt die Annahme zugrunde, dass die symbolische Erkenntniserfassung (in den vier Bereichen von Welt, Kunst, Mythos, Religion) geschichtlich, zeitlich gewachsen ist, und die transzendentalen  Konstitutionsbedingungen der Bildung von Sprachzeichen und Geltungsansprüchen nicht entdeckt sind?  E. Cassirer vermag durch sein immenses Wissens und Herbeiziehung von unzählig vielen Beispielen aus aller Welt tatsächlich eine vernunftoptimistische Sicht zu zeichnen, aber ist das noch ein Geltungsanspruch von Wahrheit und sittlich-finaler Zweckbestimmung von Sprache? 

Es ist ja tragisch, dass ein so intellektueller Mensch mit seiner „Kulturphilosophie“ zu seiner Zeit gerade gescheitert ist, als die Unkultur des Nazi groß geworden ist? Hat hier E. C. nicht zu naiv und gläubig von einer  „immanenten Entwicklung des Geistes“ (ebd. S 19) gesprochen und gerade den Verfall der Sprache damals nicht erkannt? Innerhalb der Repräsentanz des Geistes entsteht die Sprache (als dessen Vermögen) und umgekehrt ist der Geist in dieser „symbolischen“ Erkenntnis sichtbar…… das ist ja damals völlig irrelevant geworden? Die Sprache diente geradezu der Feindschaft, anstatt zur Verständigung beizutragen. Also muss die Prekarität der Sprachbildung wonanders angesetzt werden, in einem sittlich-praktischen und ganzheitlichen Denken, nicht in einer allgemeinen Entwicklung des Geistes.  

Denn wirklich bildet in der immanenten Entwicklung des Geistes der Gewinn des Zeichens stets einen ersten und notwendigen Schritt für die Gewinnung der objektiven Wesenserkenntnis. Das Zeichen bildet gleichsam für das Bewußtsein das erste Stadium und den ersten Beleg der Objektivität, weil durch dasselbe zuerst dem stetigen Wandel der Bewußtseinsinhalte Halt geboten, weil in ihm ein Bleibendes bestimmt und herausgehoben wird. (ebd. S 19)

Diese induktive Wesenserkenntnis (species intelligibilis) bzw. diese Hypostasierung des sprachlichen Zeichens zu einer geistigen Qualität und Objektivität, zu einer „symbolischen“ Erkenntnis und Kultur – ist gegenüber Zweifeln und Lügen und Missverstand nicht gefeit, außer man kann die transzendental-reflexiven Geltungsgründe für dieses appositionellen Einheiten tiefergehend begründen?! 

Nicht das Zeichen für sich schafft schon die Objektivität eines geistigen Gehaltes, sondern umgekehrt die Objektivierung eines Zeichens in Synthese von Denken und Anschauung und mit einem Geltungsanspruch eines göttlichen Solls in der Erscheinung, beginnend in der sinnlichen Welt und aufsteigend bis zu rein geistigen und wahren Begriffen, geschieht kraft absoluter Form des Denkens und kraft produzierender und reproduzierender Einbildungskraft.  Alles bleibt einerseits bezogen auf eine sinnlich wahrgenommene Welt, aus der die Einbildungskraft ihren Stoff nimmt, andererseits zurückbezogen auf die Einheit des Wissensaktes, worin die epistemologische Mitte der epistemischen Bedeutung der Bilder und Begriffe und Abbildungen liegt.  Diese epistemologische Mitte des Sich-Wissens und Sich-Bildens – die Reflexivität des Ichs – schafft und vollzieht die unendliche Bilderwelt und Zeichenwelt der vielen Sprachen – innerhalb eines bereits bestehenden interpersonalen Verhältnisses und Wissen. Die Sprache dient als Werkzeug diesem Verhältnis – zum Glück, zur Schönheit, zur Freude, zur Liebe geeignet oder zur Manipulation oder Feindschaft instrumentalisierbar.  

Anders gesagt: Die Objektivierung des Reflexionsaktes der intellektuellen wie sinnlichen Anschauung und der darin liegenden Mediatisierungen und Objektivierungen  sprachlicher Formen und Bilder ist wohl immer  eine prekäre Sache, weil  wegen des waltenden Freiheitsverhältnisses zwischen den Personen und den ästhetischen Anforderungen die Vermittlung bei weitem keine automatische und funktionelle Gleichung des Verstehens ergibt.  Die „symbolische“ Erkenntnis an sich oder eine „Kultur“ an sich gibt es nicht, sofern die intelligierenden Quelle ihrer Genese nicht konstitutiv und bleibend eingesehen und diskursiv und sukzessive vollzogen wird. 

Bei E. C. scheint mir alles sehr logisch-strukturell, „rationalistisch“ festgelegt. In und kraft der Sprache und der „symbolischen“ Erkenntnis ist sukzessive alles immer besser verstehbar und beherrschbar. Man muss nur eine differenzierte und funktionelle Lösung anbieten und schon stellt sich  die richtige Verobjektivierung und das richtige Verstehen ein. Die Sprache wird  zum handhabbaren, technischen Hilfsmittel der Verallgemeinerung und der Wesensinduktion – und so erreicht sie die bestmögliche Beherrschung der Welt. Oder vielleicht nicht so instrumentell von mir gedeutet: das Was der Verobjektivierung der Erkenntnis – welches Kriterium der Wahrheit und der Richtigkeit und der Ethik gibt es bei dieser Objekterfassung? Sie ist ungeschützt vielen Zweifeln ausgesetzt, weil sie das Wie der Genese ihres Geltungsanspruches, begründet im absoluten Geltungsgrund, nicht angeben kann oder will. (Zumindest las ich in diesem 1. Band, 1923, davon nichts.)  Die Überzeugung einer sich herauskristallierendes Form des Denkens und Wissens und der „symbolischen“ Erkenntnis – das mag E. C. begeistert und angetrieben haben, aber diese Form ist alles andere als stabil. 

Durch das Zeichen, das mit einem Inhalt verknüpft wird, gewinnt dieser in sich selbst einen neuen Bestand und eine neue Dauer. Denn dem Zeichen kommt, im Gegensatz zu dem realen Wechsel der Einzelinhalte des Bewußtseins, eine bestimmte ideelle Bedeutung zu, die als solche beharrt. Es ist nicht gleich der gegebenen einfachen Empfindung ein punktuell Einzelnes und Einmaliges, sondern es steht als Repräsentant für eine Gesamtheit, einen Inbegriff möglicher Inhalte, deren jedem gegenüber es also ein erstes „Allgemeines“ darstellt. In der symbolischen Funktion des Bewußtseins, wie sie sich in der Sprache, in der Kunst, im Mythos betätigt, heben sich zuerst aus dem Strom des Bewußtseins bestimmte gleichbleibende Grundgestalten teils begrifflicher, teils rein anschaulicher Natur heraus; an die Stelle des verfließenden Inhalts tritt die in sich geschlossene und in sich beharrende Einheit der Form.“(ebd. S 20)

E. C. geht dann zu einer Würdigung von W. v. HUMBOLDT und seiner Philosophie der Sprache über. (Eigenes Kapitel über Humboldt siehe ebd. S 98 – 105). Nach den Worten von E. C. zu schließen, müsste die apriorische Sprachfähigkeit des Menschen zugleich mit der apriorischen Vernunftfähigkeit gegeben sein. Kein Denken ohne Sprache und umgekehrt. Nun möchte ich das nicht bestreiten, aber dafür muss es eine höhere Begründung geben, warum das Sich-Wissen und Sich-Bilden durch das Denken auf eine sprachliche Vermittlung eingeschränkt werden soll. Es fehlt mir die Interpersonaltheorie als vorlaufende Theorie der sprachlichen Abbildung.

Für Humboldt ist das Lautzeichen, das die Materie aller Sprachbildung darstellt, gleichsam die Brücke zwischen dem Subjektiven und Objektiven, weil sich in ihm die wesentlichen Momente beider vereinen. Denn der Laut ist auf der einen Seite gesprochener und insofern von uns selbst hervorgebrachter und geformter Laut; auf der anderen Seite aber ist er, als gehörter Laut, ein Teil der sinnlichen Wirklichkeit, die uns umgibt Wir erfassen und kennen ihn daher als ein zugleich „Inneres“ und „Äußeres“ — als eine Energie des Inneren, die sich in einem Äußeren ausprägt und objektiviert.“ (ebd. S 23)

Die Sinnbestimmung der Wechselbestimmung von Vernunft und Sprache ist nicht gleichseitig, sondern muss in und aus einer höheren Einheit des Wissens eingesehen und begründet werden, soll überhaupt von einem Wechsel gesprochen werden können. Leistet das HUMBOLDT? Gibt es eine Einheit im Wissen, ein Sich-Sehen des Wissens, aus dem die Disjunktionsmomente von Denken und Sein abgeleitet werden – und auf einer unteren Ebene des Denkens, im einbezogenen Gegensatz zum Sein, wird die Sinnbestimmung der Sprache genetisiert?

Eine gleichseitige  Sinnbestimmungen der Formen des Denkens und der Formen und Funktionen der Sprache wäre ein hermeneutischer Zirkel und könnte den Vollzug des Denkens in der Performanz der sprachlichen Bilder nicht erkennen. Eine bloße Wechselbestimmung von Denken und Sprachen erzeugt noch kein „Aufgehen eines neuen Bestandes und Inhaltes“ – wie E. C. es für die Kunst beschreibt: 

Auch die Kunst kann so wenig als der bloße Ausdruck des Inneren, wie als die Wiedergabe der Gestalten einer äußeren Wirklichkeit bestimmt und begriffen werden, sondern auch in ihr liegt das entscheidende und auszeichnende Moment in der Art, wie durch sie das „Subjektive“ und das „Objektive“, wie das reine Gefühl und die reine Gestalt ineinander aufgehen und eben in diesem Aufgehen einen neuen Bestand und Inhalt gewinnen.“ (ebd. S 24)

Wie soll diese Wechselbestimmung erkannt werden, wenn man aus dem hermeneutischen Zirkel von Denken und sprachliche Formen nicht heraus kann? E. Cassirer will sich gegen jede vorschnelle Objektivierung oder Subjektivierung aussprechen, indem er das Wie der Konstitutionsgenese von Formen der Objektivierung möglichst über-subjektiv fassen will. Er muss aber zwangsläufig dem Realismus dieser oder jener Objektivierungen Glauben schenken.

Noch schärfer, als es in der Beschränkung auf die rein intellektuelle Funktion möglich ist, tritt in all diesen Beispielen hervor, daß wir in der Analyse der geistigen Formen nicht mit einer feststehenden dogmatischen Abgrenzung des Subjektiven gegen das Objektive beginnen können, sondern daß ihre Begrenzung und die Feststellung ihres Bereichs erst durch diese Formen selbst vollzogen wird. Jede besondere geistige Energie trägt in besonderer Weise zu dieser Feststellung bei und wirkt demgemäß an der Konstituierung des Ichbegriffs, wie des Weltbegriffs mit.“ (ebd. S 24)

(c) Franz Strasser, 13. 5. 2017

Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser