Zum Sinnbegriff bei Niklas Luhmann – 2. Teil

Nur innerhalb eines absoluten Setzens (thetischen Urteils), das im Bewusstsein stets vorausgesetzt werden muss, ist ein Totalitätssetzen möglich. Verstehen es Luhmann (oder Derrida) ebenfalls so, oder interpretieren sie die Totalität als materielle Realität, die durch Negation und Dialektik eingeschränkt werden kann?

Rein begrifflich und durch Denken der Negation kann die (missverstandene, reale) Totalität der Wirklichkeit nicht erreicht werden. Ich habe das in einem Blog zur „Bedeutung der Dialektik“ schon angesprochen: Aus der Sicht des dia-legeins der Einbildungskraft ist das Denken der Totalität eine logische Bewusstseins-Bildung, eine Totalitätsbildung durch Beschränkung. Die Beschränkung (Begrenzung) geschieht dabei mittels Denkrelationen wie Substantialität, Kausalität, Wechselwirkung, Identität, Satz vom Widerspruch, die sich als konstituierende (prädikative und kategoriale) Denkakte durch die Erfahrung und durch ein Experiment verifizieren lassen.  Das Experiment besteht darin, dass, modern ausgedrückt, die Genese eines Klassenkalküls nachvollzogen wird. Es wird eine quantitative Bestimmung in einer extensionalen Deutung vollzogen. (Weitere Literatur siehe bei K. Hammacher, z. B. Dialektik und Dialog bei Jacobi und Fichte, Fichte-Studien Bd. 14). Aber damit werden keine Realitäten verändert oder bestimmt.

Warum manche Beobachtungen der empirischen Realität durch dialektisches Denken trotzdem stimmen, so würde ich kurz sagen, ist auf den Scharfsinn von N. L. zurückzuführen, dessen Einbildungskraft mittels logischer Vorzeichnung den Unterscheidungsgrund in der Anschauung trefflich fasst. Aber die gewonnenen Synthesen wie „Sinn“, „System“ sind nur Begriffe einer Beschreibung der Phänomene, nicht die Realität selbst. Nie erreichen wir durch die Begriffe selbst die Dinge oder Phänomene, sondern nur mittels unsere Vorstellungen denken wir.  

N. LUHMANN geht mit dem berechtigten, philosophischen Totalitätsanspruch der Erkenntnis an die Wirklichkeit heran, kann aber m. E. kein  prinzipierendes Prinzip dieser Totalität angeben, denn wie sollte aus der Negation einer empirischen Bestimmbarkeit und aus bloßer Beobachtung ein Prinzip abgeleitet werden? Er setzt gleich mit der Form und die Feststellung eines iterierbaren, logischen Unterscheidens der Systeme an, was die Alternative ergibt, dass a) entweder rein logisch gesehen nie die unterschiedene Gegensätze System und Welt  vereint werden können, das ist entweder Selbstwiderspruch oder ständige Überforderung im „Formieren“,  oder b) dass durch „re-entry“ auf der Seite des unterschieden Markierten doch ein Endpunkt der Reflexion gesetzt werden muss. N. L. entscheidet sich für diese Markierung des Unterschiedenen. Aber was kommt dann als Prinzip heraus? Soweit ich das verstanden habe: Die dogmatische Voraussetzung eines evolutiven Prozesses. Durch Evolution, in einem zeitlichen Prozess objektiver Entwicklung, hat sich dieser Wechsel von psychischem und sozialem System herausentwickelt  und trägt und hält sich selber (bis die Welt  zugrundegeht).

Die transzendentale Erkenntnistheorie FICHTES (im Unterschied zur dogmatischen Systemtheorie) geht hier anders vor: FICHTES analytisches und synthetisches Gegensetzen kennt zwar ebenso a) den Totalitätsanspruch eines philosophischen Systems, aber nur in Vergewisserung des gemeinsamen Ursprungs von Denken und Sein ist begriffliches Denken und Bilden möglich. Das Allgemeine einer gefassten Idee und das Besondere der Wirklichkeit können nicht durch faktisches Bilden und faktische Negationsdialektik (Differenzierung), sondern erst in genetischer und geschichtlicher Wertsetzung eingeholt werden. Die faktischen Differenzierungen bedeuten nichts – angesichts der Realität des absolut EINEN, von dessen ERSCHEINUNG auszugehen ist. 

b) Die Verknüpfung aller Einzelbestimmungen in der empirischen Wirklichkeit oder intelligiblen Wirklichkeit kann  nur dann methodisch-stringent und transzendental behauptet werden, wenn ein apriorischer und geistiger Charakter eines  Ur-Prinzips, aus dem die Disjunktion Denken und Sein und ihre Sub-Disjunktionen hervorgehen,  in erkenntniskritischer und werthafter Relevanz appositionell übertragen und abgeleitet (bewährt) werden kann. 

Das Wissen eines apriorischen und geistigen Erst-Prinzips  wird aber m. E. von N. L.  ausdrücklich nicht behauptet, denn er gründet ja seine Systemtheorie ausdrücklich auf einen  reflexiologischen Form-Begriff, der aus der sinnlichen (naturalistischen) Beobachtung kommt!

Der Totalitätsanspruch einer Erklärung und Erkenntnis wird erhoben – was prima facie nicht zu kritisieren ist und von der Philosophie geleistet werden muss!  – aber dieser Totalitätsanspruch beginnt bei einer, möchte ich sagen, beliebig empirischen Beobachtung  der Gesellschaft, des Rechts, der Religion etc… und die Sinnidee wird induktiv-intuitiv erhoben, begleitet von Kommunikation und empirischer Erfahrung. Eine rein dialektische, formale  Synthese kann, so der Befund bei FICHTES „Dritter Grundsatz“ der GWL (1794)  nur klassenlogische Kalküle bilden: Wenn z. B. eine naturwissenschaftliche Aussage getroffen werden soll, so wird ein kausaler Ursache-Wirkungszusammenhang hergestellt; wenn die Zugehörigkeit der Sätze zu einer ethischen Frage bestimmt werden soll, so wird die Totalitätsbildung nach einem Zweckbegriff erfolgen usw. Das ist immer nur klassenlogische Einteilung von bereits prädispositionalen Entscheidungen und Erhebungen, wobei der qualitative und inhaltliche Sinn des Gebildeten real vorgegeben bleibt und gerade nicht in seiner werthaften Relevanz bestimmt (abgeleitet) werden kann.

Sowie gefordert wird, dass etwas aus der Natur erklärt werde, wird gefordert, dass es durch und aus einem Gesetze der physischen, keinesweges aber moralischen Nothwendigkeit erklärt werde. Es wird sonach durch die blosse Behauptung einer solchen Erklärbarkeit behauptet, dass es der Natur nothwendig sey, und in den ihr absolut zukommenden Eigenschaften liege, sich in reelle Ganze zu organisiren, und dass das vernünftige Wesen die Natur so, und schlechthin nicht anders zu denken genöthigt sey. (FICHTE, Sittenlehre 1798, SW IV, 119)

Aus der Fragestruktur wird ersichtlich und ableitbar, um welches Klassenkalkül es sich handelt und dementsprechend wird eine logische Konstitutionsgenese – und nur! eine begrifflich-methodische Konstitutionsgenese – erhoben und in einer Theorie zusammengestellt. 

FICHTE hat das logische Totalitätsverhältnis in § 3 der GRUNDLAGE auf die Formel gebracht: „Ist A Totalität und wird als solche gesetzt, so wird B ausgeschlossen“ . Oder „Dasjenige, welches ein anderes von der Totalität ausschließt, ist insofern es ausschließt, die Totalität“. (vgl. GRUNDLAGE, SW I, 192.193)

Totalität ist hier ein reines Denkverhältnis, nicht irgendein reales, metaphysisches Verhältnis. Die Totalität, die disjunktive Urteile abstrakt vereinigt, besteht „in der Vollständigkeit eines Verhältnisses, nicht einer Realität.“ (SW I, 204) – und ist noch nicht selbst eine inhaltliche, qualitative Erfüllung und Evidenz. 1 Der 3. Grundsatz, wie FICHTE deshalb sagt, ist dem Inhalt nach teilabsolut, also dem bloßen begrifflichen Denken real vorgeordnet.

Der thetische Satz ist nach dem Schema der GWL von 1794 unbeweisbarer 1. Grundsatz. Der damit zusammenhängende 2. Grundsatz ist nicht selbst absolut oder teilabsolut, sondern dient nur der didaktischen Hinführung, um die relative Teilabsolutheit des Teilens und der wechselseitigen Bestimmung im 3. Grundsatz zu ermöglichen – also die logischen Bedingungen eines Totalitätsdenken und die logischen Bedingungen eines Reflektierens.

Was jetzt unter „Logik“ zu verstehen ist, wäre eine weitergehende Frage; zuerst ist die Logik eine Form des praktischen Handelns im performativen Sprechakt; aus der Dia-logik wird die Dialektik und die verschiedenen Formen der aristotelischen Logik. 2

Der nur aus dem 1. Grundsatz mögliche 3. Grundsatz trägt aber eine aus dem 1. Grundsatz kommende postulatorische Aufgabe in sich, die Teilbarkeit im Sinne der Einheit der Vernunft theoretisch und praktisch und geschichtlich zu erfüllen. Er trägt letztlich  einen interpersonalen Aufruf in sich, das Nicht-Ich zu verichlichen oder ein fremdpersonales Nicht-Ich zu einer höheren Ich-Einheit der Ichlichkeit zu führen.

Worauf ich hinaus will: Der 3. Grundsatz erklärt als Satz vom Grunde, wie es überhaupt zu einem Unterscheiden und Beziehen und zum Begriff einer Totalität (als logische Bestimmung im Denken) kommen kann.3 Wohlgemerkt ist aber diese reflexive Totalität bei N. L. leider nicht das qualitative Totalitätsallgemeine eines PLATON, oder das absolute bzw. Erscheinung des Absoluten  nach FICHTE, sondern, je nach Erkenntnisbereich angepasstes,  systematisches, umfangreiches Wissen von „Welt“. 

Mit einem bloß begrifflichen  Unterscheiden eines Spencer Brown kann nicht begonnen werden, um die Totalität aller Bedingungen zu einem Bedingten zu erreichen. Das führt zur Antinomik und zu einer materialen Dialektik, wie sie KANT in den „Antinomien“ formulierte – und sie auf seine Art halbherzig löste. Ein K. L. REINHOLD forderte zwar die Einheit von Subjekt und Objekt in der apriorischen Vorstellung, welche wiederum vorgestellt werden kann, aber auch das ist bloß begrifflich-objektivistisch. Ein rein diskursiv vorgehendes Verfahren von Setzung und Entgegensetzung, von Analyse und Synthese, wie es FICHTE dann in § 4 der GWL durchexerzierte, kann nie und nimmer die begrifflichen Gegensätze in der Vorstellung logisch vereinen – nur anschaulich. 

Wie ist dann die anschauliche Vorstellung möglich? Durch ein nicht nur implikatives, sondern durch eine Art integratives Denken, durch Implikation und Apposition zusammen.

Es braucht ein über das Implikationsverhältnis hinausgehendes Appositionsverhältnis, wodurch ein Gegensatz als eine Einheit im Wandel  gedacht werden kann. Das sinnstiftende und wirkliche Urprinzip, aus dem konstitutionsgenetisch alle Bestimmungen der Erkenntnis und des Wollens abgeleitet werden können, muss daher ein über die Reflexion und über ein Grund-Folge und appositionelles Verhältnis  hinausgehendes qualitatives Totalitätsallgemeines sein, an dem der Erkenntnisakt und das Wollen-in-actu Anteil nehmen können (logoshaft).  

Bei N. L. (und DERRIDA), soweit ich das gelesen habe, bleibt das staunenswerte Paradox der mannigfaltigen, faktischen Entgegensetzungen, die dann nach Gespür und Scharfsinn durch einen willkürlichen Begriff der Totalität zusammengefasst werden. Es folgen die spezifizierten Totalitätsvorstellungen eines Rechts-, Wirtschafts-, Demokratie-, Kommunikations-, Religionssystems  mit ihren entsprechenden Synthesen von Wert und Realität, oder Sinnerfahrungen, aber diese Sinn-Erfahrungen und Sinn-Begriffe sind damit nur empirisch zusammengesetzt und leiten sich nicht aus einem höheren und höchsten Sich-Bilden und Streben des Ichs ab.  

Aus erklärten Gegensätzen und Unterschieden sind frei erfundene, zufällig gut getroffene, willkürliche „Sinnerklärungen“ gebildet, als könnte a) der 3. Grundsatzes, der in seinem Inhalt teilabsolut dem begrifflichen Denken vorgeordnet ist, selbst durch bloße Negation einen Sinn begründen und rechtfertigen und b) die systemtheoretisch unterlegten Seins-Begründungen sind ebenfalls zufällig, willkürlich.  Der Begriff des Vollkommenen aber zwischen ideellem Denken und differenzspezifisch hervortretender, nicht ableitbarer Wirklichkeit, ihn gibt es nicht mehr.  

© Franz Strasser, 22. 2. 2017

1Ich setze im Ich dem theilbaren Ich ein theilbares Nicht-Ich entgegen.Ueber diese Erkenntniss hinaus geht keine Philosophie; aber bis zu ihr zurückgehen soll jede gründliche Philosophie; und so wie sie es thut, wird sie Wissenschaftslehre. Alles was von nun an im Systeme des menschlichen Geistes vorkommen soll, muss sich aus dem Aufgestellten ableiten lassen.“ (FICHTE, Grundlage)

2In einem seiner ersten Schriften,   „Glauben und Wissen“,  setzte HEGEL den Unsinn in die Welt, der 2. Grundsatz in Fichtes GWL ist gleichwertig dem 1. Grundsatz. Kompletter Unsinn. Der Seh-Akt ist unmittelbar genetisch und faktisch und kann als solcher nicht nicht sein – und deshalb kann die Bestimmbarkeit und Bestimmtheit der Wirklichkeit im Ganzen in der Faktizität ihres Daseins als (differenzielles) Folgebild (bzw. pl. in Folgebildern) abgeleitet werden. Damit ist aber der 2. und 3. Grundsatz der Antithese und Synthese nicht zur Erhebung des Geistes und des Begriffes und verschiedener anderer Ideologie, wie sie Hegel und seine Nachfolger propagieren, ermächtigt. 

3Wir haben die entgegengesetzten Ich und Nicht-Ich vereinigt durch den Begriff der Theilbarkeit. Wird von dem bestimmten Gehalte, dem Ich und Nicht-Ich, abstrahirt, und |die blosse Form der Vereinigung entgegengesetzter durch den Begriff der Theilbarkeit übrig gelassen, so haben wir den logischen Satz, den man bisher den des Grundes nannte.“(FICHTE, SW I, 110.111) 

Print Friendly, PDF & Email

Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser