Fichte, Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, SW VII, 1806.
Die historischen Ereignisse Ende 1804 und Anfang 1805 haben J. G. Fichte bewogen, die Phänomene seiner Zeit aus einer apriorischen Perspektive zu betrachten. Es muss im Schatten der napoleonischen Kriege eine sehr unruhige, bewegte Zeit gewesen sein – und es ist bemerkenswert, mit welcher Ruhe Fichte hier an eine Geschichtsphilosophie herangeht.
Zur historischen Entstehungsgeschichte dieser Schrift siehe GA.1
An Sekundärliteratur konsultierte ich: R. Lauth und K. Hammacher.2
Die Schrift GdgZ möchte ich (nur) anhand der ersten fünf Vorlesungen kommentieren bzw. paraphrasieren, weil sie das philosophische Denken von Zeit und Geschichte grundsätzlich aufwerfen. Die weiteren Vorlesungen dieser Schrift wären ebenfalls interessant, gehen aber dann zu vielen anderen Themen der Literatur, Erziehung, zur Rechts- und Staatsphilosophie u. a. m. über.
1. Vorlesung:
1) Es gibt einen über allen Zeitfluss und über allem Werden stehende, überzeitliche Einheit des Denkens von Zeit: „Uebrigens geht die Zeit ihren festen, ihr von Ewigkeit her bestimmten Tritt, und es lässt in ihr durch einzelne Kraft sich nichts übereilen, oder erzwingen. Nur die Vereinigung, aller, und besonders der inwohnende ewige Geist der Zeiten und der Welten vermag zu fördern.“ (SW Bd. VII, 1. Vorlesung; ebd. S 15)
Fichte will a) ein philosophisches „Gemälde“ seiner gegenwärtigen Zeit schaffen, d. h. eine apriorisch- begriffliche und prinzipielle Durchdringung des Denkens von Zeit und Geschichte schaffen, ferner b) zu einem Stufenplan von Geschichte aufsteigen (Fünf-Stadien-Gesetz) und c) seine eigene, gegenwärtige Zeit in ihrem Prinzip, wie er später sagen wird, des Zeitalters der Aufklärung und der „leeren Freiheit“ und der bloß positivistischen „Erfahrung“, kritisch hinterfragen.
Vergleicht man Fichtes Zeit 1804/1805 mit heute, so fallen frappierende Parallelen auf, wollte man allein bei dieser Charakterisierung seines und unseres Zeitalters stehen bleiben.3
1. 1.) Begrifflich-philosophisch etwas erklären kann nach Fichte nur heißen: „Ein philosophisches Gemälde des gegenwärtigen Zeitalters ist es, was diese Vorträge versprechen. Philosophisch aber kann nur diejenige Ansicht genannt werden, welche ein vorliegendes Mannigfaltiges der Erfahrung auf die Einheit des Einen gemeinschaftlichen Princips zurückführt und wiederum aus dieser Einheit jedes Mannigfaltige erschöpfend erklärt und ableitet.“ (ebd. S 4, Hervorhebung von mir)
Dazu muss ich jetzt einerseits zurück- wie vorausblicken. Zeit und Geschichte können nur im Bewusst-Sein gesetzt und gebildet sein. So bereits die Entdeckung in der beginnenden WL 1793/94 der „Eignen Meditationen über die Elementarphilosophie“, GA II, 3.
Ich folge hier der Argumentationslinie von R. Lauth. 4
Es ist die innere und intellektuelle Anschauung, die die äußere Anschauung, die im Raume ist, in die Zeit aufnimmt.5
Das äußere Mannigfaltige, „die Materie kann nicht beschrieben werden, ausser durch Construction einer Linie. Diese aber bedarf einer Richtung; diese einer Folge von Puncten, diese eines Wissens, in dem ein Mannigfalitiges zusammengefasst werden, außerdem würde die Linie zum Puncte (…) wie kann du doch jemals zu einer Linie kommen, als dadurch, dass du die Puncte ausser einander hältst (sonst fallen sie zusammen), sie aber auch in einem Blicke zugleich zusammenfassest und ihr Aussersichseyn aufhebst (sonst kämen sie gar nicht an einander)? Du begreifst doch aber, dass diese Einheit der Mannigfaltigkeit, dies Setzen und Wiederaufheben einer Discretion nur im Wissen seyn kann.“6
Fichte gibt in der 9. Vorlesungen GdgZ eine sagenhaft kurze Beschreibung, wie Zeit und Geschichte dem Denken nach möglich sind, ohne sie blind, sei es idealistisch oder realistisch, vorauszusetzen. Ich bringe dieses lange Zitat, weil darin sozusagen die ganze Zeit des Nachdenkens ab 1793/94 eingeflossen ist. Zugleich ist es aber eine Zwischenstufe auf dem Weg zur vollen Geschichtlichkeit des Denkens, wie ich der Argumentation bei K. Hammacher entnehmen kann
Aus der späteren Sicht der „Staatslehre“ von 1813 könnte man diese Stelle in der GdgZ als dualistisch vom transzendentalen Sein des Selbstbewussteins her geprägt ansehen, dualistisch gegenüber einem vorausgesetzten Sein von Erscheinung. 7
Die „Staatslehre“ von 1813 wird die Zeit und Geschichte in ihrer apriorischen Denkgesetzlichkeit nochmals anders bedenken, nicht dass der transzendentale Standpunkt eines Sich-Wissens der Zeit aufgegeben werden dürfte, aber stärker geprägt und betont von der Hermeneutik der notwendigen Erscheinungsweise des Absoluten in einer Person (Jesus Christus). Es wird deshalb die apriorische Gesetzlichkeit einer Fünffachheit des Denkens von Zeit und Geschichte zurückgenommen auf die Einteilung „alte“ und „neue“ Welt.
Die GdgZ sind deshalb jetzt nicht überholt, sondern zeigen a) einen wichtigen Zwischenschritt des Denkens, wie Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit begrifflich gefasst werden können, und erläutern b) einen bestimmten Sinn der Geschichte von vernünftiger Durchdringung der Wirklichkeit durch Wissenschaft und Vernunftkunst. Jetzt das lange Zitat zum Denken von Zeitlichkeit:
„Das Wissen ist, wie gesagt, Daseyn, Aeusserung, vollkommenes Abbild der göttlichen Kraft. Es ist daher für sich selber: – das Wissen wird Selbstbewusstseyn; und es ist für sich selbst, in diesem Selbstbewusstseyn, eigene, auf sich selbst ruhende Kraft, Freiheit und Wirksamkeit, weil es ja Abbild der göttlichen Kraft ist; alles dieses als Wissen, also in alle Ewigkeit fort sich entwickelnd zu höherer innerer Klarheit des Wissens, an einem bestimmten Gegenstande des Wissens, von welchem es ausgeht. Dieser Gegenstand nun erscheint offenbar als ein bestimmtes Etwas das auch anders seyn könnte, weil er ist, und dennoch in seinem Urgrunde nicht begriffen ist, sondern das Wissen in alle Ewigkeit an ihm zu begreifen und seine eigene innere Kraft zu entwickeln hat: und mit dieser fortgehenden Entwickelung tritt erst die Zeit ein. – Dieser Gegenstand tritt ein lediglich dadurch, dass das Wissen eben ist: also innerhalb seines schon vorausgesetzten Seyns; er ist daher Gegenstand der blossen Wahrnehmung, und nur empirisch zu erkennen. Es ist, sage ich, der Eine, in alle Ewigkeit sich gleichbleibende Gegenstand, da das Wissen alle Ewigkeit hindurch an ihm zu begreifen hat; in dieser stehenden objectiven Einheit heisst er Natur, und die regelmässig auf ihn gerichtete Empirie Physik. An ihm entwickelt sich das Wissen in einer fortfliessenden Zeitreihe; die auf die Erfüllung dieser Zeitreihe regelmässig gerichtete Empirie heisst Geschichte. Ihr Gegenstand ist die zu aller Zeit unbegriffene Entwickelung des Wissens am Unbegriffenen.
Also: das zeitlose Seyn und Daseyn ist auf keine Weise zufällig; und es lässt sich weder durch den Philosophen, noch durch den Historiker eine Theorie seines Ursprunges geben: das factische Daseyn in der Zeit erscheint als anders seynkönnend, und darum zufällig; aber dieser Schein entspringt aus der Unbegriffenheit: und der Philosoph kann zwar wohl im Allgemeinen sagen, dass das Eine Unbegriffene, sowie das unendliche Begreifen an demselben, so ist, wie es ist, eben, weil es in die Unendlichkeit fortbegriffen werden soll; er kann es aber keinesweges aus diesem unendlichen Begreifen genetisch ableiten und bestimmen, weil er sodann die Unendlichkeit erfasst haben müsste, was durchaus unmöglich ist. Hier sonach ist seine Grenze, und er wird, falls er in diesem Gebiete etwas zu wissen begehrt, an die Empirie gewiesen.“ (9. Vorlesung; SW Bd. 7, ebd. S 130ff)
2) R. Lauth hat des öfteren die Konstitution der Zeit im Bewusstsein expliziert.8
„Auszugehen ist vom Standpunkte des Systems der Transzendentalphilosophie, dem transzendentalen Standpunkt der Einheit des Bewusst-Seins. Auch Geschichte kann nur in und aus dieser Einheit begriffen werden. Begriff und Sache sind hier, wie überall, untrennbar.“ 9
Aus dem Reflex des Sich-Wissens und dem gleichzeitigen Reflektieren in und aus der Unendlichkeit kann es nur eine Grundbestimmung und die darin enthaltenen Weiterbestimmungen des Denkens und der parallel laufenden Anschauungen geben.
Jetzt zum Text der GdgZ – 1. Vorlesung:
„Wir heben hiermit an eine Reihe von Betrachtungen welche jedoch im Grunde nur einen einzigen, durch sich selbst eine organische Einheit ausmachenden Gedanken ausdrücken.“ (SW Bd. VII, ebd. S 3)
Da es der reflexiven Vernunftnatur auferlegt ist, nur diskursiv etwas darzulegen und abzuleiten, fühlt sich Fichte genötigt, analytisch vorzugehen. Dies ist hier nochmals doppelt angebracht, da ja, nicht nur von der prinzipiellen Vernunftnatur her, sondern von der empirischen Gegenstandsbestimmungen der Zeit und Geschichte her gesehen, a) eine begriffliche Durchdringung der Geschichte überhaupt, wie seiner b) gegenwärtigen Zeit im besonderen angestrebt wird:
„Könnte ich diesen Einen Gedanken in derselben Klarheit, mit der er mir beiwohnen musste, (….), so würde von dem ersten Schritte an das vollkommenste Licht sich verbreiten über den ganzen Weg, den wir miteinander zu machen haben. Aber ich bin genöthigt, (….)“ (1. Vorlesung, ebd. S 3.4)
Es ist mir auffallend, das will ich betonen, dass Fichte trotz kritischer Schilderung seiner gegenwärtigen Zeit, die Hörer selbst nicht ad personam anfährt oder angreift, selbst wenn er von der „vollendeten Sündhaftigkeit“ seiner Zeit spricht, sondern überaus feinfühlend, geradezu liebevoll und ermutigend sie anspricht und auffordert, die eigenen Schlüsse zu ziehen.
Nur zum Zeitvertreib oder Witz möchte er aber nicht reden. Es soll durchaus Neues verkündet werden: „Da dieses sich also verhält, so muss ich, zumal weil hier nicht alte bekannte Sachen nur wiederholt, sondern neue Ansichten der Dinge gegeben werden sollen. (…)“ (Hervorhebung von mir, ebd. S 4)
Am Ende der 1. Vorlesung wird nochmals unaufdringlich und einladend jeder/jede Hörer/in angesprochen, das apriorische „Diskursivitätsgesetz“ (F. Bader) auf sein/ihr eigenes Leben zu beziehen: „ Das gegenwärtige Zeitalter im Ganzen meine ich; denn da oben bemerkt worden, dass gar füglich ihrem geistigen Princip nach verschiedene Zeitalter in eine und derselben chronologischen Zeit in mehreren Individuen sich durchkreuzen und nebeneinander fortfliessen können: so lässt sich erwarten, dass dasselbe auch in unserem Zeitalter der Fall seyn möge, dass daher unsere, das apriorische Princip auf die Gegenwart anwendende Welt- und Menschenbeobachtung nicht gerade alle dermalen lebende Individuen, sondern nur diejenigen betreffen möge, die da wirklich Producte ihrer Zeit sind, und in denen diese Zeit sich am klarsten ausspricht. Es kann einer hinter seinem Zeitalter zurück seyn, (….)“ (Hervorhebung, ebd. S 13)
3) Wie begründet jetzt Fichte seinen apriorischen Geltungsanspruch einer Zeit- und Geschichtsanalyse? Der Geltungsanspruch liegt in der selbst zeitlosen, apriorischen Vernunftidee, die er in den Wln (plural) gerade herausgearbeitet hat, besonders in den Wln des Jahres 1804/1805. Diese Vernunftidee ist einerseits eine geschlossene Einheit, ein Sich-Wissen, andererseits entlässt sie in sich die Weiterbestimmungen ihrer eigenen Grundbestimmung in einem systematischen Ganzen.
Die Vernunfteinheit ist apriorisch konstituiert, begründet und gerechtfertigt in einer Genese aus der Erscheinung des Absoluten, und soll zu einer (platonischen) Abbildlehre von Vernunftwissenschaft und Vernunftkunst führen (zur 4. und 5. Epoche). Die Erscheinung des Absoluten (Gottes) selbst, lässt sich philosophisch, rein vom Begriff her, sozusagen emanantistisch, nicht darstellen.
Deshalb bleibt – eine für mich etwas seltsam anmutende – „Vernunftkunst“ übrig (nach einem gewissen platonischen Vorbild.)
Die Vision einer Realisierung und ab-bildlichen Darstellung der apriorischen, unbedingten Geltungsform der Vernunft ist in der 1. Vorlesung bereits angekündigt – und stellt sozusagen den Inhalt des ganzen Buches der GdgZ dar – von mir jetzt vorweggenommen: „ (….) und lege damit den Grundstein des aufzuführenden Gebäudes – ich sage: der Zweck des Erdenlebens der Menschheit ist der, dass sie in demselben alle ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichte.“ (ebd. S 7, gesperrt von Fichte)
Die Denkverhältnisse des Bedingten und Zeitlichen, letztlich die Vernunftverhältnisse sittlicher Freiheit, sollen durch das Unbedingte der Vernunft erreicht werden, selbst nur durch Freiheit, nicht durch Gewalt, emanzipatorischen Aufruf oder fideistischen, heute würden wir sagen, evangelikalen Gottesglauben an die Wiederkehr Christi in irdischer Zeit.
Es sind wohltuende Aussagen gegenüber der „erschöpften Moderne“, wie H. Pätzold andere Geschichtstheorien vom säkularen Standpunkt her beleuchtet, oder gegenüber blindem Fideismus. 10
Es fließt immer eine dauernde ethische Teleologie ein, wie der Zweckbegriff konstitutiv für alles transzendentale Erkennen ist.
In Rekursion auf einen absoluten Geltungsgrund kommt es zu einer zweckhaften Reflexion – und damit zu einer hoffnungsvollen Zukunftsgestaltung.
Die Rekursion muss ständig präsent sein, sonst könnte ein appositionelles Erstellen von Zeit und Geschichte und Sinn der Geschichte nicht erreicht werden.
4) Aus der apriorischen Vernunfteinheit und einem absoluten Geltungsgrund geht Fichte im Text über zu einem gegliederten Verlauf des Zeit- und Geschichtsverlaufes, weil er ja a) zu einem Verstehen und Begreifen hauptsächlich seines gegenwärtigen Zeitalters kommen will, und b) generell zu einem Verstehen von Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit.
Die für ihn typische Fünf-Zahl der Gliederung ist auffallend.11
Fichtes aktuelle, gegenwärtige Zeit wird nicht gerade schmeichelnd beschrieben: „(…) 3) Die Epoche der Befreiung, unmittelbar von der gebietenden Autorität, mittelbar von der Botmässigkeit des Vernunftinstincts und der Vernunft überhaupt in jeglicher Gestalt: das Zeitalter der absoluten Gleichgültigkeit gegen alle Wahrheit, und der völligen Ungebundenheit ohne einigen Leitfaden: der Stand der vollendeten Sündhaftigkeit.“ (ebd. S 11.12 gesperrt von ihm). als
Diese Äußerungen sind nicht, wie gesagt, ad personam gesprochen – wie er öfter betont und z. B. im Schlussabsatz der 1. Vorlesung nochmals klar hervorhebt: Der philosophische Überblick und die Diagnose seiner Zeitepoche im besonderen mögen vielmehr helfen und trösten, quasi ein Heilmittel sein, das ursprüngliche Vernunftziel und die Rekursion auf den absoluten Geltungsgrund wieder zu finden.
„Bloss über die äussere Form dieser Vorträge erlauben Sie mir noch einige Worte. Wie auch immer unser Urtheil über das Zeitalter ausfallen möge, und in welche Epoche wir auch dasselbe zu stellen uns gedrungen fühlen möchten, so erwarten Sie doch hier weder den Ton der Klage, noch den der Satire, zumal der persönliche. Nicht den der Klage: das ist eben die süsseste Belohnung der philosophischen Betrachtung, dass, da sie alles in seinem Zusammenhange ansieht, und nichts vereinzelt erblickt, sie alles nothwendig, und darum gut findet, und das, was da ist, sich gefallen lässt, so wie es ist, weil es, um des höheren Zweckes willen, seyn soll.“ (ebd. S 14)
5) Die Vernunftidee, „(sc. die Menschheit möge) alle Verhältnisse mit Freiheit einrichten“, zeigt eine apriorische Notwendigkeit. Gilt das in einem zeitlichen, realistischen Sinne? Oder im Sinne eines notwendig herbeizuführenden Prozesses, wie verschiedene „Revolutionäre“ viel Leid und Unheil damit über die Welt gebracht haben?
In einer Vorlesungsreihe hat Dr. Franz Bader auf diese Gefahr hingewiesen: Wenn alles schon panlogistisch vorgezeichnet ist, kann man sich nur fügen. Die fünf Stadien folgen erscheinungsmäßig und notwendig: Vernunftinstinkt, Autoritätsglauben, Gleichgültigkeit, Wissenschaft und Vernunftkunst. Ein Scheitern ist gar nicht möglich? 12
Sehr klar und deutlich die folgende Unterscheidung zwischen apriorischem Denken und zeitlicher Erfahrung: „Zuvörderst: hat der Philosoph die in der Erfahrung möglichen Phänomene aus der Einheit seines vorausgesetzten Begriffs abzuleiten, so ist klar, dass er zu seinem Geschäfte durchaus keiner Erfahrung bedürfe, und dass er bloss als Philosoph, und innerhalb seiner Grenzen streng sich haltend, ohne Rücksicht auf irgend eine Erfahrung und schlechthin a priori, wie sie dies mit dem Kunstausdrucke benennen, sein Geschäft treibe, und, in Beziehung auf unseren Gegenstand, die gesammte Zeit und alle möglichen Epochen derselben a priori müsse beschreiben können. Ganz eine andere Frage aber ist es, ob nun insbesondere die Gegenwart durch diejenigen Phänomene, (….)“ (Hervorhebung von mir, ebd. S 5)
Wiederum folgt daraus nicht ein moralisierendes oder gar idealistisch-gewaltsames Predigen: Jedes Vernunftwesen muss die aktualisierende und appositionelle Anwendung des apriorischen Denkens selbstständig vollziehen. Der apriorische Aufruf eines göttlichen Gesetzes geht vom Begriff des Ganzen und der Allgemeinheit her zwar zuerst an die „Menschheit“ und wird entsprechende allgemeine Vernunftziele zeitigen (wie Rechtsverhältnisse, Erziehungsziele), aber die Verwirklichung richtet sich ebenso individuell mit bestimmter Aufgabe an jeden einzelnen: „Hierüber hat ein jeder bei sich selber die Erfahrungen seines Lebens zu befragen, und sie mit der Geschichte der Vergangenheit, sowie mit seinen Ahnungen von der Zukunft zu vergleichen: indem an dieser Stelle das Geschäft des Philosophen zu Ende ist, und das des Welt- und Menschenbeobachters seinen Anfang nimmt„ (ebd. S 5)
Die abzuleitenden fünf Epochen können sich überschneiden und einander „durchkreuzen“ (ebd. S 13), „(….) Diese Epochen aber und Grundbegriffe der verschiedenen Zeitalter können nur neben- und durcheinander, vermittelst ihres Zusammenhanges zu der gesammten Zeit, gründlich verstanden werden. Es ist daher klar, dass der Philosoph, um auch nur ein einziges Zeitalter, und, falls er will, das seinige, richtig zu charakterisiren, die gesammte Zeit und alle ihre möglichen Epochen schlechthin a priori verstanden und innigst durchdrungen haben müsse.“ (ebd. S 6)
6) Die Idee der Realisierung von Freiheit in ethisch-teleologischer Richtung, alle Lebensverhältnisse und Rechtsverhältnisse vernünftig einzurichten, kann in einem apriorischen Verstandesbegriff zusammengefasst werden, im Begriff, der am meisten dann von den GdgZ übernommen wurde: Dem „Weltplan“.
Fichte hebt ihn gesperrt hervor: „Dieses Verstehen der gesammten Zeit setzt, so wie alles philosophische Verstehen, wiederum einen Einheitsbegriff dieser Zeit voraus, einen Begriff einer vorher bestimmten, obschon allmählig sich entwickelnden Erfüllung dieser Zeit, in welcher jedes folgende Glied bedingt sey durch sein vorhergehendes; oder, um dies kürzer und auf die gewöhnliche Weise auszudrücken: es setzt voraus einen Weltplan, der in seiner Einheit sich klärlich begreifen, und aus welchem die Hauptepochen des menschlichen Erdenlebens sich vollständig ableiten, und in ihrem Ursprunge sowie in ihrem Zusammenhange untereinander sich deutlich einsehen lassen.“ (ebd. S 6)
7) Was ist jetzt material die Einheit der apriorischen Vernunftreflexion, aus der alle Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit bestimmt werden kann? Ich entnehme diesen Inhalt dem Umfeld der Wln: Es ist das interpersonale Aufruf-Antwort-Schema, das material auf das Sittengesetz verweist, und alle Ableitung von Sinnlichkeit und Zeitlichkeit, schließlich Geschichtlichkeit, ermöglicht.
Der Philosoph räsonniert und deduziert apriorisch, sein im Geiste gefälltes Urteil bleibt anfangs hypothetisch und problematisch, bis er zur Realisierung in einem assertorischen oder apodiktischen Urteil übergeht. Im interpersonalen Handeln und Agieren und Re-Agieren wird ipso facto eine kategorisches Anerkennungsverhältnis gesetzt. Die im Aufruf-Antwort-Schema gesetzte und gefällte Entscheidung (im wirklichen Vollzug) ist immer schon apodiktisch gewisse Entscheidung und anschaulich und zeitlich gebunden durch die ursprünglich produzierende und reflektierende Einbildungskraft.
Eine Entscheidung ist zuerst notwendig möglich in der modalen Grundbestimmung Aufruf/Antwort und im Grundwesen der Vernunft, wird aber disjunktiv notwendig, sobald zu dieser oder jener notwendigen fakultativen und wirklichen Bestimmung übergegangen wird.
Das macht ja das Zeit- und Geschichtsdenken bzw. die Geschichtlichkeit des Denkens so relevant, dass ipso facto die anschauliche und gebundene Einbildungskraft in die apriorische Denkmöglichkeit einfließt, d. h. sich bewähren muss können in der Anschauung, soll nicht bloß hypothetisch und völlig irrelevant räsonniert werden.
Im Text zeigt sich deshalb, wenn ich so sagen darf, eine Diskrepanz zwischen apriorischem Denken, worauf Fichte bedacht ist, und einer ebenso notwendig seienden, fakultativen Realisierung in Zeit und Geschichte. Fichte weiß selbst um diese Diskrepanz. „Erdenleben der Menschheit gilt uns hier für das gesammte Eine Leben, und die irdische Zeit für die gesammte Zeit; dies ist die Grenze, in welche die beabsichtigte Popularität unseres Vortrages uns einschränkt; indem von dem Ueberirdischen und Ewigen sich nicht gründlich reden lässt, und zugleich populär. (…)“ (Hervorhebung von mir, ebd. S 7)
So könnte summarisch von mir gesagt werden: Ein Rest von Dualismus bleibt, verglichen mit der ausdrücklichen Geschichtlichkeit des Denkens in der „Staatslehre“ von 1813. Prinzipiell wähnt und will Fichte natürlich sagen, dass mit seinem transzendentalen Standpunkt des Sich-Wissens des wahren Bildes vom Bild des Seins jeder Dualismus überwunden ist.
8) Der transzendental-reflexive Standpunkt des Sich-Wissens und der apriorischen Vernunfteinheit ist material abgebildet im Sittengesetz und in dessen unbedingter Forderung und seinem apriorischen Soll.
Es kommt jetzt gleich die Rede, dass das Sittengesetz mittels apriorischer Vernunftreflexion sich selber zum Gegenstand hat, d. h. das apriorische Soll ist zuerst an die Gattung „Menschheit“ gerichtet, erst in weiterer Folge an die individuelle Bestimmung und Fortführung.
Aus der apriorischen Vernunftidee wird der „Grundstein des aufzuführenden Gebäudes“ gelegt, wie schon zitiert: „ – ich sage: der Zweck des Erdenlebens der Menschheit ist der, dass sie in demselben alle ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichte.“ (ebd. S 7)
Die ethische Teleologie der transzendentalen Reflexion heißt also klar a) eine universale sittliche Verwirklichung und in Folge b) eine individuell-bestimmte Aufgabe dieser sittlichen Verwirklichung.
Das einzelne individuelle Subjekt existiert nur innerhalb einer universalen Gattung, wie das Aufruf-Antwort-Schema von vornherein und notwendig festlegt. Das Individuum bleibt in situ und in concreto ein stets interpersonal bedingter Ausgangspunkt. Das Ziel aller zeitlicher Realisierung von Freiheit ist deshalb nie nur eine individuelle Befreiung, sondern primär sogar eine Gemeinschaftsbezogenheit einer sittlichen Welt, wodurch individuelle Freiheit ebenso erreicht werden soll.
Der Begriff des Individuums und der „Individualität“ müsste hier sicherlich noch genauer herausgearbeitet werden, wie es K. Hammacher tut: Im Reflexivsein und Bildsein von Vernunft sind die Disjunktionen in der Erscheinung des Absoluten notwendig und führen stets zu neuen Bildern und Aufgaben in einem Individuum. Ebenso geschieht die Erscheinungsweise des Absoluten notwendig in apriorisch denkenden und Ideen und „Gesichte“ schauenden Individuen (Gelehrten wie natürlich tugendhaften Vernunftwesen) und in einer material-schöpferischen Weise.
Dazu wären verschiedene Schriften dieser Zeit von Fichte zu konsultieren.
Ebenso taucht die Frage auf, kann das Einzelwissen in einem Gegensatz stehen zu einem „Weltplan“ (Der Ausdruck „Weltplan“ kommt bereits prominent in den Schlusskapiteln der WL 1801/02 vor.) Ich verweise hier auf K. Hammacher und andere Sekundärliteratur. 13
In den späteren „Reden an die deutsche Nation“ von 1808 taucht zusätzlich die Frage auf, inwiefern man von einem völkischen Subjekt sprechen kann und ein Volk mit einer spezifischen Charakterisierung herausheben darf, ja muss. Es wird die Frage akut, Nationalismus versus Kosmopolitismus.
9) Wenn in der apriorischen Vernunftidee die Interpersonalität und sittliche Gemeinsamkeit bereits angelegt sind, kann von einem zyklischen Verlauf der Realisierung von Freiheit gesprochen werden.14
„Der gesammte Weg aber, den zufolge dieser Aufzählung die Menschheit hienieden macht, ist nichts anderes, als ein Zurückgehen zu dem Puncte, auf welchem sie gleich anfangs stand, und beabsichtigt nichts, als die Rückkehr zu seinem Ursprunge. Nur soll die Menschheit diesen Weg auf ihren eigenen Füssen gehen; mit eigener Kraft soll sie sich wieder zu dem machen, was sie ohne alles ihr Zuthun gewesen; und darum musste sie aufhören es zu seyn.“ (Hervorhebung von mir, ebd. S 12) (Die spiralenförmige Entwicklung der Zeit hat alte platonische Vorbilder)
Das apriorische Denken ist bedingend – „(…) „ohne die Wirksamkeit dieses Gesetzes kann ein Menschengeschlecht gar nicht zum Daseyn kommen (….)“ (ebd. S 9).
„Kurz und auf die gewöhnliche Weise dieses ausgedrückt: der Vernunft wirkt als dunkler Instinct, wo sie nicht durch die Freiheit wirken kann. So wirkt sie in der ersten Hauptepoche des Erdenlebens der menschlichen Gattung;“ (Hervorhebungen von mir, ebd. S 9)15
Die Wirksamkeit der Vernunft und der Rückgang zum Anfang der Zeit und Geschichte verläuft in einer Entfaltung von Stadien:
K. Hammacher hat im gesamten Werk Fichtes es so eingeteilt: Eine erste Periodisierung der Freiheitsverhältnisse findet sich a) in der Zeit des Atheismusstreites um 1799, weiters b) im 3. Buch der „Bestimmung des Menschen“ 1800, schließlich hier in den GdgZ eine Fünffachheit im Begriff der „Epoche“.16
Es sind fünf Zeitalter, bedingt durch das Soll und Schema einer zu erreichenden sittlichen Einheit und Gemeinschaftlichkeit:
Sie sind: „1) Die Epoche der unbedingten Herrschaft der Vernunft durch den Instinct: der Stand der Unschuld des Menschengeschlechts. 2) Die Epoche, da der Vernunftinstinct in eine äusserlich zwingende Autorität verwandelt ist: das Zeitalter positiver Lehr- und Lebenssysteme, die nirgends zurückgehen bis auf die letzten Gründe, und deswegen nicht zu überzeugen vermögen, dagegen aber zu zwingen begehren, und blinden Glauben und unbedingten Gehorsam fordern: der Stand der anhebenden Sünde. 3) Die Epoche der Befreiung, unmittelbar von der gebietenden Autorität, mittelbar von der Botmässigkeit des Vernunftinstincts und der Vernunft überhaupt in jeglicher Gestalt: das Zeitalter der absoluten Gleichgültigkeit gegen alle Wahrheit, und der völligen Ungebundenheit ohne einigen Leitfaden: der Stand der vollendeten Sündhaftigkeit. 4) Die Epoche der Vernunftwissenschaft: das Zeitalter, wo die Wahrheit als das Höchste anerkannt, und am höchsten geliebt wird: der Stand der anhebende Rechtfertigung. 5) Die Epoche der Vernunftkunst: das Zeitalter, da die Menschheit mit sicherer und unfehlbarer Hand sich selber zum getroffenen Abdrucke der Vernunft aufbauet: der Stand der vollendeten Rechtfertigung und Heiligung.
– Der gesammte Weg aber, den zufolge dieser Aufzählung die Menschheit hienieden macht, ist nichts anderes, als ein Zurückgehen zu dem Puncte, auf welchem sie gleich anfangs stand,(…)“ (ebd. S 11-12)
Der innere, komplizierte Zusammenhang der fünf Epochen, deren Unterschiedenheit und Charakteristik, beschreibt K. Hammacher dahingehend:
„Es wird nun ausdrücklich betont, dass die Philosophie nicht darüber entscheiden könne und wolle, ob die von ihr abgeleiteten Epochen schon wirklich geworden seien. Sie werden also nicht historisch identifiziert. Aber trotzdem ist die Epoche als solche verbindlich für eine Zeit. Die Etappe der Verwirklichung des Menschheitszweckes bestimmt eine solche Epoche in allen ihren Lebensbereichen. Es ist gerade das Grundanliegen der Grundzüge des „gegenwärtigen Zeitalters“, so ein genaues Bild von einer Epoche, hier des dritten, „des gegenwärtigen Zeitalters“, zu geben und alle ihre Merkmale aus ihrer Funktion in dem gesamten Verwirklichungsprozess verständlich zu machen.
Fichte beweist jedoch, dass er einen tiefen Einblick in die Bedingtheit, unter der sich die Geistesstufen im Geschichtlichen offenbaren können, hat, wenn er diese Bindung durch den Epochenbegriff nicht absolut nimmt und auf alle tatsächlichen Geschehnisse einer solchen Epoche ausdehnt. Es geht darum, die jeweils charakteristischen Züge einer solchen Zeit herauszuarbeiten aus der unübersehbaren Fülle des Geschehens. Denn wegen der vielen äußeren Einflüsse bestehen in einem Zeitalter viele Einstellungen und Lebensformen einer vergangenen Zeit fort, und hier und da deutet sich auch schon Zukünftiges, einer neuen Zeit Angehöriges an.“ 17
10) Die Einheit wie Unterschiedenheit der fünf Epochen ist im einzelnen sehr differenziert: Fichte beginnt mit einem angeborenen „Vernunftinstinkt“ (besser wäre einfach „Vernunftsinn“), wobei die vorreflexiv gefasste Trieblehre mitschwingt. Schließlich kommt es zum „Autoritätsglauben“ – und zu einer weiteren Entwicklung des Vernunftsinns.
„Eine Vernunft, welche im Instincte spricht, und die im Triebe, sich von ihm zu befreien gleichfalls thätig ist, mit sich selber in Streit und Zwiespalt gerathen? Offenbar nicht unmittelbar; es müsste daher abermals ein neues Mittelglied eintreten zwischen die Herrschaft des Vernunftinstincts und den Trieb, sich von ihm zu befreien. Dieses Mittelglied ergiebt sich also: die Resultate des Vernunftinstincts werden von den kräftigeren Individuen der Gattung, in denen eben darum dieser Instinct sich am lautesten und ausgedehntesten ausspricht, aus der so natürlichen, als voreilenden Begierde, die ganze Gattung zu sich zu erheben, oder vielmehr sich selber als Gattung aufzustellen, zu einer äusserlich gebietenden Autorität gemacht, und mit Zwangsmitteln aufrecht erhalten; und nun erwacht bei den übrigen die Vernunft zuvörderst in ihrer Form als Trieb der persönlichen Freiheit, welcher nie gegen den sanften Zwang des eigenen Instincts, den er liebt, wohl aber gegen das Aufdringen eines fremden Instincts, der in sein Recht eingreift, sich auflehnt; und zerbricht bei diesem Erwachen die Fessel, nicht des Vernunftinstincts an sich, sondern des zu einer äusseren Zwangsanstalt verarbeiteten Vernunftinstincts fremder Individuen. Und so ist die Verwandlung des individuellen Vernunftinstincts in eine zwingende Autorität das Mittelglied, welches zwischen die Herrschaft des Vernunftinstincts und die Befreiung von dieser Herrschaft in die Mitte tritt.“ (ebd. S 10)
Es kann Fichte dann nicht schnell genug gehen, dass er vom 2. Zeitalter gleich zum 4. und 5. Zeitalter kommt:
Und um endlich diese Aufzählung der nothwendigen Glieder und Epochen des Erdenlebens unserer Gattung zu vollenden: – durch die Befreiung vom Vernunftinstincte wird die Wissenschaft der Vernunft möglich, haben wir oben gesagt. Nach den Regeln dieser Wissenschaft sollen nun durch die freie That der Gattung alle ihre Verhältnisse eingerichtet werden. Aber es ist klar, dass zur Ausführung dieser Aufgabe die Kenntniss der Regel, welche allein doch nur durch die Wissenschaft gegeben werden kann, nicht hinreiche, sondern dass es dazu noch einer eigenen Wissenschaft des Handelns, die nur durch Uebung zur Fertigkeit sich bildet, mit Einem Worte, dass es dazu noch der Kunst bedürfe. (ebd. S. 10)
Der Weg dieses epochalen Aufstiegs kann ebenso gut durch den Mythos der Vertreibung aus dem Paradies beschrieben werden. Die mythologische Schilderung ist völlig gleichwertig (oder sogar höherwertig) als die philosophische. Auffallend ist, dass mit keinem Wort eine eigenen Interpretation von Fichte in Gen 3 hineingelegt wird, dass notwendig der Sündenfall hätte stattfinden müssen, damit zur Vernunft und Freiheit aufgestiegen werden konnte.
Nochmals die freilassende, paränetische Anrede Fichtes an sein Publikum: Der apriorische Vernunftstandpunkt soll „aufstoßen“, ein Anlass des Nachdenkens sein:
„(…) so gewiss steht unser Zeitalter in einem der angegebenen Puncte. In welchem nun unter den fünfen, wird meine Sache seyn, nach meiner Weltkenntniss und Weltbeobachtung anzuzeigen, und die nothwendigen Phänomene des aufgestellten Princips zu entwickeln; und die Ihrige, sich zu erinnern, und um sich zu blicken, ob Ihnen nicht diese Phänomene ihr ganzes Leben hindurch innerlich Und äusserlich aufgestossen sind und noch aufstossen; und dieses ist das Geschäft unserer künftigen Vorträge.“ (ebd. S 13)
Der Zweck seiner bevorstehenden Vorlesungen, so Fichte, kann erst am Schlusse seines Vortrages klar werden. „(…) und ich muss Sie ersuchen, die vollkommene Klarheit erst am Schlusse, und nachdem die Uebersicht des Ganzen möglich geworden, zu erwarten.„ (ebd. S 4)
Zum ganzen Redestil – siehe die sehr einnehmende Schlusspassage der 1. Vorlesung (vgl. ebd. S 14.)
11) Ich möchte zu dieser Paraphrase der GdgZ mit Verweis auf K. Hammacher hervorheben, dass diese Epochengliederung in der GdgZ keine letzte Gliederung von Fichte gewesen sein sollte, blickt man auf die „Staatslehre“ von 1813.
Fichte entdeckte die apriorische Bedeutung einer „geistigen Natur“ (Begriff aus den REDEN, 1808), generell die hohe sprachliche und anschauliche Gebundenheit des Denkens.
Die apriorisch zu fassende, göttliche Idee muss in ihrer Erscheinung selbst in die sinnliche Welt eintreten und sich inkarnieren können. Sie bewährt und beweist sich durch die Tat und durch geistiges Schöpfertum. Es obliegt der Philosophie in historischer Hermeneutik, das alles transzendental-reflexiv zu begreifen.
Der „Weltplan“ wird in späteren Schriften ausgeführt durch ein „Urvolk“ , oder später durch zwei Urvölker, die göttliche Idee wird in Bildern geschaut usw.
Die Bilder stehen auf derselben Erkenntnisstufe wie das teleologische Denken von Freiheit und Sittlichkeit bezogen auf die Erscheinung des Absoluten.
Durch das Sein der Erscheinung sind, wenn man so sagen will, selber „Epochen“ gesetzt, nicht erst durch das Denken entworfen. Das Übersinnliche bildet bereits selbst eine 1. Epoche, das Gefühl und der Glaube bildet die 2. Epoche aus.
Der Begriff „Gott“ wird selbst zum Erfahrungsbegriff.
Die Wissenschaftlichkeit des teleologisch-sittlichen Zweckes, wie in den GdgZ noch betont, wird eine Vernunftkunst und Vermittlung der Lehre Christi.18
Siehe auch R. Lauth zur „geistigen Natur“ und zum Eintritt des Übersinnlichen in die Erscheinung, ebd. S 360ff, zur Rolle der Willkürfreiheit (ebd. S 367-369), zur „Weltregierung“ und „moralischen Weltordnung“ (ebd. S 371-376), zum „Sinn der Geschichte“ (ebd. S. 376-377) und zur „absoluten Vernunft als Person“ (ebd. S 377 – 380)19
Das sage ich hier nur, um nicht in dieser Schrift nur befangen zu bleiben.
© Franz Strasser, 30. 1. 2025
1Das Werk „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters“ (abgekürzt als GdgZ) ist historisch-kritisch und textkritisch dokumentiert in der Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 8: Werke 1801-1806. Hrsg. von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky unter Mitwirkung von Josef Beeler, Erich Fuchs, Ives Radrizzani und Peter K. Schneider. 1991.
Ich zitiere (mangels Bibliothek) nach den Sämtlichen Werken (=SW), Bd. VII, hrsg. v. Immanuel Hermann Fichte. Die längeren Zitate von Fichte sind von mir rot hervorgehoben.
2 R. Lauth, Der Begriff der Geschichte nach Fichte. Philosophisches Jahrbuch 72, 1964, S. 353-384. Diesen ausgezeichneten Artikel gibt es auch online zum Download: Siehe Internet, https://www.philosophisches-jahrbuch.de/wp-content/uploads/2019/03/PJ72_S353-384_Lauth_Der-Begriff-der-Geschichte-nach-Fichte.pdf
ferner Literatur von R. Lauth zum Zeit- und Geschichtsbegriff in: „Vernünftige Durchdringung der Wirklichkeit. Fichte und sein Umkreis.“ Neuried 1994, darin der Artikel: Philosophie und Geschichtsbestimmung, S 421-445.
Ders., Die Konstitution der Zeit im Bewusstsein, Hamburg, 1981.
K. Hammacher, Fichtes Weg zur Geschichte. In: Transzendentale Theorie und Praxis. Zugänge zu Fichte. Fichte-Studien, Supplementa, Amsterdam-Atlanta, 1996, S 159-205.
3 Ich las z. B. „Die Mentalität der ›erschöpften‹ Moderne im Lichte der Geschichtsphilosophie Fichtes“. Ein provokatorischer Zwischenruf, von Hartmut Pätzold. In: Transzendenz und Existenz. Idealistische Grundlagen und moderne Perspektiven des transzendentalen Gedankens. FS für Wolfgang Janke. Hrsg. v. M Baum u. K. Hammacher, 2001, S. 215–237.
H. Pätzold spricht verschiedene Theorien von heute an: Von den destruktiven Wirkungen historischer Extremerfahrungen, von verloren gegangenen Fortschrittsparadigmen, vom positivistischen Glauben an die erlösende Kraft des Nutzenkalküls, bespricht die Literatur von Fukuyama, spricht von der Überforderung des Subjekts in der postmodernen Risikogesellschaft, vom Ideologieverdacht der Psychoanalyse gegenüber geschichtsphilosophischen Systemdenken. Er weist schließlich auf Fichte hin: „Fichte unterscheidet im Gegensatz zu den bisher vorgetragenen Geschichtstheorien zwischen dem wirklichen Geschichtsablauf und der apriorischen Ableitung eines Stufenplans zur Verwirklichung des Systems der Freiheit, das heißt, er trennt klar zwischen den Ebenen des Seins und des vernunftgemäßen Sollens. Diese Differenzierung ist den Denkern der „erschöpften“ Moderne abhanden gekommen.“ (ebd. S 233)
4 R. Lauth, Der Begriff der Geschichte, download, a. a. O., S 353ff,
5 Siehe die längere Begründung in den „EIGNEN MEDITATIONEN ÜBER ELEMENTARPHILOSOPHIE“, GA II, 3, S. 80f. u. a. Stellen.
6 Fichte, Darstellung der WL. Aus dem Jahre 1801, SW II, S 103.
7K. Hammacher, Fichtes Weg zur Geschichte. In: Transzendentale Theorie und Praxis. Zugänge zu Fichte. Fichte-Studien, Supplementa, Amsterdam-Atlanta, 1996, S 159-205.
8 So z. B. in dem Buch, Die Konstitution der Zeit im Bewusstseine“, Hamburg 1981, oder in: Die transzendentale Naturlehre Fichtes nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre, Hamburg 1984 u. a. m.
9 R. Lauth, Der Begriff der Geschichte, siehe Anm. 2, S. 353.
10 Hartmut Pätzold, siehe oben, Anm. 3. Artikel in „Transzendenz und Existenz“.
11 Woher die Fünf-Zahl kommt? Es beginnt bereits in der Wlnm 1796-1799 und setzt sich fort in der Fünffachheit der Bereiche des Denkens.
12Gegen ein mögliches Scheitern hat der christliche Glaube bekanntlich diese große Antwort bereit: Das Vernunftziel einer Erreichung aller Verhältnissse in Freiheit könnte, selbst bei Ablehnung der apriorischen Vernunftidee durch die positive Offenbarung JESU CHRISTI aufgefangen werden, der alle Verfehlung und Sünde und Widersinnigkeit gesühnt hat. Gott selbst tritt dann bei Verfehlung des Menschen als Vermittler ein.
13 Vgl, K. Hammacher, Fichtes Weg zur Geschichte, ebd. S 174 – 179.
14K. Hammacher, Fichtes Weg zur Geschichte, ebd., S. 184.
15Im Schlussatz der 1. Vorlesung fordert Fichte nochmals auf, mit Bewusstsein die freie Gestaltung der Zeit- und Geschichtsbetrachtung anzugehen. Die apriorische Denkbestimmung für sich würde noch nichts ändern, wird hingegen mit Freiheit eine vernünftige Sichtbarkeit erzeugt, nach einem diskursiven Gesetz der Entscheidung, so führt das zu einer verstandlichen Wirksamkeit und Kausalität. „Niemand ist entfernter, als der Philosoph, von dem Wahne, dass durch seine Bestrebungen das Zeitalter sehr merklich fortrücken werde. Jeder, dem es Gott verlieh, soll freilich alle seine Kräfte für diesen Zweck anstrengen, sey es auch nur um sein selbst willen, und damit er im Zeitenflusse denjenigen Platz behaupte, der ihm angewiesen ist. Uebrigens geht die Zeit ihren festen, ihr von Ewigkeit her bestimmten Tritt, und es lässt in ihr durch einzelne Kraft sich nichts übereilen, oder erzwingen.“ (ebd. S 15)
16K. Hammacher, ebd. S 185 – 193.
17K. Hammacher, Fichtes Weg zur Geschichte, ebd., S 187.
18Vgl. K. Hammacher, Fichtes Weg zur Geschichte, S. 194- 205
19 Vgl. R. Lauth, Der Begriff der Geschichte, a. a. O., Anm. 2.