Kategorien des Zeitlichen und Schweben der Einbildungskraft

Gerne denke ich an die Metaphysikvorlesung in Linz in den 80-er Jahren (Prof. DDr. ULRICH LEINSLE) zurĂĽck. Das „tode ti en einai“ – „das Soundso, das es war zu sein“, das Seiende als solches, „mit Brennpunktbedeutung“. Eine situative Aussage im Bewusstsein der Zeit, in der ganzen Bewegungsdynamik verschiedener Verwirklichungen gesehen als 1. Substanz, als 2. Substanz.

Zufällig stieß ich auf das Buch von S. RÖDL, Kategorien des Zeitlichen, 2005. Es bestätigt ganz die Ontologie von ARISTOTELES, hinterfrägt  die Voraussetzungen einer analytischen Sprachphilosophie, und begründet im Verweis auf KANT die von ARISTOTELES schon erwiesene Einheit des zeitlich-gegenstandsbezogenen (anschauungsbezogenen) Denkens. Ein ausgezeichnetes Buch! Es ist ausgesprochen klar und verständlich geschrieben, aber ungemein begriffsscharf, die Theorien eines FREGE oder der Analytischen Philosophie zerlegend und hinterfragend, systematisch einen Gedanken aufbauend. Man kann das Buch nicht lesen ohne mitzudenken. Schnell kann es nicht überflogen werden, denn ein Abschnitt baut auf den anderen auf. Es zwingt einen zu einer permanenten Konzentration, total fordernd. Ich brauchte etwa eine ganze Woche! Keine Worttricksereien, keine Verschleierungen, keine Verschleifung der feinen Unterschieden in den Begriffen des Zeitlichen.

Ich kann praktisch das Buch nicht referieren, weil jeder Abschnitt ein präzise Stellung im Aufbau der Systematik einnimmt, sodass zur Erklärung des Ganzen die einzelnen Schritte notwendig wären.

Ich skizziere nur Ăśberschriften – nicht um irgendetwas zu paraphrasieren,  sondern um  AnknĂĽpfungspunkte  zum Denken FICHTES zu finden. Die genaue reflexive Beziehung des Erkennens kraft Aussagens und Anschauens und entsprechender Begriffe – das stellt RĂ–DL dar in einem System des endlichen Verstandes und des zeitlichen Aussagen. FICHTE wĂĽrde das alles ähnlich sagen, – wenn wir nur den endlichen Verstand hätten!  NatĂĽrlich steigt er dann höher als KANT und ARISTOTELES, wodurch aber  die Ebene des endlichen Verstandes  nicht entwertet wird. Sie wird neu positioniert.  

Ich möchte kurz in einem ersten und zweiten Teil Auszüge des Buches referieren, mir aber in einem dritten Teil Ausblicke auf FICHTE erlauben.

I) S. Rödl, Erster Teil. Transzendentale Logik und Zeit, ebd., S 21 – 114.

Ad Kapitel 1: Metaphysik und Logik: S 23 – 55.

S. RÖDL widerlegt eingangs mit Hilfe der Aussagen- und Prädikatenlogik des ARISTOTELES die künstlich aufgebaute, konstruierte Logik eines FREGE: Dieser versucht, die logische Ordnung zu formalisieren und zu einer deduktiven Logik umzubauen, aber diese Logik, die die „Begriffsschrift“ meint, kann nicht wiederum die Aussagen ihres Begriffsumfangs und die Gesetze ihres Schließens durch einen Wahrheitswert, den die deduktive Logik ja erst aufstellen soll,  bestimmen. Der Wahrheitswert des deduktiven Systems muss von außerhalb des Systems festgesetzt werden. „Der Kalkül kann nicht für sich selber sorgen“. Die Allgemeinheit des Systems der Aussage- und Prädikatenlogik, wie sie ARISTOTELES geleistet hat, muss metaphysisch vorausgesetzt werden als vorfindbare Tatsache des Denkens und der darin liegenden Formen des Denkens.

S. RÖDL bringt zur Untermauerung viele berühmte Zitate des ARISTOTELES, so z. B.: Die verschiedenen Formen der prädikativen Einheit der Aussage sind verschiedene Bedeutungen von „ist“, denn „ist“ bezeichnet diese Einheit u. a. m. (S. Rödl. Ebd. S 35; ebd. Anm. 13: Aristoteles, Metaphysik, Delta 7, 1017a22-23)

Das Denken in seiner logischen Form offenbart eine metaphysische Einheit, die transzendentallogisch analysiert und verstanden werden kann. Es gilt metaphysisch  eine logische Form des Aussagens festzuhalten, weil sie anschauungsbezogen ist.

Ad Kapitel 2 – Empirische und zeitliche Aussagen (ebd. S 56 – 82).
Die Aussagen sind anschauungsbezogen und stehen in einem Wahrheitsbezug des Denkens – ohne sie als „Verhalten“ denunzieren zu wollen, wie Strömungen der Analytischen Philosophie meinen.

Die genauere Analyse ist gefragt: Wie kommen wir zu einem Zeitbewusstsein? Durch eine Sprech-Handlung in einer bestimmten Handlungsform.

Ad Kapitel 3 – Zeitbezug und Form der Aussage (ebd. S 83 – 114).

Es folgt eine auf die Struktur der Sprache hörende Beschreibung des Zeitbewusstseins – im Gegensatz zu den Verdrehungen eines QUINE. Eine Analyse der Beobachtungssätze und des Gegenstandsbezuges offenbart die impliziten und expliziten Zeitbezüge – und warum der Begriff der „Substanz“ und des Zustands („Akzidenzs“) notwendig werden, dazu später die Bewegungsform.

Die tempuslogischen Formen sind in einem Gesamt von zeitlichen Kategorien im endlichen Verstand systematisch aufgebaut und gegliedert.

II) S. Rödl, Zweiter Teil. Die Formen zeitlicher Aussagen (ebd. S 115 – 207)

Ad Kapitel 4 – das Tempus als Form der Prädikation (ebd. S 115 – 143)

Im II Hauptteil wird es nochmals diffiziler und einsichtiger: Die Form der Prädikation mit ihren metaphysischen und transzendentalen Beziehungen wird in ihren zeitlichen Formen nochmals deutlicher herausgestellt.

Ad Kapitel 5 – Intern zeitliche Beziehungen (ebd. S 144 – 159)

Es folgt die nochmals genauere Analyse der Zeitform in sich – die prädikative Einheit des Aspekts. Der progressive oder perfektive Aspekt wird analysiert und die berühmte aristotelische Kontinuität der Bewegung. Substanzen und ihre Zustände müssen mit Bewegungsformen verknüpft werden, unter dem Aspekt des Im-Gange-Seins oder des Abgeschlossenseins in der Erscheinung, „wenn nichts dazwischen kommt.“

Ad Kapitel 6 – Generische Aussagen (ebd. S 173 – 207)

Die Bewegungsform und Substanz und Akzidens reichen noch nicht aus, die zeitlichen Kategorien des endlichen Aussagens zu verstehen und zu erklären: Es kommt noch die Bedingung des generischen Aussagen hinzu, d. h. dass wir „nach oben“ eine Bewegung in allgemeinen Formen (genera) begreifen.

Immer bringt der Modus der Prädikation die logische Form und den Aspekt und die Bewegung und die allgemeine Form schon mit – die Kategorien des Zeitlichen. Mittels ihrer erkennt der endliche Verstand.

Die Kategorien stellen dabei notwendige Formen der Anschauung dar,  d. h. des auf Anschauungen angewiesenen Denkens. Die Kategorien sind, ganz allgemein ausgedrückt, reine Begriffe des Zeitlichen.

Resümee: Durch den Anschauungsbezug wird die Logik des Denkens nicht eingeschränkt, vielmehr ist die Art der Aussage überhaupt die grundlegende metaphysische Logik bzw. die transzendentale Logik des Erkennens, soweit die Bedingungen der Möglichkeit dieser Logik eingesehen werden können.

Der Verstand ist durch das bedingt, worauf er sich bezieht. Die Einheit eines Gedankens ist die Einheit eines sinnlich Angeschauten als solchen. Und umgekehrt, die Einheit des Angeschauten ist die Einheit eines endlichen Verstandes. Sie (diese Einheit) ist damit objektiv gültig. „Die Erkenntnisbedingungen sind auch die der Gegenstände selbst“ (Kant, KrV, A 158) – so die Parallelität von Aristoteles und Kant.

Es ist mir schon klar, dass und wie das von S. Maimon das skeptisiert worden ist (siehe andere Blogs von mir), aber prinzipiell sind alle hier (Aristoteles, Kant, Maimon, Fichte) auf der vernunftoptimistischen Linie, eine transzendentallogische Erkenntnis der Dinge und der Welt ist möglich.

Zeitbezogenen Aussagen als solche fallen unter bestimmte logischen Formen und sind deshalb objektiv gĂĽltig, weil sie immer schon die Formen des anschauungsbezogenen Denkens sind. Die Formen des Verstandes sind abstrakteste Formen des Zeitlichen und sind wegen ihres Anschauungsbezuges nicht leer. Sie haben objektive GĂĽltigkeit und Geltung.

III) FICHTE – Das Schweben der Einbildungskraft 

FICHTE, der den Weg einer transzendentalen Logik in seiner „Erkenntnistheorie“ ebenfalls beschritten hat – nicht eine bloĂź skeptisierende Erkenntniskritik – muss und will ebenfalls dem Anschauungsbezug in seinem Denken treu bleiben. Die Kategorien des Zeitlichen bilden  synthetische Erkenntnisse a priori (als Anschauungsformen) – ganz wie bei ARISTOTELES oder bei KANT.

Bekanntlich will aber FICHTE höher steigen, indem der Anschauungsbezug und der Zeitbezug gleichzeitig im Denken abgeleitet werden sollen.  

Wie soll ich mich hier kurz ausdrĂĽcken? Die metaphysische Logik des Denkens dessen, was „ist“, und die Anschauung des endlichen Verstandes in zeitlichen Kategorien (situativ, im Aspekt, in der Bewegungsform, generisch), sind die zwei Seiten eines genetischen wie  eines wirklichen Sehens, sind conditionale und causale Vermittlung (Disjunktion) eines wahren Setzungsverhältnisses von Denken und Anschauung – philosophisch postuliert im Denken eines absoluten Geltungsgrundes und einer transzendental-kritischen Geltungsform des „Ich“, des „Sich-Wissens“ und „Sich-Setzens“. 

Jede sinnliche Anschauung ist bereits in zeitlichen Kategorien gefasst; völlig d’accord. Mit FICHTE kurz gesagt, jede Anschauung ist schon begriffene Anschauung – weil sie durch das  Schweben der Einbildungskraft zwischen Entgegengesetzten gebildet ist. 

Die Einbildungskraft bewältigt einen Widerstreit und verwirklicht ein Produkt als etwas Unterscheidbares und als Ausgangspunkt allen Bewusstseins und Selbstbewusstseins. Mit der WL 1801/02 gesprochen: Der Quantität vorausgehend ist die Quantitabilität; letztere liegt jenseits allen Bewusstseins in seinem Nichtsein und bildet die Sphäre künftiger möglicher Akte. Das freie Handeln bezieht sich auf diese Quantitabilität als ein absolut Gefundenes wie auf eine stehende absolute Anschauung; sie ist eine Mannigfaltigkeit, die in einem ruhenden Lichte sich selber hält, ewig und unaustilgbar dieselbe ist.

Das freie Handeln – die „Handlungsform des Prädizierens bei ARISTOTELES – ist in weiterer Folge ein freies, Sich-selbst-Ergreifen in dieser Anschauung, ein Konstruieren und  Nachmachen eines Gesetzes. In jeder Hemmung muss diese unbegrenzte Tätigkeit (oder Anschauung) wieder aufgenommen werden. Sobald sie allerdings wieder aufgenommen wird, ist sie wieder endlich; doch sie soll unendlich sein, die Hemmung muss wieder ausser dem Ich gesetzt werden, und so wird sie wieder unendlich in ein und demselben Akte. Es ist ein Wechsel des Ichs mit sich selbst, ein „Schweben der Einbildungskraft“, die Ableitung der Anschauung und Vorstellung in der Einheit des Sich-Wissens in der Geltungsform des „Ich“.

Durch dieses Schweben der Einbildungskraft, Substrat allen Bewusstseins – bei ARISTOTELES als Substanz in der Bewegungsform nach auĂźen projiziert – wird Anschauung genetisch erklärt, d. h. wie es zu einer ursprĂĽnglichen  Synthesis von reiner und sinnlicher Anschauung kommen kann, zu „synthetischen Urteilen a priori“ ([KrV B 19 ff; Bd. 3, 59). Also abgeleitet aus der Einheit des Wissens  werden die Kategorien des Verstandes und die Kategorien des Zeitlichen notwendig eingefĂĽhrt und bilden gemeinsam das Wissen des endlichen Verstandes. 

Es wird, im Unterschied zu KANT, mit der Qualität der Empfindung begonnen; diese Qualität wird in das Schweben der Einbildungskraft aufgenommen, oder, was das Gleiche besagt, in den Reflexionsakt. In weiterer Folge erscheint das Schweben als ein ursprüngliches Linienziehen, die Zeit entsteht. Dieses Linienziehen erfolgt aus Anlass eines ins Bewusstsein zu hebenden Fremdartigen, was nur im Schweben zwischen ichlicher Unendlichkeit und endliche Bestimmung transzendental denkbar und erkennbar (erklärbar) gesetzt sein kann. Alle sinnliche Anschauung kann somit nur innerhalb der reinen Anschauung erfolgen.

Diese reine Anschauung ist, von ihren Fixierungen noch abgesehen, ursprünglich ein sich reproduzierender Widerstreit, ein Übergehen zum jeweils Entgegengesetzten, dergestalt, dass die Aktrealisationen unvermerkt in einander überschließen. Nur in einem solchen Übergehen kann die Qualität als solche ins Bewusstsein gehoben und zum Gefühl (zur qualitativen Empfindung) aufgebaut und bestimmt werden.

Nach FICHTES Einsicht lässt sich das Verfahren des Anschauens und Denkens in der Konstitution des objektiven Gegenstandes – wie es in einer transzendentalen Logik nach RĂ–DL (auf einer sinnlichen Stufe) beschrieben wird – auf einen einzigen, grundlegenden Vollzug zurĂĽckfĂĽhren – auf die Reflexion.

Vermag nach RÖDL bzw. ARISTOTELES und KANT der endliche Verstand mit seinen Denkgesetzen nicht aus seinem sinnlichen Anschauungsbezug heraus, entwirft nach FICHTE der Verstand (in schematisierenden Relationen) immer schon Umkehrungen der Reflexion in seiner sinnlichen und intellektuellen Anschauung: Substanz und Akzidens werden vertauscht, es entsteht Bewegung. (Bei ARISTOTELES ist es umgekehrt: Das Denken der Bewegung bestimmt die Substanz). Die Kategorien der Ursache und Wirkung werden notwendig zur Zweckgerichtetheit vertauscht (Bei Kant ist die teleologische Urteilskraft zwar da, aber er kann deren Grund nicht angeben). Die additiv verstandene Wechselwirkung wird zur Kategorie der Organisation, eine distributiv wirkende Wechselwirkung, ohne die Lebendiges nicht zu verstehen wäre.

Die Bewegung, die Zweckgerichtetheit, die Organisation, sie sind notwendige Kategorien des endlichen Verstandes, weil der Setzungsakt des Sich-Wissens  transzendentallogisch Anschauung und Begriff in einer synthetischen Erkenntnis a priori vereint.

Anders gesagt: Die Kategorien des Zeitlichen, in abstraktester Form von RĂ–DL beschrieben nach den logischen Prinzipien eines ARISTOTELES oder KANT, sie sind nicht nur empirisch festgestellt und aufgelesen, sondern reflexiv begrĂĽndet im Schweben der Einbildungskraft und gerechtfertigt im reflexiven Sich-Wissen der Vernunft.

© Franz Strasser, 30. 1. 2012.

Zu FICHTE – siehe die Schrift „Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre (1794 1. Auflage/1798 2. Auflage)

Sonstige Literatur zur Zeitableitung: Siehe R. LAUTH, Die transzendentale Naturlehre Fichtes nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre, Hamburg 1984 

 

 

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser