Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen bloßer Vernunft, 1793 – Stichworte zum „Ersten Stück“

 

I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (A 1793; B 1794)

Stichworte zu „Der philosophischen Religionslehre Erstes Stück. Von der Einwohnung des bösen Prinzips neben dem guten; d. i. vom radikal Böse in der menschlichen Natur.“

1) Was ist das Böse?1

Kant möchte von Anfang an auf eine zugrundeliegende Maxime im Menschen zurückgehen, d. h. auf einen subjektiven Willen (Willkür) und der korrespondierenden Willensbestimmung, um einen Vernunftgrund des Bösen angeben zu können.

Kant ist ein wahrer Definitionskünstler und stellt sogleich Definitionen bereit, um den Rahmen und die Sachlage darzustellen. Inwiefern die Definitionen das durchhalten, was sie versprechen, weil sich ungeahnt neue Fragen und Zusammenhänge im Laufe der Begründungen einstellen, das möchte ich zu Beginn ebenfalls festhalten. Es klingt am Anfang überzeugender – durch Kants ungemeines Wissen und seine Schreibgewandheit überdeckt – als am Ende dann behauptet werden kann.

Es beginnt bereits mit dem zentralen Begriff „Maxime“, der für’s Erste einleuchtet, auf längere Sicht aber ein Problem werden wird:

Kant hat diesen Begriff wesentlich bereits in der GMS (1785) und in der KpV (1788) vorgestellt. Die Problem tun sich dort in einer Begründung von Moral und Ethik nicht so ersichtlich auf als in der direkten Auseinandersetzung mit der religiösen Überlieferung. Wie immer diffus und widersprüchlich die christliche und kirchliche Überlieferung auch sein mag, dort sind die Ursprünge von Gut und Böse keineswegs nur auf die alleinige Maxime und subjektive Gesetzgebung der Vernunft zurückzuführen.

Kant beginnt also mit dem Maxime-Begriff, um auf eine im Freiheitsakt und Willen selbst einsehbare, helle Erkenntnis hinzusteuern – nicht auf ein göttliches Gebot.

„Man nennt aber einen Menschen böse, nicht darum weil er Handlungen ausübt, welche böse (gesetzwidrig) sind; sondern weil diese so beschaffen sind, daß sie auf böse Maximen in ihm schließen lassen. Nun kann man zwar gesetzwidrige Handlungen durch Erfahrung bemerken, auch (wenigstens an sich selbst) daß sie mit Bewußtsein gesetzwidrig sind; aber die Maximen kann man nicht beobachten, sogar nicht allemal in sich selbst, mithin das Urtheil, daß der Thäter ein böser Mensch sei, nicht mit Sicherheit auf Erfahrung gründen. Also müßte sich aus einigen, ja aus einer einzigen mit Bewußtsein bösen Handlung a priori auf eine böse zum Grunde liegende Maxime und aus dieser auf einen in dem Subject allgemein liegenden Grund aller besondern moralisch-bösen Maximen, der selbst wiederum Maxime ist, schließen lassen, um einen Menschen böse zu nennen.“ (RGV, Bd. VII, ebd. S 666)

Kann durch eine Maxime das Prinzip des Guten und/oder Bösen bestimmt werden?

Ziemlich zu Beginn der GMS definiert Kant die „Maxime“ dahingehend als eine Handlung „(…) (die nicht) von der Wirklichkeit des Gegenstandes der Handlung ab(hängt), sondern blos von dem Princip des Wollens, nach welchem die Handlung unangesehen aller Gegenstände des Begehrungsvermögens geschehen ist.“(GMS, Bd. V, ebd. S 26).2

Um die Bedeutung dieses subjektiven Prinzips wie des späteren objektiven Prinzips der allgemeinen Gesetzgebung und der darauf antwortenden Pflicht richtig einzuordnen, ist der nächste zentrale Begriff im Zusammenhang mit einer Begründung der Moral und der Bestimmung von Gut und Böse der Begriff des „Willens“.

Der Wille ist sich selbst hell, ist letztlich durchbestimmt durch das faktische Sittengesetz, und in der Selbstgesetzgebung wird das Gute wie Böse – letzteres als verkehrte, irrige oder böswillige Maxime – sichtbar.

Berühmt sind wohl diese Worte zu Beginn der GMS: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“ (GMS, ebd. S 18)

Stimmt das? Kann der Wille von sich her festlegen, was Gut und Böse ist? Nur in Relation zu seinem Wollen wird epistemisch das Gute wie Böse belegt, aber jenseits dieser Relation, gibt es keine andere Ableitung von Gut und Böse? Bedarf ich dann wirklich keiner das Böse restituierenden Religion und keines göttlichen Gesetzes von Gut und Böse? Ist der Wille wirklich so mächtig, dass er mit gutem Gewissen die Bezeichnungen „gut“ und „böse“ vergeben kann, wo er doch die Erkenntniszusammenhänge in Gut und Böse, wie sie ihm im faktischen Sittengesetz aufscheinen, nicht selbst genetisch begründet hat?  Er findet das Sittengesetz ja nur vor.3

Kant möchte keiner Allmacht des Willens das Wort reden  – wie bei Schopenhauer – ,  denn sehr viel und oft wird gerade von den dem freien Willen entgegenstehenden sinnlichen Neigungen und Bedürfnissen gesprochen, die ein echtes Hindernis darstellen; aber formal bleibt er beim Prinzip des freien Willens in der Bestimmung von Gut und Böse, wenn auch der Erscheinung nach das nicht genau ergründet werden kann, ob hinter dem freien Willen nicht doch bloße sinnliche Begierden stecken.  

Es ist hier ein tieferes Problem enthalten, das aufgedeckt werden muss: Keineswegs hält die Definition des Willens, was sie verspricht d. h. dass der Wille festsetzen kann, was  Gut und Böse ist – hier im 1. Hauptkapitel bezogen auf den Grund des Bösen. 4

Kant will auf eine Vernunfterklärung eines „bösen“ Prinzips hinaus;  er will auf eine im Erkenntnis- und Freiheitsakt einsichtige transzendentale Erklärungs- und Handlungsart hinsteuern, die, so deute ich die ganze Absicht der religionskritischen Religionsanschauung der RGV, unabhängig von der christlichen Lehre von Gut und Böse bestehen kann.

Durch die Selbstgesetzgebung der Vernunft, vermittelt durch transzendentale Freiheit, ausgeführt durch einen freien Willen, bedarf die praktische Vernunft und praktische Erkenntnisart keiner äußeren, göttlichen Gebots- und Verbotsmoral, keiner positiven Offenbarung, keiner religiösen Gnadenmittel, keiner sonst wie geprägten sakramentalen, kirchlichen Überlieferung. Das würde nur Heteronomie bedeuten – was in Zeiten der Aufklärung und in Zeiten des zu Ende gehenden 18. Jahrhunderts unter den Philosophen niemand haben will? 

M. E. wird Kant diese Ansage eines Bestimmungsgrundes des Willens durch eine „böse“ Maxime nicht durchhalten können, denn wie sollte in einem und einzigen Akt der Handlungsart der Freiheit der Wille sowohl gut wie böse wollen können?

„(…) daß hier unter der Natur des Menschen nur der subjective Grund des Gebrauchs seiner Freiheit überhaupt (unter objectiven moralischen Gesetzen), der vor aller in die Sinne fallenden That vorhergeht, verstanden werde; dieser Grund mag nun liegen, worin er wolle. Dieser subjective Grund muß aber immer wiederum selbst ein Actus der Freiheit sein (denn sonst könnte der Gebrauch oder Mißbrauch der Willkür des Menschen in Ansehung des sittlichen Gesetzes ihm nicht zugerechnet werden und das Gute oder Böse in ihm nicht moralisch heißen).“ (ebd. S 667, Hervorhebungen von mir)

Nochmals wird jede objektorientiere Erkenntnis von Gut und Böse abgewiesen:

„Mithin kann in keinem die Willkür durch Neigung bestimmenden Objecte, in keinem Naturtriebe, sondern nur in einer Regel, die die Willkür sich selbst für den Gebrauch ihrer Freiheit macht, d.i. in einer Maxime, der Grund des Bösen liegen. Von dieser muß nun nicht weiter gefragt werden können, was der subjective Grund ihrer Annehmung und nicht vielmehr der entgegengesetzten Maxime im Menschen sei. Denn wenn dieser Grund zuletzt selbst keine Maxime mehr, sondern ein bloßer Naturtrieb wäre, so würde der Gebrauch der Freiheit ganz auf Bestimmung durch Naturursachen zurückgeführt werden können: welches ihr aber widerspricht. Wenn wir also sagen: der Mensch ist von Natur gut, oder: er ist von Natur böse, so bedeutet dieses nur so viel als: er enthält einen (uns unerforschlichen) ersten Grund der Annehmung guter, oder der Annehmung böser (gesetzwidriger) Maximen; und zwar allgemein als Mensch, mithin so, daß er durch dieselbe zugleich den Charakter seiner Gattung ausdrückt.“ (ebd. S 667 Hervorhebungen von mir)

Meine kritische Rückfrage wiederum: Die gutgläubige Ansicht, dass der freie Wille sich selbst so hell ist, dass er sich zum Sollen des Sittengesetzes und zur freien Tun des Guten wie Lassen des Bösen aktiv aufschwingen kann, das würde ich gerne glauben, wenn die bei Kant wiederkehrenden sinnlichen Neigungen a) dem freien Willen nicht schon per se  entgegengesetzt wären, sondern selbst schon anfängliche geistige (intelligible) Werte und Anschauungen abbilden, ferner b) der freie Wille nur deshalb auf das Sittengesetz hingeordnet ist, weil er selbst in sich dieses Sittengesetz genetisch einsehen kann, d. h. einen alles anderen überragenden, erhabenen Wert des Guten erkennt, welcher Wert aber damit c) gerade nicht selbstgemacht oder selbstproduziert sein darf, sondern nur in aktiver Annahme empfangen, d. h. nur interpersonal empfangen und religiös geglaubt werden kann.

Die faktische Position Kants muss m. E. nochmals transzendentalkritisch hinterfragt werden, ob von sich her der freie Wille a) wirklich das reine Gute/Heilige (oder mögliche Böse) und Wahre und Schöne objektiv einsehen und abbilden kann, 5 und ferner, über diese reflexive Bestimmung des Heiligen und Guten und Wahren und Schönen hinaus, b) eine höhere Moral der Liebe und Sündenvergebung und der Restitution des Bösen denkbar sei, wie die christliche Überlieferung im Begriff „Vergebung“ oder „Lamm Gottes“ festhält? Die religionskritische Sicht Kants in der ganzen Schrift RGV greift m. E. zu kurz, weil a) die eigene faktische Reflexion des Denkens von Gut und Böse nicht abgeleitet ist  und b) die positive Offenbarung der christlichen Religion – und darum geht es ja meist konkret in der RGV – nicht in ihrem geschichtlichen Zusammenhang von Vergebung  und Restitution erkannt wird. Anders gesagt, es fehlt eine geschichtsphilosophische Einsicht in die Notwendigkeit von Vergebung und Erlösung.  

2) Angeboren oder Gebrauch der Freiheit?

Man kann im sprachüblichen und übertragenen Sinne und der äußeren Erscheinung nach sagen, dass von Natur aus die Gattung „Mensch“ das Böse sogar wie „angeboren“ (ebd. S 668) empfindet, „angeboren, als es vor allem in der Erfahrung gegebenen Gebrauche der Freiheit (…) zum Grunde gelegt wird“ (ebd.). Das ist aber nur äußere Erscheinungsweise und nicht wirklich begründbar. Transzendental gesehen muss auf den Gebrauch der Freiheit rekurriert werden, um eine begründete Erklärung zu bieten – und deshalb ist eine „angeborene“ Eigenschaft des Bösen keine zureichende Erklärung. 

In einer längeren Anmerkung zur „Anmerkung“ (ebd. S 668 – 672) wird das betont: Es gehe Kant nicht um eine erscheinungsweise Beschreibung des Bösen, sondern um eine transzendentale Begriffserklärung  von Gut und Böse und folglich um deren Deduktion.  

Um diese Reinheit transzendentaler Erkenntnis in diesen Bestimmungen von Gut und Böse zu wahren, sieht Kant sich gegenüber „Prof. Schiller“ sogar genötigt, bei seiner differenzierten Begrifflichkeit zu bleiben:

„Ich gestehe gern: daß ich dem Pflichtbegriffe gerade um seiner Würde willen keine Anmuth beigesellen kann. Denn er enthält unbedingte Nöthigung, womit Anmuth in geradem Widerspruch steht. Die Majestät des Gesetzes (gleich dem auf Sinai) flößt Ehrfurcht ein (nicht Scheu, welche zurückstößt, auch nicht Reiz, der zur Vertraulichkeit einladet), welche Achtung des Untergebenen gegen seinen Gebieter, in diesem Fall aber, da dieser in uns selbst liegt, ein Gefühl des Erhabenen unserer eigenen Bestimmung erweckt, was uns mehr hinreißt als alles Schöne.“(ebd. S 669)

3) Die Freiheit der Willkür

Sie soll transzendentaler Grund und Begriff einer Handlung werden – über die Vermittlung der subjektiven Maxime. Die Maxime ist genau dann praktische Vernunftbestimmung, wenn sie formal das moralische Gesetz befolgt:

„(…) die Freiheit der Willkür ist von der ganz eigenthümlichen Beschaffenheit, | daß sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat (es sich zur allgemeinen Regel gemacht hat, nach der er sich verhalten will); so allein kann eine Triebfeder, welche sie auch sei, mit der absoluten Spontaneität der Willkür (der Freiheit) zusammen bestehen. Allein das moralische Gesetz ist für sich selbst im Urtheile der Vernunft Triebfeder, und wer es zu seiner Maxime macht, ist moralisch gut. Wenn nun das Gesetz jemandes Willkür in Ansehung einer auf dasselbe sich beziehenden Handlung doch nicht bestimmt, so muß eine ihm entgegengesetzte Triebfeder auf die Willkür desselben Einfluß haben; und da dieses vermöge der Voraussetzung nur dadurch geschehen kann, daß der Mensch diese (mithin auch die Abweichung vom moralischen Gesetze) in seine Maxime aufnimmt (in welchem Falle er ein böser Mensch ist): so ist seine Gesinnung in Ansehung des moralischen Gesetzes niemals indifferent (niemals keines von beiden, weder gut, noch böse).“ (ebd. S 670.671)

Wenn es einen transzendentalen, sich selbst gegebenen Begriff und Grund der Selbstbestimmung und Freiheit geben soll, einen Willen und eine Willkür als einsichtigen Grund des Guten wie Bösen, so ist dieser Grund zuerst in der Gesinnung zu suchen, d. h. sie ist „(…) der erste subjektive Grund der Annehmung der Maximen“ (ebd. S 671.672).6

Prinzipiell ist das moralische Gesetz überzeitlich und nicht subjektiv, erst in der Zuordnung zur Freiheit wird dieses Gesetz subjektiviert.

„Die Gesinnung, d.i. der erste subjective Grund der Annehmung der Maximen, kann nur eine einzige sein und geht allgemein auf den ganzen Gebrauch der Freiheit. Sie selbst aber muß auch durch freie Willkür angenommen worden sein, denn sonst könnte sie nicht zugerechnet werden. Von dieser Annehmung kann nun nicht wieder der subjective Grund oder die Ursache erkannt werden (obwohl darnach zu fragen unvermeidlich ist: weil sonst wiederum eine Maxime angeführt werden müßte, in welche diese Gesinnung aufgenommen worden, die eben so wiederum ihren Grund haben muß). Weil wir also diese Gesinnung, oder vielmehr ihren obersten Grund nicht von irgend einem ersten Zeit-Actus der Willkür ableiten können, so nennen wir sie eine Beschaffenheit der Willkür, die ihr (ob sie gleich in der That in der Freiheit gegründet ist) von Natur zukommt.“ (ebd. S 672)

4) Kant insistiert auf die Begründung

in und aus einem moralischen Gesetz  – in seiner Zweiheit von subjektiver Maxime und objektivem Gesetz.
Dazu möchte ich kurz zurückgreifen auf das generelle Anliegen der neuen Erkenntnistheorie (Metaphysik) Kants und darf zurückblenden auf die KrV, GMS und KpV.  D
ie Erkenntnisprinzipien der Gegenstände der sinnlichen Natur wie des Begehrungsvermögens wurden sozusagen von ihm neu begründet und abgeleitet.7

In der KrV (A 1781; B 1788) taucht die Antinomie auf, dass alles entweder nach naturkausalen Gesetzen ablaufen müsse, oder doch die denkbare Idee bestünde, dass es eine transzendentale Freiheit gibt, die in absolut Ursprünglichkeit und Spontaneität von selbst kausal etwas beginnen und bewirken könne.

Die transzendentale Freiheit wird dann in der GMS und in der KpV bestätigt, insofern durch einen Akt der Freiheit, in absoluter Spontaneität, ohne Rückgriff auf andere Bedingungen und Ursachen, sie den Willen kausal bestimmen kann, der sich selbst ein autonomes Gesetz gibt – sichtbar als Sittengesetz.

J. Noller beschreibt das Denken der KrV kurz so: „Sie (sc. die KrV) erzeugt diese Idee (sc. einer transzendentalen Freiheit), problematisiert sie dann kritisch in ihrer Funktion als Verstandesvermögen und eröffnet schließlich selbst den Denkraum zur Lösung des Problems. Die praktische Vernunft fordert von der theoretischen, „daß sie diese Uneinigkeit, darin sie sich in theoretischen Fragen selbst verwickelt, zu Ende bringe, damit praktische Vernunft Ruhe und Sicherheit für äußere Angriffe habe, die ihr den Boden, worauf sie anbauen will, streitig machen könnten“ (GMS, Ausgabe W. Weischedl, Bd. VII, S 93) und die theoretische Vernunft „der praktischen freie Bahn schaffe“ (GMS, ebd.)

Anders gesagt: Die Vernunft in ihren vielfältigen Erkenntnisprinzipien eröffnet von sich her ebenso den Bereich des Praktischen und die Möglichkeit einer Kausalität aus Freiheit, was negativ heißt, eine Unabhängigkeit von allen sinnlichen Bestimmungsgründen,8 und positiv, „das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen, deren Kausalität also nicht nach dem Naturgesetze wiederum unter einer anderen Ursache steht, welche sie der Zeit nach bestimmte.“ (KrV, B 561)

Die Kausalität aus Freiheit widerspricht nicht der Naturkausalität, was ins Extreme formuliert ein „gesetzloses Vermögen“ (KrV B 479) ergäbe, ein „Blendwerk von Freiheit“, eine Freiheit, die „selbst blind ist“ (ebd. 475), sondern ist selbst eine „spezifische Gesetzmäßigkeit“, sofern man den Akt der Willensbildung als reflexiven Akt der Vernunft in eine praktische Freiheitsordnung einzuordnen vermag.
„Der Begriff der Freiheit, so fern dessen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist, macht nun den Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen Vernunft aus.“ (KpV, S 107)

Vor dem Hintergrund von HUMES praktischen Skeptizismus, der sich gegen die praktische Vernunft als principium diiudicationis (als normatives Beurteilungsprinzip und Kriterium für Moralität), gegen die praktische Vernunft als principium specificationis (als Vernunftursprung der objektiven moralischen Prädikate „gut“ und „böse“), sowie gegen die praktische Vernunft als principium executionis (als das Ausübungsprinzip der Moralität und ihren motivationalen Einfluss auf den Willen) zweifelnd gewandt hat, lässt sich nach Kants Ausführungen in der GMS und KpV sehr wohl eine erkenntniskritische, praktische Vernunftordnung behaupten. 9

Das klingt freiheitstheoretisch gut, doch wie vermittelt sich die Freiheit wirklich in einem gedoppelten Willen? (Siehe oben die Anmerkung 4 nach A. Mues).

5) Die Zuordnung der Freiheit

Das moralische Gesetz gestattet eine höhere Ableitung und Denkbarkeit der „Natur“ des Menschen: Kant unterscheidet daraufhin die Anlage a) zur Tierheit, b) zur Menschheit, und c) zur Persönlichkeit.

In der Anmerkung zum Begriff der „Persönlichkeit“ geht er auf diese dritte Beschreibung ein – (Anm. ebd. S 673): 10

„Wäre dieses Gesetz nicht in uns gegeben, wir würden es als ein solches durch keine Vernunft herausklügeln, oder der Willkür anschwatzen: und doch ist dieses Gesetz das einzige, was uns der Unabhängigkeit unsrer Willkür von der Bestimmung durch alle andern Triebfedern (unsrer Freiheit) und hiemit zugleich der Zurechnungsfähigkeit aller Handlungen bewußt macht.“ (Anmerkung, ebd. S 673, Hervorhebung von mir)

„Ich will also diesen Grundsatz das Princip der Autonomie des Willens im Gegensatz mit jedem andern, das ich deshalb zur Heteronomie zähle, nennen. Der Begriff eines jeden vernünftigen Wesens, das sich durch alle Maximen seines Willens als allgemein gesetzgebend betrachten muß, um aus diesem Gesichtspunkte sich selbst und seine Handlungen zu beurtheilen, führt auf einen ihm anhängenden sehr fruchtbaren Begriff, nämlich den eines Reichs der Zwecke.“(GMS, ebd. S 66)

Zweifellos sind das schöne Stellen der logisch-praktischen Konsequenz und Ausführbarkeit der moralischen Gesetzgebung, doch bleibt es, aus der Sicht der späteren Ableitungen Fichtes gesehen, unzureichend, das „Reich der Zwecke“ nur logisch gefolgert zu haben. Es ist zwar die interpersonale Rechtsordnung eine logische Konsequenz, aber keine konstitutiv-transzendentale Bedingung des Selbstbewusstseins.

„Ich verstehe aber unter einem Reiche die systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze. Weil nun Gesetze die Zwecke ihrer allgemeinen Gültigkeit nach bestimmen, so wird, wenn man von dem persönlichen Unterschiede vernünftiger Wesen, imgleichen allem Inhalte ihrer Privatzwecke abstrahirt, ein Ganzes aller Zwecke (sowohl der vernünftigen Wesen als Zwecke an sich, als auch der eigenen Zwecke, die ein jedes sich selbst setzen mag) in systematischer Verknüpfung, d.i. ein Reich der Zwecke, gedacht werden können, welches nach obigen Principien möglich ist.
Denn vernünftige Wesen stehen alle unter dem Gesetz, daß jedes derselben sich selbst und alle andere niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle. Hiedurch aber entspringt eine systematische Verbindung vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche objective Gesetze, d.i. ein Reich, welches, weil diese Gesetze eben die Beziehung dieser Wesen auf einander als Zwecke und Mittel zur Absicht haben, ein Reich der Zwecke (freilich nur ein Ideal) heißen kann.“ (GMS, ebd. S 66)

6) Der Begriff des „Zweckes“

und diese folgenden berühmten Stellen, dass das Vernunftwesen „Mensch“ nicht nur als Mittel sondern zugleich als Zweck (vgl. GMS, ebd. S 59. S 61 u. a.) anzusehen ist, geschieht auf der Basis einer phänomenal beobachtbaren Basis der Selbstgesetzgebung.

Anders gesagt, analytisch ist das „Reich der Zwecke“ und das Vernunftwesen „Mensch“ oder der Begriff „Menschheit“ 11 als Zweck an sich im Begriff des Gesetzes schon enthalten.

(Bei Fichte  wird das Zweckdenken deduziert. Es liegt im obersten Reflexionsvermögen selbst; ein Zweck ist nicht Folge eines logisch-praktischen Schlussverfahrens, sondern ist überhaupt die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Logik. Der Zweckbegriff ist vorlaufend und konstitutiv  für alles kategoriale Erkennen. Besonders die Relationskategorien (Substantialität, Kausalität, Wechselwirkung) könnten ohne ihn gar nicht  begründet werden. Weiters die Begriffe Bewegung, Organizität des Lebens. 

Die Diskussion um Zweck, Mittel, Zweck an sich, Reich der Zwecke, ist m. E. nur innerhalb einer formalen Logik verlaufend:  Der Wille wird autonom gedacht, ergo wird der Zweck ebenfalls nach dem Begriff der Autonomie gedacht, d. h.  der Mensch, der wunschgemäß autonom sein möchte, wird als Zweck an sich definiert – und die Menschheit als „Reich der Zwecke“. Das ist frommes Wunschdenken. Woher diese gutmeinende Begründung? Woher die Evidenz in dieser Logik? 

Der „kategorische Imperativ“  ist m. E. nur eine faktische, auf der Ebene der Legalität und niederen Moral funktionierende, logische! Formel, aber material gewährt er keine Einsicht in das Gute oder Böse. Bei Nietzsche soll das Wort zu lesen sein: der kategorische Imperativ ist eine gefährliche Drohung!.12

„Der Wille wird als ein Vermögen gedacht, der Vorstellung gewisser Gesetze gemäß sich selbst zum Handeln zu bestimmen. Und ein solches Vermögen kann nur in vernünftigen Wesen anzutreffen sein. Nun ist das, was dem Willen zum objectiven Grunde seiner Selbstbestimmung dient, der Zweck, und dieser, wenn er durch bloße Vernunft gegeben wird, muß für alle vernünftige Wesen gleich gelten. Was dagegen bloß den Grund der Möglichkeit der Handlung enthält, deren Wirkung Zweck ist, heißt das Mittel.(…)
Gesetzt aber, es gäbe etwas, dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Werth hat, was als Zweck an sich selbst ein Grund bestimmter Gesetze sein könnte, so würde in ihm und nur in ihm allein der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs, d.i. praktischen Gesetzes, liegen.“ (GMS, ebd. S 59)

Anders gesagt: Der kategorische Imperativ ist formal und faktisch zur Prüfung sittlicher Grundsätze tauglich, aber warum eigentlich? Er könnte tiefer begründet werden: Weil er a) ein interpersonales Konstitutionsgesetz und eine interpersonale Wertlehre enthält und b) einen Realgrund der Existenz eines Ich und eines Selbstbewusstseins voraussetzt (siehe Anm. 12). Transzendentale Voraussetzungen, die aber methodisch nicht eingeholt sind. 

„Nun sage ich: der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existirt als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.“ (GMS, ebd. S 59)

Das klingt nach Zuneigung und Liebe, aber explizit darf in der moralischen Gesetzgebung diese Motivation nicht vorkommen.

Nur ein Beispiel: In der Vorbereitung des Pflichtbegriffes sagt Kant im Zusammenhang von Bedürfnis, Neigung und Liebe: „Denn Liebe als Neigung kann nicht geboten werden, aber Wohlthun aus Liebe selbst, wenn dazu gleich gar keine Neigung treibt, ja gar natürliche und unbezwingliche Abneigung widersteht, ist praktische und nicht pathologische Liebe, die im Willen liegt und nicht im Hange der Empfindung, in Grundsätzen der Handlung und nicht schmelzender Theilnehmung; jene aber allein kann geboten werden.“ (GMS, ebd. S 25 u. v. a.)

Unmittelbar anschließend erinnert sich Kant an die Hl. Schrift und die Liebesgebote, und prompt werden diese Bibelstellen höherer Liebeseinsicht in legalistischer und moralisierender Auslegung verstanden – bereits hier in der GMS, aber sehr stark dann in der RGV.

„So sind ohne Zweifel auch die Schriftstellen zu verstehen, darin geboten wird, seinen Nächsten, selbst unsern Feind zu lieben. Denn Liebe als Neigung kann nicht geboten werden, aber Wohlthun aus Liebe selbst, wenn dazu gleich gar keine Neigung treibt, ja gar natürliche und unbezwingliche Abneigung widersteht, ist praktische und nicht pathologische Liebe, die im Willen liegt und nicht im Hange der Empfindung, in Grundsätzen der Handlung und nicht schmelzender Theilnehmung; jene aber allein kann geboten werden.“ (GMS, ebd. S 25)

Diese Sicht der Moralität allein aus Pflicht und Befolgung der Maxime der allgemeinen Gesetzgebung unterschlägt methodisch die Wechselseitigkeit von Liebe und Annahme und unterschlägt die konkrete Identitätsbildung des Wesens des Menschen durch ein interpersonales Du und ein vorausgesetztes Wir und ein göttliches Ich (als Geltungsgrund). Die in der RGV folgenden Schriftinterpretationen und generell die Sicht der Religion als moralisierende „Vernunftreligion“ und die für mich eigenartige Postulatenlehre von Unsterblichkeit und Gottesidee auf der Basis eines praktisch notwendig zu erstrebenden „hohen Gutes“ (KpV, Bd VII, Abschnitt „Über die Postulate der reinen praktischen Vernunft überhaupt“, ebd. S 264ff) verlassen  den Sinnbegriff von Religion, verlassen den Kontext der Hl. Schrift und verlieren den geschichtsphilosophischen Sinn der christlichen,  positiven Offenbarung.

Kant ist natürlich äußerst gelehrt, ebenso bibelkundig, und zugleich äußerst bescheiden, wenn er nur eine gewisse „Vernunftreligion“ gelten lässt und trotzdem nicht eine Theologie im Sinne einer „positiven Wissenschaft“ vertreten will, was eine „schlechte Figur“ für den Philosophen abgäbe (KpV, ebd. S 271, Anmerkung). Aber kann er ohne Aufdeckung der transzendentalen Grundlagen des Zweckbegriffes seinen moralischen Anspruch rechtfertigen?  

7) In der Frageabsicht nach dem Grund des Bösen.

Es soll eine Vernunftantwort gegeben, d. h. die vielen Ansichten des Bösen sollen auf eine fehl- und gegengeleitete Maxime des Bösen zurückgeführt werden:

J. Noller beurteilt diese Sicht der freien, aktiven „Annehmung“ des Bösen in der RGV als nicht im Sinne früherer Privationsformen des Bösen geschehend, d. h. dass das Böse nur ein Ungenügen, ein Abirren des Willens vom guten Prinzip ist, sondern durchaus neuartig als aktives Bevorzugen einer Regel des Gebrauches der Freiheit zum Bösen hin – später „Vernünfteln“ genannt – gelenkt wird.13 Ich lasse diese weitere Infragestellung der Willensbestimmung durch einen Grund des Bösen aber hier offen. Siehe dort bei J. Noller. Es sind vielleicht Ansätze einer genetischen Freiheit, die sogar das Böse wollen kann, zu erkennen, aber gegebenfalls kehrt Kant mit seinem Freiheitsbegriff in die Schranken der Automiegesetzgebung der praktischen Vernunft zurück?!  

Das Selbstverhältnis eines guten oder bösen Wollens, einzig und allein in der Handlungsart des Aktes der Freiheit angesiedelt, verspricht, den Grund des Bösen erkennen zu können:  Trotz der Aufnahmemöglichkeit des moralischen Gesetzes in die subjektive Maxime, gibt es, verwunderlich warum, offensichtlich die Verweigerung dieser Aufnahme und Annahme des guten Prinzips, mithin den „Hang“ zum Bösen? 

Kant überschreibt deshalb den nächsten Abschnitt mit: „Von dem Hange zum Bösen in der menschlichen Natur“ (ebd. S 675), um einen Grund zum Bösen zu finden. 14

8) Es wird der „Hang“ definiert

(Anm.Prädisposition zum Begehren eines Genusses, (…) (ebd. S 676) , was „Hang um Bösen“ heißen kann:

„ Es ist aber hier nur vom Hange zum eigentlich, d.i. zum Moralisch-Bösen die Rede, welches, da es nur als Bestimmung der freien Willkür möglich ist, diese aber als gut oder böse nur durch ihre Maximen beurtheilt werden kann, in dem subjectiven Grunde der Möglichkeit der Abweichung der Maximen vom moralischen Gesetze bestehen muß und, wenn dieser Hang als allgemein zum Menschen (also als zum Charakter seiner Gattung) gehörig angenommen werden darf, ein natürlicher Hang des Menschen zum Bösen genannt werden wird. – Man kann noch hinzusetzen, daß die aus dem natürlichen Hange entspringende Fähigkeit oder Unfähigkeit der Willkür, das moralische Gesetz in seine Maxime aufzunehmen oder nicht, das gute oder böse Herz genannt werde.“ (ebd. S 676)

Die Willkür folgt bei falscher Maximen-Gebung bzw. „Abweichung der Maximen vom moralischen Gesetze“ einem „Hang zum Bösen“, was in der Erscheinung durch Gebrechlichkeit, Unlauterbarkeit, Verderbtheit weiter gekennzeichnet ist. (vgl. ebd. S 677).

Es folgt in der Logik der transzendentalen Erfragung eine ziemlich konsequente Sicht der falschen und bösen Selbstgesetzgebung. Der Hang zur Bösartigkeit kann auch

„(…) die Verkehrtheit (perversitas) des menschlichen Herzens heißen, weil sie die sittliche Ordnung in Ansehung der Triebfedern einer freien Willkür umkehrt, und obzwar damit noch immer gesetzlich gute (legale) Handlungen bestehen können, so wird doch die Denkungsart dadurch in ihrer Wurzel (was die moralische Gesinnung betrifft) verderbt und der Mensch darum als böse bezeichnet.“ (ebd. S 677).

Prinzipiell ist es m. E. richtig, dass transzendental der Bedingungen der Wissbarkeit eines „Hanges“, eines „Herzens“ untersucht werden, aber trotzdem scheint mir die gute Beschreibung der Affekte bei Kant bloß literarisch gelungen. Wiederum meine Frage: Wie können in einem einzigen reflexiven Akt der Willensbildung Gutes wie Böses in der einen Maxime zusammenhängen? Und warum soll der reflexive Akt bloß formal sein?

Meine Anfrage erläutert mit J. Noller: „Ob ein Wille gut oder böse ist, darüber entscheidet nach Kant nicht sein Inhalt, sondern seine Form. Das willentlich Böse besteht darin, dass die individuellen Neigungen dem Sittengesetz übergeordnet werden, wozu immer beide – Natur und Vernunft – im reflexiven Akt der Willensbildung zusammengeführt bzw. in eine Maxime »inkorporiert« werden müssen. Das willentlich Gute besteht dementsprechend darin, dass das Sittengesetz den Neigungen prinzipiell übergeordnet wird. Da der Grund des Bösen nicht in der Materie liegen kann, bleibt nur die Möglichkeit, dass der Grund der bösen Freiheitsentscheidung in einem rein formalen Verhältnis zu den der menschlichen Freiheit zur Entscheidung gegebenen Bestimmungsgründen des Willens besteht.“ 15

Ich denke hier in den Kategorien einer interpersonalen Wertlehre: Die Interpersonalität ist höchster sittlicher Zweck, der darauf abzielt, dass dem Subjekt „als Subjekt ein fremdes Subjekt als Objekt gegenüberstehe, mit dem es in interpersonalem Nexus steht“, sodass beide ein und dieselbe vernunftbejahende Vernunft“ bejahen und in diesem Sinne die sittliche Liebe als höchste Form der Interpersonalität verwirklichen 16

Entweder wird gemeinsame die vernunftbejahende Liebe erkannt und gewählt und ausgeführt, oder sie wird eben nicht erkannt und gewählt und getan. Eine bloß formale Freiheit ohne materialen Geltungsgrund führt zu keiner inhaltlich guten oder bösen formalen Maxime! Die Maxime alleine wäre widersprüchlich und leer.

Die von Kant trefflich beschriebenen Affekte und Triebe, die viele interpersonale Züge tragen, sind m. E.  nur literarisch dargestellt, eingerahmt in die Form einer tauglichen oder nicht tauglichen Allgemeinheit eines „moralisch“ genannten Gesetzes, und abgesetzt gegen die Negativfolie sinnlicher Neigungen und Bedürfnisse  – sie sind aber nicht auf einen transzendentalen Grund gemeinsamer Geltung hin erkannt und interpretiert, 

Meine Zweifel: Das ist  nur eine schematische Anwendung und Applikation von transzendentaler Freiheit auf eine brav-bürgerliche, liberale Rechtsordnung, innerhalb derer alles Mögliche an Unmoralität und egoistischen Liberalismus sich abspielen kann!?
Das angeblich Formale in der Selbstgesetzgebung der Freiheit und des Willens, formelhaft durch den Kategorischen Imperativ überprüfbar, ist selbst gar nicht so wertneutral und inhaltsfrei, sondern höchst präjudizierend, was die gemeinsame Sphäre des Zusammenlebens betrifft. Die Geltungsansprüche werden nicht auf einen höchsten Geltungsgrund zurückgeführt, ergo müssen sie innerhalb der formalen Gesetzgebung erst ausgestritten werden – und nie ist man hier am Ende und nie sicher, ob ein beigelegter Konflikt schon moralisch gut entschieden worden ist.

9) Die subjektive Maxime

als apriorische Willensbestimmung zum Guten oder Bösen wird jetzt unter dem Begriff des „Hanges“ zum Bösen objektiviert. Warum thematisiert Kant diesen Begriff? Liegt das am lateinischen Wort für „peccatum“, das jetzt der religiösen Sphäre entrissen und als bloße formale, falsche Selbstgesetzgebung gekennzeichnet werden soll? Die Frage der Sündenvergebung kommt explizit später vor – und wird als von außen kommende Sündenvergebung abgelehnt!17

„Folgende Erläuterung ist noch nöthig, um den Begriff von diesem Hange zu bestimmen. Aller Hang ist entweder physisch, d.i. er gehört zur Willkür des Menschen als Naturwesens; oder er ist moralisch, d.i. zur Willkür desselben des moralischen Wesens gehörig. — Im ersteren Sinne giebt es keinen Hang zum moralisch Bösen, denn dieses muß aus der Freiheit entspringen; und ein physischer Hang (der auf sinnliche Antriebe gegründet ist) zu irgend einem Gebrauche der Freiheit, es sei zum Guten oder Bösen, ist ein Widerspruch. Also kann ein Hang zum Bösen nur dem moralischen Vermögen der Willkür ankleben. Nun ist aber nichts sittlich- (d.i. zurechnungsfähig-) böse, als was unsere eigene That ist. (…)
Der Hang zum Bösen ist nun That in der ersten Bedeutung (peccatum originarium) und zugleich der formale Grund aller gesetzwidrigen That im zweiten Sinne genommen, welche der Materie nach demselben widerstreitet und Laster (peccatum derivativum) genannt wird; (…) (ebd. S 678.679)

10) Im nächsten Kapitel „Der Mensch ist von Natur böse

führt Kant wiederum den Hang oder die „Natur“ des Menschen (als Vernunftnatur) zurück auf den transzendentalen Standpunkt: Etwas ist böse nur in der apriorischen Maxime und dies kann universalisiert genommen werden für die ganze Gattung“ „Mensch“. Der Mensch (als Gattung) trägt als „Naturanlage“ die Möglichkeit des Bösen in sich. Es ist allgemeines „radicales“ Böse – weil es nur in der Zurechenbarkeit der Freiheit und des freien Willens eines einzelnen spezifiziert und ausgeführt gedacht werden kann.

Spielt Kant hier auf die Lehre von der Erbsünde an? Auf ein Pauluswort, dass in Adam alle gesündigt haben – Röm 5 . , aber diese zeitlose Sündenverstrickung ist nicht Gott gegenüber gemeint, sondern von Kant  als transzendental-freie Möglichkeit der verkehren Maxime gegen das allgemeine Moralgesetz?

„Der Satz: der Mensch ist böse, kann nach dem obigen nichts anders sagen wollen als: er ist sich des moralischen Gesetzes bewußt und hat doch die (gelegentliche) Abweichung von demselben in seine Maxime aufgenommen. Er ist von Natur böse, heißt soviel als: dieses gilt von ihm in seiner Gattung betrachtet; nicht als ob solche Qualität aus seinem Gattungsbegriffe (dem eines Menschen überhaupt) könne gefolgert werden (denn alsdann wäre sie nothwendig), sondern er kann nach dem, wie man ihn durch Erfahrung kennt, nicht anders beurtheilt werden, oder man kann es als subjectiv nothwendig in jedem, auch dem besten Menschen voraussetzen. Da dieser Hang nun selbst als moralisch böse, mithin nicht als Naturanlage, sondern als etwas, was dem Menschen zugerechnet werden kann, betrachtet werden, folglich in gesetzwidrigen Maximen der Willkür bestehen muß; diese aber der Freiheit wegen für sich als zufällig angesehen werden müssen, welches mit der Allgemeinheit dieses Bösen sich wiederum nicht zusammen reimen will, wenn nicht der subjective oberste Grund aller Maximen mit der Menschheit selbst, es sei wodurch es wolle, verwebt und darin gleichsam gewurzelt ist: so werden wir diesen einen natürlichen Hang zum Bösen, und da er doch immer selbstverschuldet sein muß, ihn selbst ein radicales, angebornes, (nichts destoweniger aber uns von uns selbst zugezogenes) Böse in der menschlichen Natur nennen können.“ (ebd. S 680, Hervorhebung)

Kant versteht es, nichts von den Schrecknissen und dem Bösen in der Welt zu verschweigen – siehe z. B. die Anmerkung zum Expansionswahn ganzer Staaten (alles sehr modern!) – und doch kommt die Erkennbarkeit oder Nicht-Erkennbarkeit des Bösen im Verweis auf eine doppelte Sichtweise, der Erscheinung oder der intelligiblen Ordnung nach, m. E. zu keiner begründeten Antwort.

Denn es ist eine unbegründete Disjunktion, bei Gelegenheit zwischen Erscheinung der Dinge und Dinge an sich zu wechseln, wie man es gerade braucht. M. E. muss genetisch abgeleitet werden können, wie die Unterscheidung Erscheinung/Ding an sich gesetzt wird, und schon gar nicht darf in praktischen Erkenntnisfragen und Wertfragen zwischen Erscheinung und intelligibler Erkenntnis unterschieden werden. Gutes wie Böses muss in der Erscheinung wie in der Intellektion gleichwertig verstanden werden können – eigentlich ganz auf der Linie der Frageabsicht Kants, den transzendentalen Grund von Gut und Böse wirklich zu erkennen, nicht bloß der äußeren Erscheinung nach.

Das „radical“ Böse soll nur das apriorisch bestimmbare Böse in der falschen/perversen Maxime sein. Es ist immer selbst gesetzt und verschuldet und von außen her, der Erscheinung nach, nicht gültig erkennbar.

Eine total verkehrte, mithin teuflische Maxime wäre aber transzendentallogisch nicht denkbar, weil die Vernunft in ihrer Triebfeder sich dann aufheben täte.

„Der Grund dieses Bösen kann nun 1) nicht, wie man ihn gemeiniglich anzugeben pflegt, in der Sinnlichkeit des Menschen und den daraus entspringenden natürlichen Neigungen gesetzt werden. (…)

auch 2) nicht in einer Verderbniß der moralisch-gesetzgebenden Vernunft gesetzt werden (…)

(Eine) vom moralischen Gesetze aber freisprechende, gleichsam boshafte Vernunft (ein schlechthin böser Wille) enthält dagegen zu viel, weil dadurch der Widerstreit gegen das Gesetz selbst zur Triebfeder (denn ohne alle Triebfeder kann die Willkür nicht bestimmt werden) erhoben und so das Subject zu einem teuflischen Wesen gemacht werden würde. — Keines von beiden (sc. Sinnlichkeit oder Teuflisches) aber ist auf den Menschen anwendbar.“ (ebd. S 683, Hervorhebung)

Kant schwenkt dann wieder ein auf die Suche nach dem apriorischen Begriff: Es muss einen Vernunftbegriff des Bösen geben: „(…), sofern es nach Gesetzen der Freiheit (der Verbindlichkeit und Zurechnungsfähigkeit) möglich ist, a priori (…). Folgendes ist die Entwickelung des Begriffs. (…)“ (ebd. S 684)

Durch die Verdrehung und Verkehrung und falsche Über- und Unterordnung der Maximen kommt es zum Bösen:

„ Also muß der Unterschied, ob der Mensch gut oder böse sei, nicht in dem Unterschiede der Triebfedern, die er in seine Maxime aufnimmt (nicht in dieser ihrer Materie), sondern in der Unterordnung (der Form derselben) liegen: welche von beiden er zur Bedingung der andern macht. Folglich ist der Mensch (auch der Beste) nur dadurch böse, daß er die sittliche Ordnung der Triebfedern in der Aufnehmung derselben in seine Maximen umkehrt: das moralische Gesetz zwar neben dem der Selbstliebe in dieselbe aufnimmt, da er aber inne wird, daß eines neben dem andern nicht bestehen kann, sondern eines dem andern als seiner obersten Bedingung untergeordnet werden müsse, er die Triebfeder der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes macht, da das letztere vielmehr als die oberste Bedingung der Befriedigung der ersteren in die allgemeine Maxime der Willkür als alleinige Triebfeder aufgenommen werden sollte.“ (ebd. S 685, Hervorhebung)

Man muss stets unterscheiden zwischen den Triebfedern der Sinnlichkeit und Glückseligkeit und der Triebfeder des moralischen Gesetzes:

„Bei dieser Umkehrung der Triebfedern durch seine Maxime wider die sittliche Ordnung können die Handlungen dennoch wohl so gesetzmäßig ausfallen, als ob sie aus ächten Grundsätzen entsprungen wären: wenn die Vernunft die Einheit der Maximen überhaupt, welche dem moralischen Gesetze eigen ist, blos dazu braucht, um in die Triebfedern der Neigung unter dem Namen Glückseligkeit Einheit der Maximen, die ihnen sonst nicht zukommen kann, hinein zu bringen. (…) da dann der empirische Charakter gut, der intelligibele aber immer noch böse ist. (ebd. S 685)

Ein bloßes Fehlen (ein Mangel) des Guten ist ein „Laster“ (ebd.) als Denkungsart der „Abwesenheit“ des Guten, und ist in gewissem Sinne selbst schon eine falsche, irrige Bevorzugung des bösen Prinzips: „Angemessenheit der Gesinnung zum Gesetze der Pflicht (für Tugend) auszulegen (da hiebei auf die Triebfeder in der Maxime gar nicht, sondern nur auf die Befolgung des Gesetzes dem Buchstaben nach gesehen wird), selbst schon eine radicale Verkehrtheit im menschlichen Herzen zu nennen.“ (ebd. S 686)

Er kommt in weiterer Folge zu den Gefühlen und faulen Ausreden von „Schuld“ und „Gewissensruhe“, die im Falle bloßer Gebrechlichkeit und Unlauterbarkeit und charakterlicher Tücke (siehe oben am Beginn des „Hanges“ zu a – c, ebd. S 677) den transzendentale Grund des Bösen verdecken: „(…) Diese Unredlichkeit, sich selbst blauen Dunst vorzumachen, welche die Gründung ächter moralischer Gesinnung in uns abhält, erweitert sich denn auch äußerlich zur Falschheit und Täuschung anderer, (…)“. (ebd. S 687) und verhindert geradezu die Entdeckung des wahren Guten: „(…) der, so lange wir ihn nicht herausbringen, den Keim des Guten hindert, sich, wie er sonst wohl thun würde, zu entwickeln.“(ebd.)

11) Im Kapitel „IV Vom Ursprung des Bösen in der menschlichen Natur“

will Kant die transzendentale Unterscheidung zwischen dem Bösen dem Begriffe und der Erscheinung nach weiter herausarbeiten, d. h. entweder „als Vernunft- oder als Zeitursprung“ (ebd. S 688)

Wenn das Böse einen Vernunftursprung haben soll, so ist er „zufällig“, weil in dem Gebrauch der Freiheit liegend (ebd. S 689)

Der Begriff einer zeitlichen Vererbung oder „Anerbung von den ersten Eltern“ (ebd.) ist nicht möglich.

„Eine jede böse Handlung muß, wenn man den Vernunftursprung derselben sucht, so betrachtet werden, als ob der Mensch unmittelbar aus dem Stande der Unschuld in sie gerathen wäre. Denn: wie auch sein voriges Verhalten gewesen sein mag, und welcherlei auch die auf ihn einfließenden Naturursachen sein mögen, imgleichen ob sie in oder außer ihm anzutreffen sind: so ist seine Handlung doch frei und durch keine dieser Ursachen bestimmt, kann also und muß immer als ein ursprünglicher Gebrauch seiner Willkür beurtheilt werden.„ (ebd. S 690)

Es kommt immer auf die gegenständlich-freie Handlung an, die als „hinreichender Grund“ (ebd. S 690) der Zurechnung des Guten oder Bösen gesehen werden kann – nicht auf die zeitliche Erscheinung. Der Akt der Prinzipierung von Gut oder Böse ist zeitlos, ist Vernunftursprung.

„Wenn aber Jemand bis zu einer unmittelbar bevorstehenden freien Handlung auch noch so böse gewesen wäre (bis zur Gewohnheit als anderer Natur): so ist es nicht allein seine Pflicht gewesen, besser zu sein; sondern es ist jetzt noch seine Pflicht, sich zu bessern: er muß es also auch können und ist, wenn er es nicht thut, der Zurechnung in dem Augenblicke der Handlung eben so fähig und unterworfen, als ob er, mit der natürlichen Anlage zum Guten (die von der Freiheit unzertrennlich ist) begabt, aus dem Stande der Unschuld zum Bösen übergeschritten wäre. — Wir können also nicht nach dem Zeitursprunge, sondern müssen bloß nach dem Vernunftursprunge dieser That fragen, um darnach den Hang, d.i. den subjectiven allgemeinen Grund der Aufnehmung einer Übertretung in unsere Maxime, wenn ein solcher ist, zu bestimmen und wo möglich zu erklären.„ (ebd. S 691)

Die Hl. Schrift in Gen 3 meint den Anfang des Sündenfalles genau in diesem Sinne der Vernunft, dass der Mensch sich frei nach anderen Maximen als den moralischen (nicht göttlichen) Gebotenen („1. Mose II, | 16.17“) ausrichten kann, bzw. in die Erzählung gekleidet, ausgerichtet hat.

„(…) sah sich der Mensch doch noch nach andern Triebfedern um (Gen 3, 6), die nur bedingterweise (nämlich so fern dem Gesetze dadurch nicht Eintrag geschieht) gut sein können, und machte es sich, wenn man die Handlung als mit Bewußtsein aus Freiheit entspringend denkt, zur Maxime, dem Gesetze der Pflicht nicht aus Pflicht, sondern auch allenfalls aus Rücksicht auf andere Absichten zu folgen. Mithin fing er damit an, die Strenge des Gebots, welches den Einfluß jeder andern Triebfeder ausschließt, zu bezweifeln, hernach den Gehorsam gegen dasselbe zu einem bloß (unter dem Princip der Selbstliebe) bedingten eines Mittels herab zu vernünfteln,*[2] woraus dann endlich das Übergewicht der sinnlichen Antriebe über die Triebfeder aus dem Gesetz, in die Maxime zu handeln, aufgenommen und so gesündigt ward ( Gen 3, 6).“ (ebd. S 692)

Meine Sicht: Die ganze bibeltheologische Sicht von Gen 2 (Erschaffung des Menschen) und Gen 3 (Sündenfall) kann und muss in seiner ganzen Kontextualisierung viel tiefgründiger verstanden und ausgelegt werden. Es geht nicht um eine moralische Verfehlung im engeren Sinne, auch nicht um ein apriorisches Missverhältnis vorgezogener oder nachgereihter Maximen, ob die Triebfeder der Sinnlichkeit oder die Triebfeder des moralischen Gesetzes richtig priorisiert worden ist, vielmehr wird ja in Gen 2 und Gen 3 die sinnliche wie intelligible Seite der menschlichen Natur in ihrer ganzen, umfassenden Befindlichkeit angesprochen. Der Mensch als Mann und Frau ist im Garten Eden dazu bestimmt und dazu begnadet, auf Gottes Weisheit zu hören und vernunftgemäß den Garten zu bebauen. Der Mensch, als Gattung gesehen, täte aber gut daran, seine Kompetenzen nicht zu überziehen und sich nicht allmächtig zu fühlen und sich unabhängig von Gottes Weisheit behaupten zu wollen. Der „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ warnt den Menschen vor seiner eigenen Überheblichkeit und Hinfälligkeit, Verlorenheit und Vergänglichkeit, vor seinem Alles-Können und Alles-Wollen. Der Baum der Erkenntnis ist nicht das moralische Gesetz eines allgemeinen Pflichtbewusstseins, sondern existentielle, anthropologische Beschreibung des ganzen prekären Zustandes der menschlichen Natur.

Gen 3 erzählt dann mythologisch und doch sehr rational, dass der Baum der „Erkenntnis von Gut und Böse“ unterschieden oder doch gleichzeitig als „Baum des Lebens“ in der Mitte des Gartens verstanden werden kann, weil es ein Akt der Freiheit ist, wozu sich der Mensch entscheiden will und was er glaubt: An Gottes Liebe und guter Absicht, an den „Baum des Lebens“, oder doch an Gottes Verbote und Einschränkungen? Ein böser Geist verführt ihn, und er beginnt zu zweifeln. Hilflos rezitiert die Frau noch die guten Gebote Gottes, aber die Angst hat sie und beide (inklusiv Adam) schon ergriffen. Der Baum der Erkenntnis verschwimmt zur Begehrlichkeit und zum tückischen Gesetz. Er hat sich verwandelt zu einem Misstrauen gegenüber Gottes Güte und Wohlwollen – und alles ist verloren durch Missverstand, Angst, Unkenntnis, nicht durch kindische Übertretung eines moralischen Gebotes seitens eines missgünstigen Gottes.

Kant kennt in der Anmerkung (ebd. S 692) auch den „Lügner von Anfang an“, aber das ist für ihn nur ein Symbol, das personifizierte Böse, das seinen Ursprung im falschen Gebrauch der Freiheit hat.

Sein Resümee des Bezuges zur Hl. Schrift: Eine zeitliche Erklärung des Hanges zum Bösen zurück bis zum zeitlichen Ursprung des Sündenfalles im Paradies vorgestellt, das erreicht nicht den Vernunftursprung des Guten wie Bösen: „(..) Wir müssen aber von einer moralischen Beschaffenheit, die uns soll zugerechnet werden, keinen Zeitursprung suchen; so unvermeidlich dieses auch ist, wenn wir ihr zufälliges Dasein erklären wollen (daher ihn auch die Schrift dieser unserer Schwäche gemäß so vorstellig gemacht haben mag).“ (ebd. S 693)

Die Erzählung der Hl. Schrift ist allegorische, mythologische Umschreibung der transzendental-kritisch anzustellenden Selbsterforschung, woher das Böse kommt: Aus dem eigenen Herzen, aus der eigenen, apriorischen Maxime und ihrer Absicht, mithin aus dem Gebrauch der Freiheit.

„Diese Unbegreiflichkeit zusammt der näheren Bestimmung der Bösartigkeit unserer Gattung drückt die Schrift in der Geschichtserzählung*dadurch aus, daß sie das Böse zwar im Weltanfange, doch noch nicht im Menschen, sondern in einem | Geiste von ursprünglich erhabnerer Bestimmung voranschickt: wodurch also der erste Anfang alles Bösen überhaupt als für uns unbegreiflich (denn woher bei jenem Geiste das Böse?), der Mensch aber nur als durch Verführung ins Böse gefallen, also nicht von Grund aus (selbst der ersten Anlage zum Guten nach) verderbt, sondern als noch einer Besserung fähig im Gegensatze mit einem verführenden Geiste, d.i. einem solchen Wesen, dem die Versuchung des Fleisches nicht zur Milderung seiner Schuld angerechnet werden kann, vorgestellt und so dem ersteren, der bei einem verderbten Herzen doch immer noch einen guten Willen hat, Hoffnung einer Wiederkehr zu dem Guten, von dem er abgewichen ist, übrig gelassen wird.“ (ebd. S 693)

12) Nach der Beschreibung eines naturalen Hanges zum Bösen

und der Vernunftnatur des Menschen, wird von Kant in einer „Allgemeine Anmerkung“ das Verhältnis formaler Prinzipien (Maximen) nochmals dargestellt, und je nach Aufnahme guter oder böser Maxime ist die Natur als gut oder böse einzustufen.

Die zur Erreichung des höchsten Gutes notwendige Würdigkeit und Tugendhaftigkeit, die selbst erworben sein muss, darf nicht fehlen – wie oft ausgeführt in der KpV ab dem 2. Hauptstück in der „Bestimmung des höchsten Gutes“ (KpV, Bd. VII, ebd. S 238 ff).

Ist daraus ein anti-religiöser oder anti-kirchlicher Affekt herauszuhören, wenn einerseits in der christlichen Überlieferung von einer bedingungslosen Vergebung und bedingungsloser Rettung gesprochen wird, andererseits aber die verheißene „Glückseligkeit“ in Kants Terminologie nicht ohne Tugend und Würdigkeit zu erreichen ist? Eine protestantische Variante göttlicher Erwählung? 

„Was der Mensch im moralischen Sinne ist oder werden soll, gut oder böse, dazu muß er sich selbst machen oder gemacht haben. Beides muß eine Wirkung seiner freien Willkür sein; denn sonst könnte es ihm nicht zugerechnet werden, folglich er weder moralisch gut noch böse sein. Wenn es heißt: er ist gut geschaffen, so kann das nichts mehr bedeuten, als: er ist zum Guten erschaffen, und die ursprüngliche Anlage im Menschen ist gut; der Mensch ist es selber dadurch noch nicht, sondern nachdem er die Triebfedern, die diese Anlage enthält, in seine Maxime aufnimmt oder nicht (welches seiner freien Wahl gänzlich überlassen sein muß), macht er, daß er gut oder böse wird. Gesetzt, zum Gut- oder Besserwerden sei noch eine übernatürliche Mitwirkung nöthig, so mag diese nur in der Verminderung der Hindernisse bestehen, oder auch positiver Beistand sein, der Mensch muß sich doch vorher würdig machen, sie zu empfangen, und diese Beihülfe annehmen (welches nichts Geringes ist), d.i. die positive Kraftvermehrung in seine Maxime aufnehmen, wodurch es allein möglich wird, daß ihm das Gute zugerechnet und er für einen guten Menschen erkannt werde.“ (ebd. S 694)

Nach der Deduktion (der Idee nach) eines transzendental erkennbaren Bösen in der menschlichen Natur (durch eine falsche, böswillige Maxime) kommt Kant kurz auf den „Keim des Guten“ zu sprechen, der ebenfalls in der menschlichen Natur anzutreffen sein muss. Das ist deutlich erkennbar und erreichbar, „gesichert“  – in unendlicher Zeit, deshalb auch das Postulat der Unsterblichkeit in der KpV) durch das moralische Gesetz (vgl. ebd. S 696).

In einer nochmaligen Anmerkung zur „Allgemeinen Anmerkung“ geht Kant auf den Begriff der „Selbstliebe“ ein, die unmoralisch sein kann oder auch moralisch, wenn sie „Vernunftliebe“ ist und dem Prinzip der „Glückseligkeit“ in dem Sinne folgt, dass auf die Würdigkeit Bedacht genommen wird. (vgl. ebd. S 696. u. 697)

Es muss die Möglichkeit und Kraft der „Herstellung der „Reinigkeit“ des moralischen Gesetzes geben (vgl. ebd. S 696) „(…) als obersten Grundes aller unserer Maximen, nach welcher dasselbe nicht bloß mit andern Triebfedern verbunden, oder wohl gar diesen (den Neigungen) als Bedingungen untergeordnet, sondern in seiner ganzen Reinigkeit als für sich zureichende Triebfeder der Bestimmung der Willkür in dieselbe aufgenommen werden soll.“ (ebd. S 696)

Kant bekräftigt sozusagen nochmals, was „gut“ heißt oder das ursprüngliche Gute ist: „Das ursprünglich Gute ist die Heiligkeit der Maximen in Befolgung seiner Pflicht, mithin blos aus Pflicht, wodurch der Mensch, der diese Reinigkeit in seine Maxime aufnimmt, obzwar darum noch nicht selbst heilig (denn zwischen der Maxime und der That ist noch ein großer Zwischenraum), dennoch auf dem Wege | dazu ist, sich ihr im unendlichen Fortschritt zu nähern.“ (ebd. S 696, Hervorhebung von mir)

13) Er kommt nochmals auf die Beschreibung des Tugendbegriffes zu sprechen

als Folge der Gewöhnung oder als Folge beständigen Trainings und allmähliger Reformen“ (vgl. ebd. 697), aber, so jetzt die Bedenken Kants, in „kontinuierlichem Wirken und Werden ein guter Mensch zu werden“ (ebd. S 698) ist als „verkehrte Denkungsart anzusehen.“ (ebd. S 699). Es kommt zu einem mir an dieser Stelle seltsam erscheinenden Begriff –  zum Begriff der „Revolution“ (ebd. S 698). Sie wird den allmählichen Reformen entgegensetzt und  sogar vorgezogen. Der kompromisslose, revolutionäre Annahme eines höchsten Bestimmungsgrundes aller Maximen entscheidet über die Moralität.

Dazu interpretiert Kant wiederum Worte der Hl. Schrift in seinem Sinne. Die Stelle Joh 3, 5, in der eindeutig vom Heiligen Geist die Rede ist, wird umgedeutet zu einer durch „Revolution“ zu erreichenden Gesinnungsethik und revolutionären Maximenumkehr. Die Wiedergeburt aus dem Heiligen Geist entfällt.

„Daß aber jemand nicht bloß ein gesetzlich, sondern ein moralisch guter (Gott wohlgefälliger) Mensch, d.i. tugendhaft nach dem intelligiblen Charakter (virtus Noumenon), werde, welcher, wenn er etwas als Pflicht erkennt, keiner andern Triebfeder weiter bedarf, als dieser Vorstellung der Pflicht selbst: das kann nicht durch allmählige Reform, so lange die Grundlage der Maximen unlauter bleibt, sondern muß durch eine Revolution in der Gesinnung im Menschen (einen Übergang zur Maxime der Heiligkeit derselben) bewirkt werden; und er kann ein neuer Mensch nur durch eine Art von Wiedergeburt gleich als durch eine neue Schöpfung (Ev. Joh. III, 5; verglichen mit 1. Mose I, 2) und Änderung des Herzens werden.“ (ebd. S 698; Hervorhebung von mir)

Es stellt sich für mich die aus der christlichen Überlieferung kommende Frage: Woher  die Kraft zur Erneuerung im Geiste, die „Revolution“ der Gesinnungsart? Man denke an die frühe Diskussion dieser Fragen, zuletzt bei Augustinus und Pelagius. Ohne göttliche Hilfe und Gnade ist die Umkehr nicht möglich!

Kant kennt sicherlich diese Tradition. Warum aber greift er zu dem Begriff der „Revolution“? Das mag an den historischen Zeitumständen liegen, und sachlich in der Positionierung der transzendentale Handlungs- und Denkungsart selbst. Denn in zeitlichen Veränderungsschritten (der Erscheinung nach) ist eine Änderung der Denkungsart nicht vorstellbar, weil dann der Vernunftakt selbst zeitlich würde.

Kant schwächt dann m. E. seine Position etwas ab: In einer zeitlich-kontinuierlichen Veränderung könnte ein intelligibler und revolutionärer Sinn stecken, insofern aus göttlicher Perspektive der ganze kontinuierliche Zusammenhang der Veränderung als ein Akt angesehen werden kann, als eine zeitlose Revolution. Prinzipiell ist aber der Vernunftakt zeitlos-revolutionär.

„Wenn der Mensch aber im Grunde seiner Maximen verderbt ist, wie ist es möglich, daß er durch eigene Kräfte diese Revolution zu Stande bringe und von selbst ein guter Mensch werde? Und doch gebietet die Pflicht es zu sein, sie gebietet uns aber nichts, als was uns thunlich ist. Dieses ist nicht anders zu vereinigen, als daß die Revolution für die Denkungsart, die allmählige Reform aber für die Sinnesart (welche jener Hindernisse entgegenstellt) nothwendig und daher auch dem Menschen möglich sein muß.
Das ist: wenn er den obersten Grund seiner Maximen, wodurch er ein böser Mensch war, durch eine einzige unwandelbare | Entschließung umkehrt (und hiemit einen neuen Menschen anzieht): so ist er sofern dem Princip und der Denkungsart nach ein fürs Gute empfängliches Subject; aber nur in continuirlichem Wirken und Werden ein guter Mensch: d.i. er kann hoffen, daß er bei einer solchen Reinigkeit des Princips, welches er sich zur obersten Maxime seiner Willkür genommen hat, und der Festigkeit desselben sich auf dem guten (obwohl schmalen) Wege eines beständigen Fortschreitens vom Schlechten zum Bessern befinde. Dies ist für denjenigen, der den intelligibelen Grund des Herzens (aller Maximen der Willkür) durchschauet, für den also diese Unendlichkeit des Fortschritts Einheit ist, d.i. für Gott, so viel, als wirklich ein guter (ihm gefälliger) Mensch sein; und in sofern kann diese Veränderung als Revolution betrachtet werden; für die Beurtheilung der Menschen aber, die sich und die Stärke ihrer Maximen nur nach der Oberhand, die sie über Sinnlichkeit in der Zeit gewinnen, schätzen können, ist sie nur als ein immer fortdauerndes Streben zum Bessern, mithin als allmählige Reform des Hanges zum Bösen als verkehrter Denkungsart anzusehen.“ (ebd. S 698. 699, Hervorhebungen von mir)

Der Mensch, wenn er in einer „einzigen unwandelbaren Entschließung umgekehrt“, kommt der intelligiblen Ordnung nach zu einem moralisch, reinen Prinzip; kommt die Zeit hinzu, im „kontinuierlichen Wirken und Werden“, so ist die Reinheit des Prinzips schon aufgegeben, man kann „nur hoffen, (…) dass man sich vom Schlechten zum Besseren befinde.“

Meine Anfragen hier: Warum ist das Kant so ein Problem und einer Auflösung wert, wie zeitliche und kontinuierliche Veränderung und radikale Gesinnungsänderung zusammengehen? Meine Vermutung: die religiöse Lehre und Spiritualität der christlichen Überlieferung geht eher von einer beständigen Verbesserung und immerwährenden Umkehr aus, von einer durch kirchliche Hilfsmittel unterstützten Bekehrung des Herzens in andauernder Aszese und Konsequenz.  Der Begriff „Revolution“ kommt aber aus einem ganz anderen, säkularen Bereich. Macht sich hier ein politischer Wille sichtbar oder schlägt hier der lutherische Glaube durch, dass nur durch einen revolutionären Akt des Glaubens der Mensch gerettet werden könne, nicht durch kirchliche Vermittlung?

Er kommt m. E. zu seltsamen Formulierungen, die in säkularer Sprache das ausdrücken, was in religiöser Sprache „Sündenvergebung“ heißt?

„(…) der den intelligibelen Grund des Herzens (aller Maximen der Willkür) durchschauet, für den also diese Unendlichkeit des Fortschritts Einheit ist, d.i. für Gott, so viel, als wirklich ein guter (ihm gefälliger) Mensch sein; und in sofern kann diese Veränderung als Revolution betrachtet werden“. (ebd. S 699)

Ich könnte aber psychologische nochmals hinterfragen und den Begriff der „Revolution“ doch im christlichen Sinne verstehen, denn zehrt hier Kant noch von der christlichen Tradition einer geschenkten, durch Annahme des Glaubens plötzlichen Wiedergeburt und plötzlichen Bekehrung? Er will es aber nicht so ausdrücken und spricht deshalb von einem Akt der Freiheit und einer modalen Denkungs- und Handlungsart der Selbstbesserung und „Revolution“, aber so ähnlich hat auch Paulus gesprochen. 18

14) In der begrifflich-logischen Denkkonstruktion des Wollens

eines allgemeinen Gesetzes, das unter sinnlichen Bedingungen zu einem Imperativ des Sollens führt – genauere Ableitungen wäre in der GMS und in der KpV nachzulesen – 19 liegt jetzt doch, gegen alle formalen Beteuerungen des moralischen Gesetzes, ein innerer und intelligibler Gehalt, der Begriff der „Achtung“. Man könnte in diesem Zusammenhang zuerst an die Achtung anderer Personen denken und an die spezifische Anwendung der Achtung in einem interpersonalen Konnex. Aber weit gefehlt, zuerst kommt die Achtung vor dem Gesetz, die als Erziehungsaufgabe aufgetragen ist:20

„Hieraus folgt, daß die moralische Bildung des Menschen nicht von der Besserung der Sitten, sondern von der Umwandlung der Denkungsart und von Gründung eines Charakters anfangen müsse; ob man zwar gewöhnlicherweise anders verfährt und wider Laster einzeln kämpft, die allgemeine Wurzel derselben aber unberührt läßt. Nun ist selbst der eingeschränkteste Mensch des Eindrucks einer desto größeren Achtung für eine pflichtmäßige Handlung fähig, je mehr er ihr in Gedanken andere Triebfedern, die durch die Selbstliebe auf die Maxime der Handlung Einfluß haben könnten, entzieht;“ (ebd. S 699, Hervorhebung von mir).

Gerade bei diesem Begriff würde ich sehr beanstanden, dass seine interpersonale und emotionale Herkunft ignoriert wird. Ich habe schon gesagt, dass bei Kant eine explizite Interpersonallehre fehlt in dem Sinne, dass konstitutiv die andere Person und der göttliche Aufruf zur Identität und zum Wesen der Freiheit eines Individuums gehört. Die natürlich vorkommende Zwecklehre, das „Reich der Zwecke“, der „Kategorische Imperativ“, sie enthalten eine Selbstverpflichtung des Wollens, sozusagen eine Interpersonallehre incognito, aber dezidiert beim Begriff der Achtung nicht zuerst von der anderen Person zu sprechen, sondern vom formalisierten Gesetz, das ist bereits abstrakt gefolgert, nur abstrakt. 21

Beispiele von guten Menschen mögen nützlich (vgl. ebd.) sein, aber eine Tugendlehre ist nicht die „rechte Stimmung“.

„(…) so daß Pflicht bloß für sich selbst in ihren Herzen ein merkliches Gewicht zu bekommen anhebt. Allein tugendhafte Handlungen, so viel Aufopferung sie auch gekostet haben mögen, bewundern zu lehren, ist noch nicht die rechte Stimmung, die das Gemüth des Lehrlings fürs moralisch Gute erhalten soll. Denn so tugendhaft Jemand auch sei, so ist doch alles, was er immer Gutes | VI49 thun kann, bloß Pflicht; seine Pflicht aber thun, ist nichts mehr, als das thun, was in der gewöhnlichen sittlichen Ordnung ist, mithin nicht bewundert zu werden verdient. Vielmehr ist diese Bewunderung eine Abstimmung unsers Gefühls für Pflicht, gleich als ob es etwas Außerordentliches und Verdienstliches wäre, ihr Gehorsam zu leisten.“ (ebd. S 699. 700)

Es ist hingegen „seelenerhebend“ (ebd. S 700) die reine, moralische Anlage in uns überhaupt zu erkennen;

„und selbst | die Unbegreiflichkeit dieser eine göttliche Abkunft verkündigenden Anlage muß auf das Gemüth bis zur Begeisterung wirken und es zu den Aufopferungen stärken, welche ihm die Achtung für seine Pflicht nur auferlegen mag. Dieses Gefühl der Erhabenheit seiner moralischen Bestimmung öfter rege zu machen, ist als Mittel der Erweckung sittlicher Gesinnungen vorzüglich anzupreisen, weil es dem angebornen Hange zur Verkehrung der Triebfedern in den Maximen unserer Willkür gerade entgegen wirkt, um in der unbedingten Achtung fürs Gesetz, als der höchsten Bedingung aller zu nehmenden Maximen, die ursprüngliche sittliche Ordnung unter den Triebfedern und hiemit die Anlage zum Guten im menschlichen Herzen in ihrer Reinigkeit wieder herzustellen. (ebd. S 700 – 702)

(Verwandt mit diesen pädagogischen Regeln finde ich das Abschlusskapitel in der KpV, Methodenlehre, ebd. S 287ff).

15) Kant spricht nochmals die Unterscheidung intelligible Welt/Erscheinungswelt an,

weil die Rede einer „angeborenen Verderbtheit“ (ebd. S 702) der Erscheinung nach nur zu einer „moralischen Dogmatik“ führte, aber zu keiner, wie von Kant beabsichtigt, transzendentalen (intelligiblen) Erklärung.

Am Ende bleibt für Kant eine gewisse pädagogisch-paränetische Rede: Ähnlich zu den Schlusskapiteln der KpV von der „praktischen Bestimmung des Menschen (und der) weislich angemessene Proportion seiner Erkenntnisvermögen“ (KpV, ebd. S 281ff) geht es um eine „Ascetik“.

Man muss dabei mit dem Gegensatz und dem Widerstand beginnen.

„Denn wenn das moralische Gesetz gebietet: wir sollen jetzt bessere Menschen sein, so folgt unumgänglich: wir müssen es auch können. Der Satz vom angebornen Bösen ist in der moralischen Dogmatik von gar keinem Gebrauch: denn die Vorschriften derselben enthalten eben dieselben Pflichten und bleiben auch in derselben Kraft, ob ein angeborner Hang zur Übertretung in uns sei, oder nicht. In der moralischen Ascetik aber will dieser Satz mehr, | aber doch nichts mehr sagen als: wir können in der sittlichen Ausbildung der anerschaffenen moralischen Anlage zum Guten nicht von einer uns natürlichen Unschuld den Anfang machen, sondern müssen von der Voraussetzung einer Bösartigkeit der Willkür in Annehmung ihrer Maximen der ursprünglichen sittlichen Anlage zuwider anheben und, weil der Hang dazu unvertilgbar ist, mit der unablässigen Gegenwirkung gegen denselben.„ (ebd. S 702)

Der Gewinn ist: Der Begriff der Freiheit und der Zurechenbarkeit wird durch die moralische Maxime und durch den Begriff der „Pflicht“ gerettet:

„(…) weil die Tiefe des Herzens (der subjective erste Grund seiner Maximen) ihm selbst unerforschlich ist; aber auf den Weg, der dahin führt, und der ihm von einer im Grunde gebesserten Gesinnung angewiesen wird, muß er hoffen können durch eigene Kraftanwendung zu gelangen: weil er ein guter Mensch werden soll, aber nur nach demjenigen, was ihm als von ihm selbst gethan zugerechnet werden kann, als moralisch-gut zu beurtheilen ist. (ebd. S 703)

16) Dieses Beharren auf die eigene Erkenntnis des Guten,

diese „Zumuthung der Selbstbesserung“ (ebd. S 703), und des vorgeschriebenen Solls einer moralischen Pflichterfüllung, das gibt ihm die Gelegenheit, den Begriff der Religion in zwei Kategorien einzuteilen: In die Religionen der Gunsterwerbung (des bloßen Kultus) und die moralische, d. i. die Religion des guten Lebenswandels (ebd. S 703).

Er kommt auf die Konstruktion des Postulates Gottes zu sprechen – in der Art der KpV (ebd., Bd. VII, S 254ff) – sodass von einer Art moralischen Religion gesprochen werden muss, die allein zulässig ist. Die Garantie der Erreichung der Glückseligkeit darf erhofft werden, aber nur unter der Bedingung der Würdigkeit.

„Nach der moralischen Religion aber (dergleichen unter allen | öffentlichen, die es je gegeben hat, allein die christliche ist) ist es ein Grundsatz: daß ein jeder so viel, als in seinen Kräften ist, thun müsse, um ein besserer Mensch zu werden; und nur alsdann, wenn er sein angebornes Pfund nicht vergraben (Lucä XIX, 12-16), wenn er die ursprüngliche Anlage zum Guten benutzt hat, um ein besserer Mensch zu werden, er hoffen könne, was nicht in seinem Vermögen ist, werde durch höhere Mitwirkung ergänzt werden.„ (ebd. S 703)

Dieser sozusagen moralische Religionsbegriff veranlasst ihn schließlich zu mehreren, religionskritischen Anmerkungen: Er ist gegen die „1) Gnadenwirkungen, 2) Wundern, 3) Geheimnissen, 4) Gnadenmitteln.“ (ebd. S 704), wobei er die „Gnadenmittel“ bereits zum Thema des „Ersten Stücks“ der RGV gezählt haben will, d. h. sie sind durch das moralische Gesetz überflüssig geworden.

Im Vermögen der Freiheit und im freien Willen, situiert im reinen Gewissen, geschieht eine beständige Heiligkeit und freie Ursächlichkeit zum Guten – ins Unendliche hinaus, deshalb auch die Hoffnung auf eine unsterbliche Seele – und es bedarf keiner Gnadenmittel. Es wäre praktisch ein Widerspruch, dem moralischen Tun, das auf die unbedingte Freiheit rekurriert, eine zusätzliche Gnade als Bedingung vorangehen zu lassen.

„Denn als Benutzung würde sie eine Regel von dem voraussetzen, was wir (in gewisser Absicht) Gutes selbst zu thun haben, um etwas zu erlangen; eine Gnadenwirkung aber zu erwarten bedeutet gerade das Gegentheil, nämlich daß das Gute (das Moralische) nicht unsere, sondern die That eines andern Wesens sein werde, wir also sie durch Nichtsthun allein erwerben können, welches sich widerspricht. Wir können sie also als etwas Unbegreifliches einräumen, aber sie weder zum theoretischen noch praktischen Gebrauch in unsere Maxime aufnehmen.“ (ebd. S 705)

© Franz Strasser, 10. 8. 2023

Verwendete Sekundärliteratur:

Kommentierte Ausgabe der RGV, hrsg. v. Bettina Stangneth, Einleitung und Kommentaranhang, Hamburg 2003.

Jörg Noller, Die Bestimmung des Willens. Zum Problem individueller Freiheit im Ausgang von Kant, München 2015. Dort besonders Abschnitt III, Freiheit der Vernunft. Kants Grundlegung menschlicher Freiheit, S 105 -175.

Jörg Noller, Theorien des Bösen zur Einführung, Hamburg 2017

Friedo Ricken, Religionsphilosophie, Stuttgart 2003, 193-232.

Ders., Das Böse aus philosophischer Sicht. In: Das Böse und die Sprachlosigkeit der Theologie. Hrsg. v. Klaus Berger, Ulrich Niemann, Marion Wagner u. a., Regensburg 2007, 34- 42.

Reinhard Lauth, Ethik in ihren Grundlagen aus Prinzipien entfaltet. Stuttgart, Berlin, Köln 1969.

Albert Mues, Manuskript Christologie. Jahr?

Bernward Grünewald, Praktische Vernunft, Modalität und transzendentale Einheit. Das Problem einer transzendentalen Deduktion des Sittengesetzes. In: KANT. Analysen – Probleme – Kritik, hrsg. v. H. Oberer und G. Seel (Hans Wagner gewidmet), Würzburg 1988, S. 127-167.

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1 Ich zitiere nach der Ausgabe W. Weischedl, Werkausgabe, Bd. VIII, 1978 2 . (abk.= RGV).

2 In einer Anmerkung definiert er nochmals „Maxime“: „ Maxime ist das subjektive Prinzip des Wollens; das objektive Prinzip (d.i. dasjenige, was allen vernünftigen Wesen auch subjektiv zum praktischen Prinzip dienen würde, wenn Vernunft volle Gewalt über das Begehrungsvermögen hätte) ist das praktische Gesetz. (GMS, ebd. S 27)

3 Vgl. dazu Bernward Grünewald, Praktische Vernunft, Modalität und transzendentale Einheit. Das Problem einer transzendentalen Deduktion des Sittengesetzes. In: KANT. Analysen – Probleme – Kritik, hrsg. v. H. Oberer und G. Seel (Hans Wagner gewidmet), Würzburg 1988, S. 127-167.

4Ich möchte gleich zu Beginn eine kritische Anfrage an Kant bringen anhand eines Manuskriptes von Albert Mues zur Christologie (nicht veröffentlich): „ (…) Für Fichte, salopp gesagt, (ist die praktische Philosophie Kants) eine sportliche Leistung. Fichte misshagt daran, dass nach Kant der Wille stets gedoppelt sein muss, um sich seiner selbst und seiner Freiheit praktisch und theoretisch präsent zu sein. Denn ich könne, so Fichtes Vorwurf, überhaupt nicht gedoppelt wollen, wäre mir nicht zuvor bewusst und intentional klar, dass ich dieses gedoppelte Willensangebot als Voraussetzung für freies Handeln gar nicht voraussetzen kann und auch nicht voraussetzen will. Ich will gar nicht aus Anlass dieses Spagats frei sein. Die praktische Anschauung in den Willen oder vielmehr der Wille selbst – und das heißt praktisch anschauen – ist unmittelbar. Diese Unmittelbarkeit des Willens kann nicht durch einen solchen Spagat vermittelt sein. Gelingt mir willentlich dieser Zugang zu – gleichsam – dem Zentrum des Wollens selbst, und der kann stets gelingen, und lasse ich mir ihn nicht durch die Neigung verstellen, so will ich dieses Wollen, und so will ich nichts anderes als das Wollen qualitativ selbst. Und dieses Wollen ist identisch mit dem, was bei Kant das Sitten”gesetz” ist; es ist die Sittenverheißung selbst. Das ist – nach Fichte – der Standpunkt der höheren Moral, der höheren Sittlichkeit. Ich und das Sittengesetz wollen dasselbe.“

5A. Mues, Christologie: „(…) Diese praktische Sicherheit, diese praktische Evidenz in die Qualitas des Willens schlechthin, dieses subjekt- und objektlose evidierende Schweben im Praktischen, das ist Fichtes Standpunkt der höheren Moralität. In ihr ist, nein, sie ist auch das göttliche „Licht”, ist, wird das Absolute in die Ichform gestellt, Gott selbst. Darin lebt der sittlich Heilige.

6 Dem widerspricht nicht, dass durch Tugend und Erfahrung diese Gesinnung in der Erscheinung („vor einem menschlichen Richter“, ebd.) eingelernt werden kann, wiewohl, wie am Ende des 1. Stückes der RGV und in der KpV herauskommt, Kant skeptisch ist gegenüber einem allmählichen, kontinuierlichen Veränderung und Einlernung. (Siehe unten)

7 Jörg Noller, Die Bestimmung des Willens. Zum Problem individueller Freiheit im Ausgang von Kant, München 2015. Dort Abschnitt III, Freiheit der Vernunft. Kants Grundlegung menschlicher Freiheit, S 105 -175.

8Es gibt mehrere Stellen in der KpV, die diese Unabhängigkeit der Willensbestimmung von der sinnlichen Natur fordern: Siehe z. B. „§ 8 Lehrsatz IV. Die Autonomie des Willens ist das alleinige Princip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten: alle Heteronomie der Willkür gründet dagegen nicht allein gar keine Verbindlichkeit, sondern ist vielmehr dem Princip derselben und der Sittlichkeit des Willens entgegen. In der Unabhängigkeit nämlich von aller Materie des Gesetzes (nämlich einem begehrten Objecte) und zugleich doch Bestimmung der Willkür durch die bloße allgemeine gesetzgebende Form, deren eine Maxime fähig sein muß, besteht das alleinige Princip der Sittlichkeit. Jene Unabhängigkeit aber ist Freiheit im negativen, diese eigene Gesetzgebung aber der reinen und als solche praktischen Vernunft ist Freiheit im positiven Verstande. Also drückt das moralische Gesetz nichts anders aus, als die Autonomie der reinen praktischen Vernunft, d.i. der Freiheit, und diese ist selbst die formale Bedingung aller Maximen, unter der sie allein mit dem obersten praktischen Gesetze zusammenstimmen können. Wenn daher die Materie des Wollens, welche nichts anders als das Object einer Begierde sein kann, die mit dem Gesetz verbunden wird, in das praktische Gesetz als Bedingung der Möglichkeit desselben hineinkommt, so wird daraus Heteronomie der Willkür, nämlich Abhängigkeit vom Naturgesetze, irgend einem Antriebe oder Neigung zu folgen, und der Wille giebt sich nicht selbst das Gesetz, sondern nur die Vorschrift zur vernünftigen Befolgung pathologischer Gesetze; die Maxime aber, die auf solche Weise niemals die allgemein-gesetzgebende Form in sich enthalten kann, stiftet auf diese Weise nicht allein keine Verbindlichkeit, sondern ist selbst dem Princip einer reinen praktischen Vernunft, hiemit also auch der sittlichen Gesinnung entgegen, wenn gleich die Handlung, die daraus entspringt, gesetzmäßig sein sollte. (KpV, Bd. VII, S 144f)

9Zum Hintergrund bei HUMES, vgl. J. Noller, ebd., S 134.135.

10 Zur „Persönlichkeit“, zur „Würde“ etc. gibt es ein sehr schönes und starkes Kapitel in der KpV „Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft“, Bd. VII, ebd. S 191 – 212; zum Begriff „Persönlichkeit“ (ebd. bes. S 211); „Persönlichkeit“ als Erkenntniskategorie der Freiheit (ebd. S 185).

11 „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (GMS ebd. S 61)

12Eine Begründung des „kategorischen Imperativs“ horcht sich bei Fichte, SL 1812, ganz anders an – wenn ich das als Gegenbeispiel bringen will: „Es folgt daraus zweierlei 1.) der vorausgesezte Begriff tritt unmittelbar durch sein Seyn ein ins Bewußtseyn mit der hinzugefügten Foderung an das Ich, daß es soll: (mit dem begleitenden Merkmale eines kategorischen Imperativs, um Kants treffender Bezeichnung mich zu bedienen.) denn in der That u. Wahrheit ist dieser Begriff Grund eines Ich, dadurch daß er Grund, real Grund ist, lediglich damit dieses Ich sich vollziehe. So ists. Nu<n> muß sein Grundseyn eintreten in das Bewußtseyn: dieses Soll muß drum nothwendig eintreten, und tritt ein, so gewiß der Begriff ein begründender ist.“ (J. G. Fichte, Sittenlehre 1812, fhs, Bd. 3, 2012, 1. Teil, 7. Vorlesung, ebd. S 294)

13Jörg Noller, Theorien des Bösen zur Einführung, Hamburg 2017, S 59f. „Durch das aktive Moment der »Aufnehmung« konzipiert Kant eine zugleich effektive und perversive Theorie des Bösen, welche im Gegensatz zur Tradition der Privationstheorien steht. Das Böse wie das Gute sind nun beides autonome Produkte aktiver Formursachen, die sich willentlich gegenüber der Forderung des Sittengesetzes behaupten wollen.“ Natur und Vernunft müssen im reflexiven Akt der Willensbildung zusammengeführt bzw. „in einer Maxime »inkorporiert« werden“. In: Theorien des Bösen, ebd. S 59 u. 60. Zum Begriff einer scheinbaren rationalen Begründung des Bösen, täuscht sich die Vernunft selbst mit dem Begriff des „Vernünftelns“ – siehe ebd. S 60f.

14Warum die Vernunft so eingerichtet ist, dass einerseits in der Theorie alles nach notwendigen Gesetzen verläuft, in der praktischen Welt aber nicht notwendig die Vernunftordnung gilt, sondern es nach höchst prekären Gesetzen zugeht, darauf gibt Kant im Schlusskapitel der KpV eine Antwort: Damit von selbst die verborgenen Weisheit gefunden werde. Man kann darin eine vernunftkritische Bemerkung zur Religion herauslesen, weil er sich sowohl gegen die „Sterndeutung“ der theoretischen Wissenschaft, wie gegen „Schwärmerei und Aberglauben“ richten will, die er tlw. der Religion unterstellt (KpV, ebd. S 301), ergo wäre hier für den richtigen Weg zur Weisheit die Philosophie zu wählen!   Kant kritisiert religiöse Praktiken und Observanzen und ist selber interner, evangelischer Zensur ausgesetzt. Siehe dazu die Einleitung von B. Stangneth in ihrer kommentierten Ausgabe der RGV. Die IEK-Kommission, d. h.  evangelische Oberkonsistorialräte,  gewisse  esoterische Tendenzen und Praktiken des Königs Friedrich Wilhelm II u. a. Strömungen seiner Zeit, das mag alles zu einer religionsskeptischen Sicht Kants geführt haben. Umgekehrt sind die Antworten Kants aber damit nicht reine Vernunftgründe.  

15 J. Noller, Theorien des Bösen, ebd. S 59. Noller untersucht in seinen weitere Kapiteln, dass sich diese formale Verhältnis nicht auf einen Nenner bringen lässt. Wiederum fällt mir Fichte ein und seine Trieblehre. Dort ist ähnlich von einem formalen Verhältnis und einem Antagonismus in ein und demselben Triebakt die Rede, das Ganze zu wollen, aber nur immer ein Teil zu erreichen. Erst in der bedingungslosen Integration und Bejahung eines durch sich selbst bestimmten Willens kommt der Trieb an sein Ende. Das ist aber anders als die Bejahung eines formalen Gesetzes.

16R. Lauth, Ethik in ihren Grundlagen aus Prinzipien entfaltet. Stuttgart, Berlin, Köln 1969, S 77.

17Aus dem 3. Hauptteil: „Vorausgesetzt, daß für die Sünden des Menschen eine Genugthuung geschehen sei, so ist zwar wohl begreiflich, wie ein jeder Sünder sich gern auf sich beziehen möchte und, wenn es bloß aufs Glauben ankommt (welches soviel als Erklärung bedeutet, er wolle, sie sollte auch für ihn geschehen sein), deshalb nicht einen Augenblick Bedenken tragen würde. Allein es ist gar nicht einzusehen, wie ein vernünftiger Mensch, der sich strafschuldig weiß, im Ernst glauben könne, er habe nur nöthig, die Botschaft von einer für ihn geleisteten Genugthuung zu glauben und sie (wie die Juristen sagen) utiliter anzunehmen, um seine Schuld als getilgt anzusehen, und zwar dermaßen (mit der Wurzel sogar), daß auch fürs künftige ein guter Lebenswandel, um den er sich bisher nicht die mindeste. (RGV, Bd. VIII, ebd. S 779 u. a. )

18 Weil Kant sich zur positiven Offenbarung nicht eindeutig erklären will, wird ihm der Begriff der „Revolution“ im Text selbst etwas verschwommen: Hier auf Seite 699 hat es den Anschein, dass nur vor Gott, d. h. mit Gottes Hilfe, diese „Revolution“ möglich ist; ein Stück weiter oben (ebd. S 698) geht Kant von der in der Vorstellung des Pflichtbegriffes liegenden Möglichkeit der „Revolution“ aus, zumindest ist dort von keiner göttlichen Begründung die Rede!? Siehe auch die Notwendigkeit eigener Kraftanstrengung weiter unten S 703 („durch eigene Kraftanwendung“) – und nicht durch göttliche Gnade und Hilfe.

19In der GMS baut Kant das Sollen aus der sinnlichen und intelligiblen Doppelnatur des Menschen auf – siehe ebd. S 33ff; oder siehe ebd. S 43.

20Zum Begriff der Achtung siehe auch GMS, ebd. S 26ff u. a.

21Bei Fichte läuft es andersherum. Aus einer absoluten, göttlichen Aufrufsituation und vielfältig-medialen und kommunikativen Vermittlungen von Interpersonalität folgt logisch-praktisch ein Gesetz der Gerechtigkeit und des Rechts, wenn man so will, als „Achtung des Gesetzes“ abstrahierbar.

Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser