Freiheit als Ursprung des Rechts – ein Vortrag

Prof. Dr. Thomas Sören Hoffmann (Hagen): Freiheit als Ursprung des Rechts und der Sinn des Begriffs ‚Liberalismus‘ (Vortrag, KU, Linz, 27. 5. 2019)
Das Thema der RechtsbegrĂĽndung interessiert mich schon lange.

Zufällig kam ich zu diesem obigen Vortrag zurecht.

Ich möchte eingangs dankend hervorheben, dass a) der Referent eine Zusammenfassung seines Vortrags austeilen ließ; ferner b) dass der Vortrag online gestellt wurde, sodass man nochmals dieses so dichte Referat nacharbeiten konnte.

Es sind eigentlich zwei Themen angesprochen worden, Freiheit und Liberalismus, denn es ist wohl naheliegend auf politischer Ebene, dass das irgendwie zusammengehören muss. Auf den inneren Zusammenhang möchte ich nicht näher eingehen, nur gelegentlich das Thema streifen. Offensichtlich kann der „Liberalismus“ als eine Folgeform einer gewissen Rechtsphilosophie ausgelegt werden – oder, wie zu ergänzen sei, auch ein Kommunismus oder sonstige Form des Autoritarismus ist oft eine Folge einer suspekten Rechtsphilosophie.

Ich möchte eingangs ebenfalls dankend erwähnen, dass die Katholische Universität Linz, wie öfters, einem Öffentlichkeitsauftrag nachkommt, die Fragen der Zeit aufzugreifen. Was könnte aktueller und brennender sein, als heute Recht und Gerechtigkeit allen Menschen widerfahren zu lassen? Es ist ein schmerzliches Thema, dass bis heute die Grundrechte und die bürgerlichen Freiheiten keineswegs durchgesetzt sind. Könnte hier eine Philosophie hilfreich einspringen? Millionen Menschen leider unter ungerechten Wirtschaftsverhältnissen und autoritären Regimen. ausgebeutet, eingesperrt, gefoltert, verfolgt – und das alles im Namen gewisser positiver Gesetzgebung und staatspolitischer Räsonnements.

Kann die Philosophie es als eigene Aufgabe betrachten, die „Rechtsbegründung durch Freiheit“ von der Vernunft her zu begründen? Natürlich würde ich diesem Anliegen sofort zustimmen, weil mit „Vernunft“ eine allen Menschen a priori zukommende, universale Rechtssicherheit zukäme. Aber wie wird dies anscheinend in Nachfolge zu Kant begründet? Da möchte ich dieser Rechtsbegründung, wie sie T. S. Hoffmann darstellt, doch widersprechen. Nicht ad hominem gemeint, aber sachlogisch scheint mir diese „Rechtsbegründung durch Freiheit“ nicht tief genug begründet.

Zuerst noch der zusammenfassende Ausschreibungstext – Hervorhebungen von mir:

„Zu den – oftmals undurchschauten, zumindest unausgesprochenen – Voraussetzungen im Streit um das Recht gehört ein grundlegender Dissens in der Frage, ob das Recht Freiheit durch die Gewährung von Freiheitsrechten „distribuiert“ oder aber seine wesentliche Aufgabe die einer Koordination von Freiheit ist, deren Wirklichkeit als unabhängig von ihm bereits gegeben vorausgesetzt ist. Die Auffassung, daß das Recht Freiheit(en) distribuiert etabliert dabei notwendig eine Asymmetrie zwischen denjenigen, die Freiheit „gewähren“, und denen, die sie „empfangen“; die Legitimation des Rechts erfolgt dann entsprechend nicht aus der Normativität der Freiheit, sondern z.B. aus der Idee der (Verteilungs-)Gerechtigkeit. Dagegen findet die Auffassung vom Recht als einer äußeren Ordnung zum Zwecke der Koordination des Freiheitsgebrauchs die Legitimation des Rechts in der Freiheit selbst, die sie seit Kant als Rechtsursprung zu denken vermag; was Recht ist, ergibt sich aus einer Ordnung wechselseitiger Anerkennung der Freien, und das Kriterium „richtigen Rechts“ ist jetzt die maximale Freiheitserhaltung im Freiheitsgebrauch, d.h. bei der individuellen Wahl der Mittel in der Realisierung des Freiheitszwecks. Der Vortrag zeigt, inwiefern das durch Kant grundgelegte Verständnis von Recht als einer Koordinationsordnung der Freiheit diese zugleich als Ursprung des Rechts ausspricht, das auf diese Weise seinen Sitz im freiheitlichen Selbstbewußtsein menschlicher Praxis erhält und nicht mehr aus nicht-freiheitlichen (letztlich immer auf äußere Macht verweisenden) Instanzen abgeleitet werden kann. Vor diesem Hintergrund sollen auch bestimmte Ambivalenzen im Begriff des „Liberalismus“ geklärt werden, die inzwischen immer wieder die Frage entstehen lassen, wie brauchbar er zur Identifizierung des Rechts der Freiheit (noch) ist.“

M. E. kommt eine durch die „praktische Vernunft“ geleistete Koordination von Freiheitsrechten immer zu spät und tendiert selbst zu einer autoritären Gesetzgebung im Namen der Freiheit. Nachträglich nur zu sagen, ja der Liberalismus missbraucht die „praktische Vernunft“ und missversteht Kant – das würde eine liberalistische Rechtsbegründung kaum berühren. Mit einem Wort: diese hegelsche Vereinnahmung des Begriffes von Freiheit und Recht, das führt zu großer Unfreiheit und widerspricht im Grunde der Intention Kants, geschweige einer apriorischen Begründung von Recht.

Die Fragen an Kant können etwa in folgender Gliederung diskutiert werden:1
1) Die Frage der Willensfreiheit und der moralischen Zurechenbarkeit in allen Fragen von Gut und Böse – das ist bei Kant bereits eine starke prädeterminierte Diskussion.

2) Die Frage der Moralbegründung und Motivation aus reiner Vernunft. Diesen Anspruch erhebt zwar Kant in seiner „GMS“ und in der „KpV“, doch mangels Einheit der reinen Vernunft bleibt eine ständige Disjunktion zwischen äußerer sinnlicher Welt der Erscheinungen, worin Freiheit nicht zu erkennen sei, und innerer, intelligibler Welt der Autonomie, wodurch die Freiheit garantiert sein soll. Diese Disjunktion finde ich fortgeschrieben in dieser von T. Hoffmann vorgeschlagenen „Koordination“ empirisch angewandter Freiheit.

3) Schließlich ist es gerade der intersubjektive Kontext, in welchem die willensfreien Akteure nach moralischen und geordneten Gesetzen in Staat und Gesellschaft agieren. Das individuelle Subjekt der Willensfreiheit und seine vernünftige Autonomie-Selbstgesetzgebung – das wird ja gerade wieder im Begriff der Koordination der Freiheit einer fremden „Distribution“ der Freiheitsrechte unterworfen, die aber T. S. Hoffmann gerade vermeiden will? Wenn Freiheit und Rechtsbegründung in der Koordination bestehen soll, wer und was distribuiert dann diese Koordination?

So möchte ich drei Bemerkungen zu Kant hervorheben: 1.) Der Begriff der Freiheit, 2.) die Moralbegründung und moralischen Motivation selbst und die anschließende 3.) politische Philosophie und Rechtsphilosophie.

Ad 1.) Zum Begriff der Freiheit: Systematisch gesehen hat Kant den Begriff der Freiheit in einem genauen Verhältnis von „theoretischer“ und „praktischer“ Vernunft bestimmt, was natĂĽrlich jetzt vieler philologisch-korrekter Zitierungen bedĂĽrfte. In der KrV wird die Freiheit als Möglichkeit herausgearbeitet, in der GMS und KpV wird sie im Bereich der praktischen Selbstgesetzgebung (Autonomie) mittels Sittengesetz und Anwendung im Kategorischen Imperativ gewusst und bestimmt. In der GdMS und MdS wird sie rechtsphilosophisch und politisch entfaltet, in der RGV in gewissem Sinne religiös entfaltet. Im Bereiche der praktischen Philosophie läuft m. E. bei Kant alles auf einen Begriff von „Autonomie“ hinaus, wodurch sich die Freiheit bewährt und zeigt in der Befolgung des Sittengesetzes. Das Denken von Freiheit geht theoretisch sogar so weit, dass die Frage nach dem Guten oder Bösen freiheitstheoretisch möglich wird: Gut und Böse sind Fragen der Zurechenbarkeit.2 Der Wille und das moralische Gesetz sind äquivalent und weisen auf ein Unbedingtes der Geltung hin, das in der Maxime befolgt oder abirrend nicht befolgt werden kann. Die Zurechenbarkeit von Gut und Böse hat dabei eine gemeinsame, grundlegende ontologische Voraussetzung, das allgemeine Sittengesetz. Wie Kant in der GMS (1785) einmal argumentiert, dass sogar im „ungĂĽnstigsten Fall“ der „ärgste Bösewicht“ in seinem bösen Willen auf das allgemeine Sittengesetz hingeordnet bleibt – wenn auch im performativen Selbstwiderspruch. Die Freiheit – sie vermag nach Kant in einer vernĂĽnftigen Theorie der Selbstbestimmung gedacht und eingesehen zu werden.

Das führt aber jetzt von selbst zu weitergehenden Fragen: Kant versetzt die Freiheit in eine noumenale Sphäre, zwar begründet durch das Sittengesetz, aber inkompatibel mit einem Wirken auf der phänomenalen Ebene, also kann dort nur negativ, durch ausschließenden Grund, die Freiheit bestimmt, damit aber nur mehr reflexiv, epistemisch bestimmt werden. Dies verlangt nach einer Rechtfertigung. Sie liegt in der praktischen Anwendung- und Schematisierung:

So komme ich durch das transzendentalen Fragen nach den letzten GrĂĽnden von selbst zur Frage der Motivation und zu den MotivationsgrĂĽnden.

Ad 2) Wie kann die Triebfeder das allgemeinen Sittengesetz und das Gefühl der „Achtung“ für das Gesetz wie für den anderen herausgearbeitet werden?

Für T. S. Hoffmann ist diese Explikation des Begriffes der Freiheit durch die „praktische Vernunft“ einsehbar und bestimmbar. Die freiheitstheoretische Ebene des (subjektiven) Willens und des allgemeinen Sittengesetzes braucht nicht verlassen zu werden, denn die Anwendung und Schematisierung geschieht begrifflich und verstandlich durch dieses Vermögen „praktischer Vernunft“. Abgesehen jetzt davon, dass bereits zu Lebzeiten Kants erhebliche Bedenken gegen diese Zweiteilung des Vernunftwesens in theoretische und praktische Vernunft geäußert wurden (Rehberg, Schmid, Reinhold u. a.), hat vor allem Reinhold diesen Begriff der „praktischen Vernunft“ aber zerpflückt zugunsten einer gesamtheitlichen, intelligiblen wie sinnlichen Natur des Menschen. Der Wille ist keine praktische Vernunft. Der Personenbegriff und der reine und unreine Wille, die Triebbestimmtheit des Vernunftwesens, wurden in den Mittelpunkt gerückt, ergo musste das Denken von Freiheit selbst neu und tiefer begründet werden und vom Triebbegriff ausgehen. Die synthetischen Anwendungsbedingungen mussten in das Denken einbezogen werden.

Das fĂĽhrt uns von selbst weiter zum intersubjektiven Kontext:

3) Natürlich wollte Kant der Praxis des Denkens Rechnung tragen in den folgenden praktischen rechtsphilosophischen und teilweise sogar politischen Schriften und in der „Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft“. Das Konzept von T. S. Hoffmann geht genau in diese Richtung der Explikation einer anwendungsbedingten Koordinierung und eines anwendungsbedingten Gebrauches von Freiheit. Er rekurriert einerseits immer mit Nachdruck auf diese kantische Rechtsbegründung durch Freiheit mittels „praktischer Vernunft“ – aber andererseits alles in einem hegelschen Kleide!

Der Geltungsgrund der Freiheit, wie er m. E. nur naturrechtlich oder theologisch zu begründen möglich scheint, wird zu einem wie immer gearteten empirischen und faktischen Prüfen und Passen. Durch ein Selbstverhältnis der praktischen Vernunft (nach T. S. Hoffmann) ist der Rechtsbegriff ein Begriff a priori, er vermittelt eine Synthesis zwischen einer überempirischen und einem empirischen Bereich und bringt sie zur Darstellung. Was soll das heißen? „Überempirischer“ und „empirischer“ Bereich und durch die Denkform des Rechts vermittelt?

Durch die hegelsche Begrifflichkeit kommt jetzt sofort eine Äquivozität und große Unklarheit hinein: Geht es um begriffliche Vorstellungen oder doch um Dinge an sich? Aus den späteren Schlussfolgerungen geht es leider um Dinge an sich! Das Recht ist doppeldeutig gebraucht, einmal verdinglichter Begriff, dann als positives Rechtsverhältnis verdinglichter Gebrauch. Die freiheitlichen Momente eines Rechtsbegriffes und sein Geltungsgrund sind damit verspielt. Das Recht ist entweder nur a) begrifflich oder b) nur durch die Tauglichkeit in der Koordination von Freiheit gefasst. Beide Denkformen sind für mich empirisch und kennen keine genetische Ableitung. 

T. S. Hoffmann bringt ein Beispiel des synthetischen Anwendungsbegriffes von Freiheit und daraus gefolgertem, begrifflichen oder positiven Recht: Der Eigentumsbegriff oder das Eigentumsrecht. Das Beispiel lautet etwa: Der Rechtsbegriff des Eigentums fordert dazu auf, angesichts eines empirischen Gegenstandes ein reflexives Selbstverhältnis zu aktualisieren, das fĂĽr den NichteigentĂĽmer wesentlich in einer Selbstbeziehung bezĂĽglich der eigenen Handlungsweise besteht, der eigene Freiheit eine Schranke zu setzen – falls die Versuchung käme, fremdes Eigentum an sich zu reiĂźen. Weder der Gegenstand als solcher, noch mein kontingenter Wille, ihn ausschlieĂźlich zu besitzen, d. h. auch physisch zu verteidigen, konstituiert die Rechtswirklichkeit, vielmehr grĂĽndet sie in einer durch praktischer Vernunft geleiteten Reflexion auf die Bedingung der Möglichkeit eines Freiheitsgebrauches ĂĽberhaupt.

Das ist m. E. nur ein begriffslogisches Verfahren, auf den Gesetzen der Logik und der Faktizität beruhend, nicht apriorisch konstruierend, warum es überhaupt Eigentum geben kann und wie es Eigentum geben soll. Die transzendentalen Wissbarkeitsbedingungen sind nicht tief genug analysiert. Was oder wer garantiert diese faktische Feststellbarkeit eines möglichen Freiheitsgebrauches in Hinsicht Eigentum? Das macht ja gerade der Liberalismus, dass er seinen Besitz durch Rechtsgesetz rechtfertigt. Oder umgekehrt gedacht, der Staat im Kommunismus oder sonstigem Totalitarismus rechtfertigt das Verbot von Eigentum durch positives Rechtsgesetz. Wie machtlos ist hier die „praktische Vernunft“.

Es fehlt die apriorische Konstruktionsregel des Rechts auf Eigentum. Das Recht ist hier bereits abgeleitet aus den faktischen Eigentumsverhältnissen, dass das Eigentum zu achten sei, sonst wird einem selber alles weggenommen – oder umgekehrt, das Eigentum zu nehmen sei. Es wird aber die Frage gar nicht grundsätzlich problematisiert und auf einen genetischen Geltungsgrund zurückgeführt, warum es denn Eigentum überhaupt geben darf und geben soll – mit zugleich einschränkbaren Grenzen und Verbindlichkeiten.

Eine pro-kreative und schöpferische Sicherung des Rechts auf Eigentum, kann sie nachträglich durch Selbstverhältnisse der „praktischen Vernunft“ eingeholt werden? Die Sicherung und Achtung des Eigentums bleibt auf die mehr oder minder treffende, liberale oder totalitäre „Einsicht“ der Logik der „praktischen Vernunft“ zurückverwiesen.

Natürlich fehlt eine passende, einsehbare Synthesis des Freiheitsgebrauches, wodurch sich Recht ableitet, das beginnt bereits bei Kant – und ungeniert ist der Freiheitsgebrauch und die Vermittlung und die Faktizität bei Hegel überhaupt zum Kriterium erhoben. Die Freiheit kann nach dem Prinzip der Autonomie des Sittengesetzes bestimmt werden (Kant); diese Autonomie zeigt sich im empirischen Gebrauch (Hegel).

Die Argumentation Kants stimmt nur begriffslogisch, die Argumentation Hegels ist überhaupt oberflächlich. Wenn es Freiheit geben soll, nach Kant, so muss sie dem Sittengesetz entsprechen. Das ist aber ein faktischer Zirkel. Die Entschiedenheit der Freiheit ist bereits modal vorherbestimmt, entweder dass sie der sittlichen Ordnung konform läuft, oder ihr nicht konform läuft, was dann eine falsche, verkehrte und „böse“ Maxime wäre. Wo bleibt aber jetzt der freiheitstheoretische Aspekt, wählen zu können zwischen den Alternativen sittlicher Ordnung oder verkehrter Ordnung? Die Wählbarkeit und Bestimmbarkeit zum Guten oder Bösen ist bereits vor-entschieden, weil die Freiheit nur das Gute wählen kann, will sie widerspruchsfrei handeln – und in Maßen und zeitweise können die Maximen von der sittlichen Ordnung abirren, was den apriorischen Begriff des Bösen ergibt. Kann aber so abstrakt das Gute wie Böse erkannt und realisiert werden? Es müsste der modaltheoretische Standpunkt einer freien Wählbarkeit und Bestimmbarkeit des Guten wie Bösen, mithin der Geltungsgrund des Guten wie Bösen in seiner guten wie bösen Schematisierung und Verzeitung ebenfalls in die Reflexion bereits einbezogen und erkennbar sein, ehe es zur  begriffslogischen, schon gefallenen Entscheidung für oder wider die sittliche Ordnung kommen kann und zur realistischen Bestimmung des Guten wie Bösen.

Nach T. S. Hoffmann klärt sich das sittlich Gute oder die Freiheit in der Koordination der Freiheit durch die praktische Vernunft. Das ist m. E. eine Tauglichkeitsprüfung des Sittengesetzes post festum. Das kann z. B. einem Liberalismus völlig egal sein, wenn sich herausstellt, dass eine juridisch-politische Entscheidung doch nicht von allen und für alle zu jeder Zeit mitgetragen werden kann, weil er zuvor sowieso seinen Gewinn gemacht hat. Oder einer Diktatur kann eine juridisch-politische Entscheidung eines Verfassungsgerichtes zur Korrektur des autoritären Kurses ebenfalls egal sein, post festum, weil sie andere Formen der Repression wieder wählen kann, bis das wieder korrigiert wird.
Wenn nicht a priori erkannt und gesagt werden kann, dass der Mensch Naturrechte hat, Freiheit, Menschenrechte, Bürgerrechte, kommen alle Koordinationen von Freiheit (zu Freiheit) zu spät.

4) Jetzt meine Sicht: M. E. ist die Form der Verbindlichkeit der Einbildungskraft die Grundlage und Substanz des Denkens von Gut und Böse. Das verlangt eine tiefere Exposition des transzendentalen Standpunktes von Freiheit und Autonomie gemäß dem Sittengesetz als eine bloß begriffslogische Zuschreibung von Gut und Böse. In der transzendentalen Analyse des Selbstbewusstseins offenbart sich eine merkwürdige und auffällige Disjunktion: Es offenbart sich ein Geltungsgrund, der im Bereich der logischen Implikation die Disjunktion zwischen Gut und Böse zulässt, aber erst dank eines übergehenden Apponierens und Anschauens von Gut und Böse bestimmt werden kann. Und umgekehrt gilt genauso, das freie Apponieren und Bilden eines Zeitschemas der Bestimmbarkeit von Gut und Böse ist ermöglicht durch das begriffslogische, implikative Denken fakultativer Folgen aus einem Geltungsgrunde, der das Apponieren erst ermöglicht.

Nur weil die bloße Implikation nicht erzwingt, welche disjunktive Möglichkeit verwirklicht wird, Gutes oder Böses, ist der „Akt der Freiheit“ (von Kant hoch beschworen) möglich, und umgekehrt dank der replikativen Möglichkeit des reflexiven Denkens (mittels Kategorien und Reflexionsformen) kann der Sinn einer Sphäre der Entscheidbarkeit und Bestimmbarkeit zum Guten oder Bösen aufgebaut und gedacht werden. Implikative Begründungsform und appositionelle Begründungsform bedingen sich gegenseitig, weil sie in ihrer Disjunktion durch die Einheit eines unabhängigen Geltungsgrundes zusammengehalten werden. Der unabhängige Geltungsgrund begründet und rechtfertigt ontologisch die Wechselwirkung, liegt aber absolut getrennt von den Mitteln des Gebrauches der Freiheit.

Kant sieht diese vorauszusetzende Einheit der Disjunktion nicht, diesen prinzipiellen Geltungsgrund transzendentalen Wissens; es genügt ihm die Unabhängigkeit im Denken eines unbedingten Sittengesetzes – zu reellen, faktischen Bedingungen.

Kommt aber dem Vernunftwesen „Mensch“ nicht von vornherein eine Grundbegriff des Rechts und der Anerkennung zu, aus einem absoluten Geltungsgrund des Guten und des moralischen Sollens, kann nie mehr der ursprüngliche, naturrechtliche Rechtsbegriff und die rechtliche Begründung von Freiheit von allen für alle zu jeder Zeit eingeholt werden. Natürlich gibt es viele systemtheoretische Begründungen des Rechts, positive Rechtsgesetzgebung, utilitaristische Begründungen usw. Die psychische oder soziale oder empirische Verträglichkeit soll entscheiden, was Recht ist. T. S. Hoffmann beharrt geradezu auf den empirischen Gebrauch der Freiheit nach den Regeln der „praktischen Vernunft“.

5) Im Vortrag v. T. S. Hoffmann jetzt weitergehend: Die spezifische Aufgabe des Rechts im Unterschied zur Moral ist die Aufgabe einer Koordination von Handlungsfreiheiten auf den Gesamtzweck der Freiheitserhaltung hin.

Wenn der Gesamtzweck des Rechts die Selbsterhaltung der Freiheit ist,  wird aber nicht mehr durch ein teleologisch Gutes dieses  Gesamtzweck begründet,   sondern in und aus dem empirisch mannigfaltigen Gebrauch wird der Gesamtzweck und die Idee des Gesamtzweckes bestimmt. Es geht um die Schaffung der Realmöglichkeit der Selbsterhaltung des Rechtes der Freiheit in der unabsehbaren Mannigfaltigkeit möglicher Freiheitsrealisierungen.

Im Vortrag weiter: Man kann in diesem Sinne nach Kant  die Freiheit nicht denken, ohne sich als frei zu verstehen, d. h. ohne der Idee, die Freiheit auch unmittelbare praktische Realität werden zu lassen. In diesem Sinne setzen alle Rechtsbegriffe ein Verständnis wirksamer Freiheit voraus. Wir wissen, was es heißt, mit jemanden einen Vertrag zu schließen, nämlich eine wechselseitige Selbstdetermination im Freiheitsgebrauch vorzunehmen, die bestimmte Handlungen begründen, andere ausschließen. Alles dies zu wissen ist Inhalt unseres praktischen reflexiven Selbstbewusstseins, zu dessen Inhalt der Begriff einer in Handlungen wirksamen Freiheit gehört.

Meine Rückfrage wiederum: Liegt das Selbstverständnis wirksamer Freiheit letztlich in einer unabhängig von äußerem Erfolg oder äußerer Gesetzeslage evidenten Gewissheit und Sicherheit, oder bemisst sich dieses Selbstverständnis nach äußeren Bedingungen des Verstehens der praktischen Wirksamkeit?

Die Ausgangsposition eines empirisch feststellbaren Mittelgebrauches vermengt m. E. a) die formale Sicherung der Freiheit durch das Recht mit b) inhaltlicher Gesellschaftstheorie, was ein zulässiges, erlaubtes oder schon nicht mehr erlaubtes, verbotenes Mittel sei, Freiheit zu leben  und zu realisieren. Die Idee des Gesamtzweckes lässt für mich c) die Aufgabe einer idealen Gesellschaftsform und idealen Gerechtigkeitsform als Postulat und Ideal geradezu vermissen. Die Gesellschaft, der Mainstream, der Staat fungieren als sanktionierende Macht und Verstehenshilfen, was Freiheit heißen kann und wie sie gerade im Sinne der Mächtigen gebraucht werden darf. Das ist doch Missbrauch des Freiheitsbegriffes mittels Rechtssatzung? 

Nach T. S. Hoffmann: Die spezifische Aufgabe des Rechtes ist es, die in Handlungen wirksam werdende Freiheit im Sinne einer allgemeinen Freiheitserhaltung zu etablieren. Wer bestimmt aber jetzt die „allgemeine“ Freiheitserhaltung? Welche Gerechtigkeitsvorstellungen liegen hier vor? Der Liberalismus sieht das anders als jede Diktatur – und keiner von beiden hat hier Recht. Im Unterschied zu einer im Begriff des Guten begrĂĽndeten Rechtslehre – von T. S. Hoffmann als ĂĽberholt angesehen – geschieht dies nicht durch eine Kritik der Zwecke der Handelnden, sondern durch eine Regulierung ihres Mittelgebrauches. Der Mittelgebrauch wird nach einer regulativen Idee geprĂĽft, ob er rechtens ist oder nicht. 

Die Legalitätsfrage ist im Blick auf den Mittelbegriff (nicht Zweckbegriff) zu stellen (nach T. S. Hoffmann). 
a) Das Recht achtet nur auf die empirisch auftretende Handlung und nicht auf die vermutete oder erklärte Willensmeinung der Person; b) das Recht ist mit der Fokussierung auf das Mittel auf eine Instanz bezogen, in der die Zwecksetzungen aufeinanderprallen, sodass dann Freiheiten zu koordinieren sind. Gerade in Beziehung auf die Kompatibilität oder Nicht-Kompatibilität mit anderer Freiheit ist die Rechtlichkeit und Moralität des Mittels zu ermitteln.

Personen dürfen sich nicht durch ihren Freiheitsgebrauch gegenseitig beeinträchtigen und in ihrer Personalität verletzen. Die fundamentale Aufgabe des Rechts ist deshalb: Es hat freiheitserhaltend zu sein, indem es den Mittelgebrauch dahin reguliert, dass sich Freiheit  durch dessen Mannigfaltigkeit darstellen und als empirisch konkret werdende Freiheit mit anderer Freiheit realisieren lässt.

T. S. Hoffmann rĂĽhmt sogar diese moralfreie Ableitung eines Rechtsbegriffes: Anders als bei der Moral findet durch das Recht keine unmittelbare Zweckkritik statt, sondern die spezielle Aufgabe des Rechts im Unterschied zur Moral ist die (bloĂźe) Aufgabe einer Koordination von Handlungsfreiheiten auf den Gesamtzweck der Freiheitserhaltung hin.

6) Meine Anfragen weiter: Wenn der einzelne seine Freiheitsrealisierung versucht, sozusagen „testet“, kann er jemals sicher sein, ob er rechtens handelt, und wenn er gehandelt hat, ob er rechtens gehalten hat? Was sagt sein Gewissen? Oder auf das Ganze übertragen: Kann der Staat überhaupt als rechtssichernde Instanz fungieren, wenn erst nachträglich die Erkenntnis möglich ist, ob ein Freiheitsgebrauch mit anderer Freiheit koordiniert werden kann? Oder gelten hier nur Wahrscheinlichkeitswerte,  historische Erfahrungen?

Oder noch schlimmer gedacht, könnte der Staat nicht selbst korrupt und verbrecherisch sein, wenn er als notwendiger „Bewahrer des Rechts“ selbst den „regulativer Mittelgebrauch“ der Erkenntnis von Freiheit festlegen darf – in einer positiven Rechtstheorie? (Stichwort: Carl Schmitt)

Das Recht kommt in der Befragungen der zulässigen Mittel und der ständigen Koordinierung von Freiheiten immer schon zu spät im Vergleich zu gerissenen Personen, die für sich längst das „Recht“ entdeckt haben, es durchzusetzen.

A fortiori gibt es überhaupt kein Recht des einzelnen vorab zur allgemeinen Tauglichkeitsprüfung der Kompatibilität von Freiheit und vorab zur staatlichen Sanktionsgewalt, was Freiheit und Recht heißen darf?

Wenn die Ermittlung von Recht bloĂź eine Koordinierungsfrage von Handlungsfreiheiten ist, eine Frage besonderer Schlauheit und Raffinesse und der angepassten Mittel und der Macht, wie ich mir diese Koordinierungsfrage eben einrichten kann, wie kann ĂĽberhaupt aus dieser Vermengung von formalem Rechtsbegriff und inhaltlichen Vorgaben zu einer weiteren Explikation des Begriffes fortgeschritten werden, zu einem Positiven Recht von Grundrechten, BĂĽrgerrechten, sozialen Rechten, Zivilrecht, Strafrecht, Wirtschaftsrecht, Staatsrecht, Umweltrecht?

M. a. W., wenn nicht von prinzipiellen Freiheitsrechten jedes Individuums ausgegangen werden kann, wie sollten diese Freiheitsrechte durch eine Koordinierungsfrage von Handlungsweisen nachträglich gefunden werden können nach dem Maßstab einer „praktischen Vernunft“? Das ist die sogenannte hegelsche Idee eines allgemeinen Begriffes, aber nichtssagend und leer – und gegebenenfalls zu jedem Autoritarismus neigend.

Gott sie dank, möchte ich sagen, ist die Rechtsentwicklung nach dem 2. Weltkrieg im Westen nicht nach dieser hegelschen Rechtsbegründung gelaufen, sonst hätten wir keine Abwehrrechte gegenüber dem Staat, hätten wir keine Menschenrechte etc.
In den kommunistischen Staaten ist der Rechtsbegriff leider nach der selbstbezĂĽglichen „praktischen Vernunft“ der Partei gelaufen –  und in allen gegenwärtigen autoritären Staaten, säkular oder religiös gefĂĽhrt, gibt es noch immer kein Recht durch Freiheit.

© Franz Strasser, 30 7. 2019

 

1Nach „Deutsche Forschungsgemeinschaft“ – Netzwerk. Siehe Internet.

2 Das erwähne ich deshalb, weil T. S. Hoffmann in Vorbemerkungen zum Inhalt seines Vortrages eine theologische oder teleologische Moralbegründung (aus der Idee des Guten heraus) nach Kant für überholt ansah.

Print Friendly, PDF & Email

Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser