J. S. Mill, Was heißt Utilitarismus? 2. Kapitel – 2. Teil

Zuerst sollen Missverständnisse und ungerechte Anschuldigungen, was den Utilitarismus betrifft, aus dem Weg geräumt werden. Solche Missverständnisse lauten: a) Utilitarismus sei reine Nützlichkeit und der Lust entgegengesetzt, b) oder umgekehrt reine sinnliche Lust und ohne Nützlichkeit. Vielmehr ist beides in integraler Weise verbunden. „Nutzen“ ist, wie im 1. Teil schon gesagt, die quantitative Messbarkeit und Funktion des Wertes (einer Qualität) Glück/Glückseligkeit:

Wer in dieser Sache nur einigermaßen bewandert ist, wird wissen, dass alle Autoren von Epikur bis Bentham, die die Nützlichkeitstheorie vertreten haben, unter Nützlichkeit nicht etwas der Lust (pleasure) Entgegengesetztes, sondern die Lust selbst und das Freisein von Unlust verstanden haben, und dass sie, statt das Nützliche dem Angenehmen oder Gefälligen entgegenzusetzen, stets erklärt haben, dass sie unter dem Nützlichen unter anderem auch das Angenehme und Gefällige verstanden.“( Hervorhebung von mir, ebd. S 21)

1) Analog zum dialektischen Verfahren ausschließender Negation soll durch Negation die Bild-Wirklichkeit des Glücks/der Glückseligkeit für möglichst viele Individuen nach dem größtmöglichen Nutzen bestimmt und beschrieben werden.

Im Glücksbegriff ist für J. S. Mill, so scheint mir, bei all den Problemen einer bloß empiristischen Herleitung, der höchste Wert in einer akthaften Prozessualität des Erkennens (zeitlich, räumlich, interpersonal) zusammengefasst.

Dieser Wert kann durch Negationsbestimmungen der Idee nach sukzessive von allen für alle zu jeder Zeit näher (bis ins Unendliche) bestimmt werden.

Die Auffassung, für die die Nützlichkeit oder das Prinzip des größten Glücks die Grundlage der Moral ist, besagt, dass Handlungen insoweit und in dem Maße moralisch richtig sind, als sie die Tendenz haben, Glück zu befördern, und insoweit moralisch falsch, als sie die Tendenz haben, das Gegenteil von Glück zu bewirken. >Glück ist dabei Lust und das Freisein von Unlust, unter >Unglück Unlust und das Fehlen von Lust verstanden.“ (Hervorhebung von mir, ebd. S 23 u. S 24)

MILL geht weiters darauf ein, dass viele bei dem Wort „Lust“ (pleasure) bereits Abneigung empfinden und sie verächtlich machen, aber sie bedenken nicht deren Quellen. Schon Epikur verstand unter seinem Hedonismus „Freuden des Verstandes, der Empfindung, und Vorstellungskraft sowie des sittlichen Gefühls“ (ebd. S 27). Ebenso liegen „Dauerhaftigkeit, Verlässlichkeit, Unaufwendigkeit usw.“ (ebd.) in dieser Idee des Glücks und der Lust.  

Es liegt im Lustbegriff (oder dann Glücksbegriff) ein starker Altruismus und eine hohe Sittlichkeit, ein Teilmoment vernünftiger Grundlegung von Selbstbewusstsein und Subjektivität.

Fragt man mich nun, was ich meine, wenn ich von der unterschiedlichen Qualität von Freuden spreche, und was eine Freude – bloß als Freude, unabhängig von ihrem größeren Betrag – wertvoller als eine andere macht, so gibt es nur eine mögliche Antwort: Von zwei Freuden ist diejenige wünschenswerter, die von allen oder nahezu allen, die beide erfahren haben ungeachtet des Gefühls, eine von beiden aus moralischen Gründen vorziehen zu müssen -, entschieden bevorzugt wird.“ (Hervorhebung von mir, ebd. S 29)

Eine Resilienz ist inbegriffen: Ein höher begabtes Wesen verlangt höheres Glück und ist „wohl auch größeren Leidens fähig.“ (ebd. S 31) Warum das so ist? Weil es mit dem Gefühl der Würde (Hervorhebung von mir, ebd.) zusammenhängt. Die Würde, die wir haben und fühlen, macht einen entscheidenden Teil des Glücks aus. (vgl. ebd.).

Mit Unvollkommenheiten, solange sie erträglich sind, kann man leben lernen.

Es kann beim Vergleich zwischen höheren und niederen „Befriedigungen“ (pleasures) (ebd. S 33) oft zu falschen Entscheidungen kommen, aber prinzipiell zieht das Vernunftwesen Mensch die höheren Freuden den niedrigeren vor. (vgl. ebd.). Es ist ebenfalls eine Frage von Verhalten und Kultur, die höheren Fähigkeiten den niedrigeren vorzuziehen und sie einzulernen. (vgl. ebd. S 35)

Welche höheren oder niederen Befriedigungen zu wählen sind, das Urteil soll einer Mehrheit (majority) von Personen zukommen. Was eben der Art des Vernunftwesens Menschen am besten entspricht. (vgl. ebd. S 35. u. S 37)

J. S. MILL kommt zu einer ersten, genaueren Definition des Utilitarismus.

Ich bin auf diesen Punkt näher eingegangen, weil er für ein angemessenes Verständnis der Begriffe Nützlichkeit oder Glück, als Leitvorstellungen des menschlichen Handelns verstanden, absolut unerlässlich ist. Zur Annahme der utilitaristischen Norm ist er dagegen nicht unbedingt erforderlich; denn die Norm des Utilitarismus ist nicht das größte Glück des Handelnden selbst, sondern das größte Glück insgesamt (greatest amount of happiness altogether) ; und wenn es vielleicht auch fraglich ist, ob ein edler Charakter durch seinen Edelmut glücklicher wird, so ist doch nicht zu bezweifeln, dass andere durch ihn glücklicher sind und dass die Welt insgesamt durch ihn unermesslich gewinnt. Der Utilitarismus kann sein Ziel daher nur durch die allgemeine Ausbildung und Pflege eines edlen Charakters erreichen, selbst wenn für jeden Einzelnen der eigene Edelmut eine Einbuße an Glück und nur jeweils der Edelmut der anderen einen Vorteil bedeutete.[…] “ (Hervorhebung von mir, ebd. S 37)

Noch präziser vielleicht die gleich folgende Definitionen der Idee des Glück/der Glückseligkeit – wiederum mit leider empiristischem Einschlag, dem Geltunganspruch nach aber als „letzter Zweck“ ausgezeichnet:

Nach dem Prinzip des größten Glücks ist, wie oben erklärt, der letzte Zweck, bezüglich dessen und um dessentwillen alles andere wünschenswert ist (sei dies unser eigenes Wohl oder das Wohl anderer), ein Leben, das so weit wie möglich frei von Unlust und in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht so reich wie möglich an Lust ist; wobei der Maßstab, an dem Qualität gemessen und mit der Quantität verglichen wird, die Bevorzugung derer ist, die ihrem Erfahrungshorizont nach – einschließlich Selbsterfahrung und Selbstbeobachtung – über die besten Vergleichsmöglichkeiten verfügen. Indem dies nach utilitaristischer Auffassung der Endzweck des menschlichen Handelns ist, ist es notwendigerweise auch die Norm der Moral.“ (Hervorhebungen von mir, ebd. S 37. u. S 39)

Anders gesagt: Das Nützlichkeitsdenken und die Moral des Utilitarismus steht unter dem Postulat, das bereits Angenommene (im reellen Streben) explizit zu denken und zu einem offenen System des Sich-Wissens und Verstehens der allgemeinen Vernunftnatur (nicht nur des Individuums) herauszuarbeiten.

Wenn etwas unter einem Postulat steht, so ist das nicht eitles, unerreichbares Wunschdenken, sondern die Aufgabe, im Denken einer Kausalität das nachzuvollziehen, was wirklich, real und unterschiedlich erfahren wird: Unlust, Ungenügen und erstrebte Lust, Glück/Glückseligkeit. Wir vollziehen im Denken nach, was als reelles Streben dem wirklichen Sehen nach geschieht.

Mangels intelligibler und absoluter Begründung dieser Tätigkeit des Denkens muss J. S. Mill stets wieder zu naturalen Ursachen der Erklärung zurückkehren: Die Intention der Erklärung wäre aber wunderbar transzendental: die Bedingungen der Wissbarkeit aufzusuchen und zu explizieren, die dem reellen Streben zugrundeliegen.

Wie ich zufällig bei K. Hammacher fand, so offenbart bereits der Glücksbegriff einen sehr schönen, intelligiblen Geltungsgrund, der nur verstanden werden muss, ehe er als primitiv hedonistisch abgetan wird. 1

2) Kant bestimmt Glück/Glückseligkeit als einen Zustand, in dem „alles nach Wunsch und Willen geht“ (KpV, AA Bd. V, S 224), d. h. aber

a) es ist gerade nicht etwas selbst Produziertes, eben nur Wunsch,

b) und ein Wille, der eine Tätigkeit ausdrückt, aber nur die Tätigkeit einer Erwartung und Hoffnung sein kann, weil ein Wollen letztlich nur durch anderes, fremdpersonales Wollen beantwortet werden kann.

Das Glück bleibt entzogen, und doch bezogen auf andere Personen in der Erwartung eines gemeinsamen Verstehens.

Das ist bei KANT einerseits noch die alte aristotelische Tradition, in der das Glück als „Tätigsein der Seele im Sinne der ihr wesenhaften Tüchtigkeit (psyches energeia tis kat areten teleian) (Nikomachische Ethik) verstanden wird, aber andererseits deutlich transzendental-kritisch hinterfragt, was hier erwartet werden kann und wie es erwartet wird: Ein Verstehen und wechselseitiges Anerkennen.  

Dass J. S. MILL nicht ein bloß sinnliches Glücksgefühl vorschwebt, dürfte hoffentlich immer klarer werden. Vor allem der Aspekt des Glücks im Miteinander und Nebeneinander von endlicher Freiheit, mithin der fremdpersonale Aspekt, kommt immer deutlicher heraus!

Dies kann also definiert werden als die Gesamtheit der Handlungsregeln und Handlungsvorschriften, durch deren Befolgung ein Leben der angegebenen Art für die gesamte Menschheit im größtmöglichen Umfang erreicht ist; und nicht nur für sie, sondern, soweit es die Umstände erlauben, für die gesamte fühlende Natur.“ (Hervorhebungen von mir, S 39)

3) Es werden dann bei J. S. MILL verschiedene Einwände und Vorwürfe gegen den Utilitarismus vorgebracht: Ich zählte ca. zwölf verschiedenster Art auf. Ich gehe hier nicht näher darauf ein, aber in Stichworten will ich sie skizzieren, um auf das hohe Niveau der Argumentation von J. S. MILL hinzuweisen. Offensichtlich hat hier MILL bereits viele Diskussionen hinter sich gebracht und eingebaut. Genauere Schilderungen siehe dort: Es finden sich ein paar herrliche Aussagen!

1) Es gibt das Vorurteil, es ginge nur um physiologische, sinnliche Bedürfnisse (vgl. ebd. S 39);

2) ferner das Vorurteil, der Utilitarismus sei antisozial, egoistisch, gefühllos, ohne geistige Werte (ebd. S 41f);

3) Im Gegenteil: Das Gemeinwohl ist ihm an erster Stelle (ebd. S 45f).

4) Glück hängt sehr eng mit Tugend zusammen und mit Opfer; (vgl. ebd. S 49f)„Mögen den Utilitaristen daher einstweilen nicht müde werden, die Moral der aufopfernden Hingabe als einen Besitz zu behaupten der ihnen ebenso rechtmäßig zusteht wie den Stoikern und den Transzendentalisten“ (ebd. S 51).

5) Die Hervorhebung des Altruismus und einer interpersonalen Wertethik und der Universalisierbarkeit der Werte ist im Utilitarismus vorherrschend (ebd. S 53f).

6) Die Möglichkeit der Erreichung eines großen Glücks für möglichst viele sei eine Überforderung, aber umgekehrt handeln wir ebenfalls nicht aus reiner Pflicht, was ja noch mehr Überforderung wäre (ebd. S 55f).

Es kommt nicht auf das Motiv der Handlung an, sondern auf die Richtigkeit der Handlung (vgl. ebd. S 57).

Utilitarismus ist geradezu eine Tugendethik, weil er die Allgemeinheit der Welt und der Gesellschaft stets mitbedenkt.

7) Der Utilitarismus erkenne nicht die verbotenen Handlungen (vgl. S 59)?

8) Der Utilitarismus mit seinem Blick auf die Handlungsfolgen töte die Maximen der rechten Gesinnung (vgl. ebd. S 59f)? Die Handlungen des Utilitarismus beschreiben hingegen sehr wohl objektive Werte, sie beschreiben ein Sittengesetz (vgl. ebd. S 63).

9) Der Utilitarismus wird als „gottlose Doktrin“ (ebd. S 65) verschrien. Es ist umgekehrt ein sehr moralisches Gottesbild damit verbunden. „Wenn es wahr ist, das Gott vor allem das Glück seiner Geschöpfe will und dass dies seine Absicht war, als er sie erschuf, dann ist die Nützlichkeitslehre nicht nur keine gottlose Lehre, sondern eine, die tiefer religiös ist als jede andere. […]“ (ebd. S 65). Das göttliche Gebot muss geradezu in eine altruistische Lehre transformiert werden.

10) Der Utilitarismus sei unmoralisch und opportunistisch. (vgl. ebd. S 67f)? Der Utilitarismus handelt im Gegenteil prinzipiell, universell, und schaut auf das Glück und die Glückseligkeit in der Erkenntnisart des Nützlichen. Das Nützlichkeitsprinzip deckt geradezu kritisch jeden anderen Opportunismus auf.

11) Der Utilitarismus könne nicht schnell genug erkennen, was allgemein nützlich ist und was im konkreten Fall zu tun ist (ebd. S 69.71f)? Es gilt aber vielmehr umgekehrt – wenn Menschen sich einigen wollen -, werden sie zugleich die Nützlichkeit als moralisches Kriterium und als kategorial-quantitative Erkenntnisleistung gelten lassen wollen.
Wenn nicht allgemeiner Schwachsinn herrscht, so hat die Menschheit im Laufe der Geschichte feste Überzeugungen gewonnen, welche Handlung gut ist und sich auf das Glück auswirken kann (vgl. ebd. S 71).

Natürlich besteht immer wieder Lernbedarf zu erkennen, welches Handeln sich auf das Glück auswirkt. „Die aus dem Nützlichkeitsprinzip abgeleiteten Korollarien lassen wie die Lehrsätze jeder praktischen Disziplin unbegrenzte Verbesserungen zu […]“ (ebd. S 73)

Dass man das Glück zum Zweck und Ziel der Moral erklärt, heißt nicht, dass man keinen Weg angeben darf, der zu diesem Ziel führt […]“ (ebd.)

12) „Die restlichen Standardargumente gegen den Utilitarismus bestehen meist darin, ihm die gewöhnlichen Schwächen der menschlichen Natur und die Schwierigkeiten zur Last zu legen, die es dem Gewissenhaften schwerer machen, seinen Lebensweg zu finden. So behauptet man etwa, dass der Utilitarist Gefahr laufe, seinen eigenen Fall zur Ausnahme von der moralischen Regel zu machen, und dass er, zumal unter dem Einfluss der Versuchung, in einem Verstoß die Regel einen größeren Nutzen sehen werde als in ihrer Befolgung. […]“ (ebd. S 75)

Diese vorgebrachten Einwände fallen auf jede andere Moralvorstellung genauso zurück. Das rationale Argument der messbaren Nützlichkeit als Funktion, im Dienste der Wertbestimmung von allen für alle zu jeder Zeit, wird nochmals hervorgehoben:

Wenn die Nützlichkeit die letzte Instanz moralischer Verpflichtung ist, dann wird man sich auf die Nützlichkeit berufen dürfen, wenn zwischen unvereinbaren Ansprüchen zu entscheiden ist. Mag die Anwendung dieser Norm auch Schwierigkeiten bereiten, so ist sie doch besser als gar keine.“ (ebd. S 77)

© Franz Strasser, 3. Okt. 2023

1 Lexikonartikel v. K. Hammacher in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Hg. v. von Hermann Krings, Hans Michael Baumgartner und Christoph Wild, München 1973, Bd. II S. 606-614.
Es ist bemerkenswert, wie sich die Rezeptionsweise und Analyse solcher Begriffe geändert hat! Siehe z. B. das „Glück“ ganz anders beschrieben im gleichen Lexikon, nur etwa 40 Jahre später. In: „Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe“, (Hg. v. H. Krings u. a.), Freiburg-München 2011, siehe dort entsprechendes Lemma.

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser