Stichworte – Anweisung zum seligen Leben. 4. – 5. Vorlesung, 3. Teil

S 447 – Vierte Vorlesung

„Es ist, ausser Gott, gar nichts wahrhaftig und in der eigentlichen Bedeutung des Wortes da, denn — das Wissen: und dieses Wissen ist das göttliche Daseyn selber, schlechthin und unmittelbar, und inwiefern wir das Wissen sind, sind wir selber in unserer tiefsten Wurzel das göttliche Daseyn. Alles andere, was noch als Daseyn uns erscheint, — die Dinge, die Körper, die Seelen, wir selber, inwiefern wir uns ein selbstständiges und unabhängiges Seyn zuschreiben, — ist gar nicht wahrhaftig und an sich da; (…)“ (ebd. S 448)

Das Festhalten von „Grundsätzen und Annahmen über Gott und unser Verhältnis zu ihm“ ist die erste Voraussetzung. Zweitens gehört zum seligen Leben,

„(…) dass diese lebendige Religion wenigstens so weit gehe, dass man von seinem eigenen Nichtseyn, und von seinem Seyn lediglich — in Gott und durch Gott — innigst überzeugt sey, und dass man diesen Zusammenhang stets und ununterbrochen wenigstens fühle, und dass derselbe, falls er auch etwa nicht deutlich gedacht und ausgesprochen würde, dennoch die verborgene Quelle und der geheime Bestimmungsgrund aller unserer Gedanken, Gefühle, Regungen und Bewegungen sey. —„ (ebd. S 449)

Die philosophische Reflexion als Geltungsreflexion einer Religion, durch die die Idee des Daseins der Möglichkeit nach überhaupt begriffen werden kann, leistet sie einen praktischen Überstieg zur Wirklichkeit dieser Geltungsreflexion?
Der reine Begriff Gottes als in sich verborgenes Absolutes treibt von sich her weiter zur Ă„uĂźerung Gottes, das ist konsequent und logisch-theoretisch, aber kann das nicht weitere logisch-praktische Konsequenzen mit sich fĂĽhren?

Das Dasein Gottes treibt begrifflich zur Äußerung Gottes: „(..) sondern er ist auch da, und äussert sich; sie Daseyn aber unmittelbar ist nothwendig Wissen, welche letztere Nothwendigkeit im Wissen selbst sich einsehen lässt.“ (ebd. S 449)

Es wird festgehalten, dass diese Sich-Äußerung und Sich-Erscheinung des Absoluten keine Veränderung oder keinen Wandel in Gott selbst bedeuten kann, das wäre ein Widerspruch. Es gibt im Denken einen lebendige Nexus zum Absoluten – aber diese Nexus ist nicht emanativ, zeitlich-kausal oder wie immer wirk-ursächlich zu beschreiben.

Aufgabe bleibt es, wie der Nexus gedacht werden kann, die Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit und die Einheit im reinen Denken. Anders gesagt: Es geht um die Auflösung des Widerspruchs zwischen Wahrnehmung der Wirklichkeit in ihrer Mannigfaltigkeit und reines Denken der Einheit. Wie und warum kommt es zu einer Spaltung des einen Wissens in ein mannigfaltiges Wissen, weil das nicht der reinen Forderung nach Einheit widersprechen darf?

Das Wie des Zusammenhangs wird im Glauben des Christentums nicht thematisiert, „(…) dass nur das Eine sey, und das Vergängliche durchaus nicht sey.“(ebd. S 451); „(….) es kann ihm zuletzt, in Beziehung auf das selige Leben, gleichgültig seyn, ob er unsere Beantwortung derselben fasse oder sie nicht fasse.“ (ebd.)

„Die Sache steht so: Inwiefern das göttliche Daseyn unmittelbar sein lebendiges und kräftiges Daseyen ist, — Daseyen sage ich, gleichsam einen Act des Daseyns bezeichnend, — ist es dem inneren Seyn gleich, und ist darum eine unveränderliche, unwandelbare und der Mannigfaltigkeit durchaus unfähige Eins. Darum kann — ich habe hier die doppelte Absicht, theils auf eine populäre Weise die vorliegenden Erkenntnisse an einige erst zu bringen, theils für andere unter den Anwesenden, welche diese Erkenntnisse anderwärts auf dem scientifischen Wege schon erhalten haben, in einen einzigen Strahl und Lichtpunct zusammenzufassen, was sie ehemals vereinzelt erblickt haben; darum drücke ich mich mit der | strengsten Präcision aus — darum kann, wollte ich sagen, das Princip der Spaltung nicht unmittelbar in jenen Act des göttlichen Daseyns fallen, sondern es muss ausser denselben fallen;“ (ebd. S 451.452)

Das absolute Sein und Gott sind ein und dasselbe, unwandelbar, durch sich, von sich, in sich; davon ist zu unterscheiden das Sein „(…)in seinem bloĂźen Dasein“ (ebd. S 452)

Das bloße Dasein in seinem „Als“ des Daseins ergibt in der Reflexion aber nur ein Bild des Seins, nicht das absolute Sein selbst; das Was-Sein ist immer nur Bild-Sein, fasst als Begriff und im Begriffe nie und nimmer das absolute Sein. Der Begriff schließt sich qua Vollzug selber aus dem Absoluten aus, sobald er etwas oder sich selbst begreift, aber umgekehrt bezieht er sich in diesem Unterscheiden ständig auf das Absolute.

„(…)Die Welt hat in ihrem Grundcharakter sich gezeigt, als hervorgehend aus dem Begriffe; welcher Begriff wiederum nichts ist, denn das Als zum göttlichen Seyn und Daseyn. Wird nun etwa diese Welt im Begriffe, und der Begriff | an ihr noch eine neue Form annehmen? — es versteht sich mit Nothwendigkeit, und also, dass die Nothwendigkeit einleuchte?

Um diese Frage zu beantworten, überlegen Sie mit mir folgendes: Das Daseyn erfasset sich selber, sagte ich oben, im Bilde, und mit einem dasselbe vom Seyn unterscheidenden Charakter. Dies thut es nun schlechthin durch und von sich selbst, und durch seine eigene Kraft; (…)“ (ebd. S 454.455)

Wenn der Grund des Daseins und jedes Begriffes und jeder Reflexion zwar in Gott liegen, so liegt das Als des Bewusstseins und des Daseins in seiner selbstständigen Wahrheit und Freiheit außerhalb dieses Grundes.

Der erste Gegenstand der Reflexion ist dabei die Welt (vgl. ebd. S 456). „Das göttliche Seyn wird ihm (sc. dem Bewusstsein) zur Welt“ (ebd. S 457).

Das göttliche Sein ist dabei nicht verschwunden, sondern bleibt da, „wo es allein seyn kann; im verborgenen und dem Begriffe unzugänglichen – Seyn des Bewusstseyns;“ (ebd.)

Hier ist m. E. wieder eine Stelle erreicht, wo Fichte den Übergang zu einer positiven Offenbarung hätte legen können: In der Reflexion des Bewusstseins sind unendliche Projektionen und unendliche Teilungsmöglichkeiten des Faktums möglich, doch müsste nicht im Endlichen selbst und in begrenzter Zeit und in individuo die Möglichkeit die Wahrheit einer konkreten Liebe und interpersonal und in individuo vorausgesetzt werden – in der Form einer „Vergebung“, wie A. Mues sagt?

Es wird die allgemeine Repräsentationsform des begrifflichen Wissens in der Bildform dargestellt – siehe jetzt Zitat – aber mĂĽsste nicht das Bild selbst auf eine größere und höhere Wirklichkeit einer notwendigen Sinn-Idee und Satisfaktion und Restitution endgĂĽltig ĂĽberleiten, ein Ur-Bild voraussetzen, das nicht wiederum der bloĂźen Idealform einer abstrakten Idee von Liebe und Seligkeit und der Nachkonstruktion der Gesetzlichkeit der Erscheinung des Absoluten gleicht?

„(….) wo bleibt denn also die Eine, in sich geschlossene und vollendete Welt, als |das eben abgeleitete Gegenbild des in sich selber geschlossenen göttlichen Lebens? Ich antworte: sie bleibt da, wo allein sie ist — nicht in einer einzelnen Reflexion, sondern in der absoluten und Einen Grundform des Begriffes; welche du niemals im wirklichen unmittelbaren Bewusstseyn, wohl aber in dem darüber sich erhebenden Denken wiederherstellen kannst; ebenso wie du in demselben Denken das noch weiter zurückliegende und noch tiefer verborgene göttliche Leben wiederherstellen kannst. Wo bleibt denn nun in diesem, durch unaufhörliche Veränderungen ablaufenden Strome der wirklichen Reflexion und ihrer Weltgestaltung das Eine, ewige und unveränderliche, in dem göttlichen Daseyn aufgehende Seyn des Bewusstseyns? Es tritt in diesen Wechsel gar nicht ein, sondern nur sein Repräsentant, das Bild, tritt darin ein.“ (ebd. S 457.458)

Die allgemeine Reflexionsform und Repräsentationsform soll zwar in ihrem Rückbezug auf das wahre reale Sein des Absoluten in weiterer Folge ausdrücklich nicht intellektualistisch-idealistisch verstanden werden, sondern auf die „Erfahrung“ (ebd. S 459) bezogen sein, weil so überhaupt erst „Erfahrung“ möglich werden kann, aber ist so ein Übergang von der Abstraktion in die Konkretion und der folgenden Ordination der Wirklichkeit tatsächlich in allen Weisen des Lebens möglich?

Es fehlt mir, wenn ich so sagen darf, die über die Vernunftevidenz hinausführende Weise der geschichtliche Evidenz und die Sinn-Evidenz konkreter positiver Offenbarung, beginnend in einer konkreten Du-Erfahrung der Interpersonalität.

Zur Entschuldigung Fichtes sei gesagt, dass gerade um diese Zeit der Verfassung der AsL 1805/1806) von selbst der transzendentale Gedanke ihn bereits zur geschichtlichen Evidenz weiterdrängte! Der Begriff der Liebe zu Gott als bloße Idealform des schematischen Denkens entfällt in seinen noch folgenden Schriften in auffallender, fast befremdlicher Weise!? M. Gerten stellt in seinem Aufsatz (2000) fest: „ Diese Frage des Verhältnisses von religiösem und spekulativ-wissenschaftlichem Standpunkt und damit des Verhältnisses von Seligkeit und Klarheit wird Fichte noch über die Anweisung hinaus beschäftigen. So scheint sich schon in den wahrscheinlich im Anschluss an die Königsberger Wissenschaftslehre von 1807 verfassten Nebenbemerkungen zu 1 eine Einsicht anzubahnen, die »in dieser Klarheit auch noch nicht erkannt worden, u. die W.L. auf eine höhern Punkt, als den der bis jetzt ohngefähren Gleichbedeutendheit mit der Religion sezt«<, und die von Fichte selbst als >>sehr bedeutend«< eingeschätzt wird (GA II/10, 261). Noch auffallender ist aber, dass der Begriff der Liebe in den (bisher publizierten) Fassungen der Wissenschaftslehre, ja selbst in den tiefgehenden religionsphilosophischen Ausführungen der Staatslehre von 1813, zumindest verbal nicht mehr im entferntesten die fundierende Rolle zu spielen scheint, wie in den Anweisungen zum seligen Leben.“1

Zurück zur AsL: Um die Erfahrung zu betonen, hebt Fichte jetzt ausdrücklich hervor: „Nur wird dieses göttliche Daseyn auf den niederen Stufen des geistigen Lebens bloss hinter trüben Hüllen, und in verworrenen Schattenbildern gesehen, welche aus dem geistigen Sinnenorgane, mit dem man sich und das Seyn anblickt, abstammen; klar aber und unverhüllt, ausdrücklich als göttliches Leben und Daseyn es erblicken, und mit Liebe und Genuss in dieses also begriffene Leben sich eintauchen, ist das wahrhaftige und das unaussprechlich selige Leben.“ (ebd. rückblendend, 3. Vorlesung, S 444),

„Das Seyn ist an sich allerdings Eins, das einige göttliche Seyn: und dieses allein ist das wahrhaft Reale in allem Daseyn, und bleibt es in Ewigkeit. Dieses Eine Seyn wird durch die Reflexion, welche im wirklichen Bewusstseyn mit jenem unabtrennlich vereinigt ist, in einen unendlichen Wechsel von Gestalten zerspaltet. Diese Spaltung ist, wie gesagt, eine schlechthin ursprüngliche und im wirklichen Bewusstseyn niemals aufzuhebende, oder durch etwas anderes zu ersetzende: die wirklichen Gestalten somit, welche durch diese Zerspaltung das an sich Reale erhalten hat, lassen sich nur im wirklichen Bewusstseyn, und so, dass man sich demselben beobachtend hingebe, — leben und erleben; keinesweges aber erdenken und a priori ableiten. Sie sind reine und absolute Erfahrung, die nichts ist, denn Erfahrung; (…)“ (ebd. Vierte Vorlesung, S 459)

Aus einem Einheitsprinzip des Sich-Wissens und Erkennens lässt sich die ganze Erscheinungs-Wirklichkeit der Welt in ihren Prinzipien, „Gestalten“, „Klassen“, „Arten“ (vgl. ebd. S 460) ableiten, in systematischer Form. Es soll die „fünffache Form ihrer möglichen Ansicht“ als Vorbereitung für das „innere Wesen sowohl, als die äusseren Erscheinungen des wahrhaft seligen Lebens“ herausgestellt werden (vgl. ebd. S 460)

 S 461 Fünfte Vorlesung

Es folgen jetzt die fünf Stufen der Erkenntnis, die insofern zu kennen selbst für die Seligkeit wichtig sind, insofern die Klarheit und das Wissen a) Teil hat an dieser Seligkeit – rückblendend auf die 1. Stunde. „ — das Element, der Aether, die substantielle Form des wahrhaftigen Lebens, ist der Gedanke.“ (ebd. 1. Vorlesung, S 410) als auch b) ein bloßes Gefühl ohne Dauer wäre, deshalb die notwendige vernünftige Durchdringung und Systematisierung der Wirklichkeit.

„Worin sollte denn das Leben und seine Seligkeit sonst sein Element haben, wenn es dieselbe nicht im Denken hätte? Etwa in gewissen Empfindungen und Gefühlen; in Rücksicht welcher es uns gar nichts verschlägt, ob es die gröbsten sinnlichen Genüsse seyen, oder die feinsten übersinnlichen Entzückungen? Wie könnte ein Gefühl, das, als Gefühl, in seinem Wesen vom Ohngefähr abhängt, seine ewige und unveränderliche Fortdauer verbürgen; und wie könnten wir, bei der Dunkelheit, welche aus ebendemselben Grunde das Gefühl nothwendig bei sich führt, diese unveränderliche Fortdauer innerlich anschauen und geniessen? Nein: nur die sich selbst durchaus durchsichtige und ihr ganzes Innere frei besitzende Flamme der klaren Erkenntniss verbürgt, vermittelst dieser Klarheit, ihre unveränderliche Fortdauer.“ (ebd. S 411)

Die Seligkeit besteht in der Vereinigung mit Gott, aber die Grundform des Bildens auf allen Stufen der Erkenntnis ist damit nicht aufgehoben. (vgl. ebd. S 461)

„Selbst in diesem unserm Zusammenfallen mit ihm wird er nicht unser eigenstes Seyn selber, sondern er schwebt uns nur vor als ein fremdes und ausser uns befindliches, an das wir lediglich uns hingeben und anschmiegen in inniger Liebe; er schwebt uns vor an sich als gestaltlos und gehaltlos, für sich keinen bestimmten Begriff oder Erkenntniss von seinem innern Wesen gebend, sondern nur als dasjenige, durch welches wir uns und unsere Welt denken und verstehen. Auch nach der Einkehrung in ihn geht die Welt uns nicht verloren; sie erhält nur eine andere Bedeutung; (…)“ (ebd. S 461)

Zufolge der oben gemachten Unterscheidung zwischen absolutem Sein und Dasein des Absoluten in seiner Offenbarung und Äußerung, eintretend durch das charakteristische, für die Vernunft notwendige „Als“ der Reflexion und Unterscheidung, ist dieses Dasein und Als ein „schlechtin nothwendig (es) Licht“; (ebd. S 461), „das inwendige nemlich, und das geistige Licht.“ (ebd.)

„Dieses Licht, — sich selbst überlassen bleibend, — zerstreut und zerspaltet sich in mannigfaltige und in unendliche Strahlen, und wird auf diese Weise, in diesen einzelnen Strahlen, sich selber und | seinem Urquelle entfremdet. Aber dasselbe Licht vermag auch durch sich selbst aus dieser Zerstreuung sich wieder zusammenzufassen und sich als Eines zu begreifen, und sich zu verstehen als das, was es an sich ist, als — Daseyn und Offenbarung Gottes; bleibend zwar auch in diesem Verstehen das, was es in seiner Form ist — Licht; doch aber in diesem Zustande, und vermittelst dieses Zustandes selber, sich deutend als nichts Reales für sich, sondern nur als Daseyn und Sichdarstellung Gottes.“(ebd. S 461.462)

Durch den Charakter des Wissens ist das göttliche Sein zu einem „ruhenden Sein der Welt überhaupt verwandelt“ (ebd. S 462), „das was an sich, und in Gott lauter That und Leben ist“; (ebd.).

Durch den Charakter der expliziten Als-Reflexion wird die „für das blosse Wissen einfache Welt“ (ebd.) weiter bestimmt und zu einer „besondern Welt“ (ebd.) gemacht.

Die philosophische Durchdringung der Wirklichkeit ist für die Gottseligkeit nach „unentbehrlich“. „(…) — falls nemlich die letzte nicht bloss instinctartig und als ein dunkler Glaube in dem Menschen wohnet, sondern über ihren eigenen Grund zugleich Rechenschaft sich abzulegen begehrt,“ (ebd.)

Es ist durch das Grundgesetz der Reflexion und der sich darauf gründenden Spaltung der Welt a) eine unendliche Reflexionsmöglichkeit gesetzt, aber b) ebenso eine „andere Spaltung unzertrennlich verknüpft“ (ebd.)

Es gibt die Form des Wissens überhaupt, durch die die „aus dem göttlichen Leben entstandene stehende Welt“ (ebd. S 463) hervorgeht, „dagegen die jetzt zu betrachtende nicht unmittelbar das Object, sondern nur die Reflexion auf das Object spaltet und theilet. Jene ist eine Spaltung und Eintheilung in dem Objecte selber: diese ist nur eine Spaltung und Eintheilung in der Ansicht des Objects, nicht, wie jene, gebend an sich verschiedene Objecte, sondern nur verschiedene Weisen, die Eine bleibende Welt innerlich anzusehen, zu nehmen und zu verstehen.“ (ebd. 463)

Die apriorische Reflexionsmöglichkeit überhaupt und die spezifische Reflexionsmöglichkeit der Ansicht der Objekte sind nicht zu trennen, sondern sind in sich zusammenhängend unveränderliche Formen eines einzigen Reflexionssystems:

„Das Resultat der ersten Spaltung ist, wie wir in der vorigen Rede zeigten, die Unendlichkeit; das Resultat der zweiten ist, wie wir damals erwähnten, eine Fünffachheit: somit ist die jetzt behauptete Unabtrennlichkeit beider Spaltungen also zu verstehen, dass die ganze bleibende und nie aufzuhebende Unendlichkeit, in ihrer Unendlichkeit, auf eine fünffache Weise angesehen werden könne;“ (ebd. S 463)

„Im geistigen Sehen wird das, was an sich göttliches Leben ist, zu einem Gesehenen d.i. zu einem vollendet Vorhandenen, oder zu einer Welt. Welches das Erste wäre. Dieses Sehen ist nun immer ein Act, genannt Reflexion, und durch diesen Act, theils als gehend auf sein Object, die |Welt, theils als gehend auf sich selber, wird jene Welt in ein unendliches Fünffaches, oder, was dasselbe sagt, in eine fünffache Unendlichkeit gespalten. Was das Zweite wäre.“ (ebd. S 463.464)

Anders gesagt: Der formale Akt der Reflexion bringt immer die eine grundlegende Spaltung in Objekt und Subjekt hervor. Es kann a) diese grundlegende Akteinheit in ihrer Spaltung dreifach reflektiert, oder es kann b) vom Ende der subjektiven und objektiven Reflexions- und Ansichtsarten her diese Objektivierung insgesamt reflektiert werden als fünffache Unendlichkeit. Fichte verweist auf die 3. Vorlesung und die „verschiedenen möglichen Stufen und Entwicklungsgrade des inneren geistigen Lebens.“ 2

Diese Dreifachheit oder FĂĽnffachheit des Sich-Wissens begegnet uns in den WL von allem Anfang an: a) Sieht man bloĂź auf das actualen Sehen fĂĽr sich, ergibt sich fĂĽr und in der Reflexivität des Ichs diese unendliche Dreifachheit des Sehens, oder b) es werden die genetischen Punkte von Grund (als Anfang) und Folge (als bestimmtes und bestimmbares Ende) hinzugezählt, so ergibt sich eine FĂĽnffachheit des Bestimmens: Natur, Recht, Moralität, Religion und die Reflexivität der Ichheit selbst. Es sind zwei Bestimmtheiten, Natur und Recht – und zwei Bestimmbarkeiten, Moralität und Religion, schlieĂźlich die Form der Reflexivität des Ichs.

Es herrscht immer ein Grund-Folge-Verhältnis in jeder Disjunktionseinheit des Wissens. Ich verweise zur Erläuterung auf die WL 1804/2. Dort ist z. B. im 21. Vortrag der begrifflich aufbereitete Ort erreicht, dieses Verhältnis der Wissbarkeit von Grund und Folge – und Nexus derselben – als „Genesis“ zu fassen.
Grund und Folge sind eine lebendige Einheit. Die Teile sind nicht äußerlich in faktischer Einheit zusammengestellt, nicht bloß nebeneinander und isoliert, sondern die Teile bilden untereinander eine dreifache und disjunktive Einheit, bzw. eine fünffache Einheit geschlossenen Sehens. „Grund“ und „Folge“ sind in einem Modus des Bildens und Sich-Bildens miteinander gesetzt. Kein Teil kann ohne dem andern sein. Es ist ein Verhältnis von gegenseitiger Abbildung und wechselseitiger Wirkung.

Anders gesagt: „Grund“, „Folge“, „Nexus“ bilden für sich nicht das Ganze, rücken aber auch nicht außerhalb des Ganzen, denn sie sind als Teile nur durch das Ganze zu begreifen.

„Der Nexus ist (…) keine bloĂźe „Indifferenz“ von Grund und Folge. Er ist vielmehr des „GrĂĽnden“ der Folge in ihrem Grund und zugleich das „Folgen“ aus dem Grund. (…) Die eigentĂĽmliche Denkschwierigkeit in der Erörterung der transzendentalen Struktur des Genesisbegriffs stammt aus einer besonderen Konsequenz seiner Eigenart: er ist Disjunktionseinheit von conditio und causa. Aus ihm „folgen“ daher zwei verschiedene Resultate: (1) consequens und (2) effectus.“3

Es folgt in der AsL jetzt die Aufzählung der vom Ende der Genesis des Sich-Wissens her gesehenen Subjekte und Objekte des Gesehenen (der Reflexibilität):

1) „Die erste, niedrigste, oberflächlichste und verworrenste Weise, die Welt zu nehmen, ist die, wenn man dasjenige für die Welt und das wirklich Daseyende hält, was in die äusseren Sinne fällt: dies für das höchste, wahrhafte und für sich bestehende.“ (ebd. S 465.466)

2) „Die zweite, aus der ursprünglichen Spaltung möglicher Ansichten der Welt hervorgehende Ansicht ist die, da man die Welt erfasset als ein Gesetz der Ordnung und des gleichen Rechts in einem Systeme vernünftiger Wesen. Verstehen Sie mich gerade also, wie die Worte lauten. Ein Gesetz, und zwar ein ordnendes und gleichendes Gesetz für die Freiheit mehrerer, ist dieser Ansicht das eigentliche Reale und für sich selber Bestehende; dasjenige, mit welchem die Welt anhebt, und worin sie ihre Wurzel hat.“ (ebd. S 466)

3)„Die dritte Ansicht der Welt ist die aus dem Standpuncte der | wahren und höheren Sittlichkeit. Es ist nöthig, über diesen, dem Zeitalter so gut als ganz verborgenen Standpunct sehr bestimmte Rechenschaft abzulegen. — Auch ihm ist, ebenso wie dem jetzt beschriebenen zweiten Standpuncte, ein Gesetz für die Geisterwelt, das höchste, erste und absolut reale; und hierin kommen die beiden Ansichten überein. Aber das Gesetz des dritten Standpunctes ist nicht, so wie das des zweiten, lediglich ein das vorhandene ordnendes, sondern vielmehr ein das neue und schlechthin nicht vorhandene, innerhalb des vorhandenen, erschaffendes Gesetz. (ebd. S 468.469).

„Sein Zweck lässt sich kurz also angeben: es will die Menschheit in dem von ihm Ergriffenen, und durch ihn in andern, in der Wirklichkeit zu dem machen, was sie ihrer Bestimmung nach ist, — zum getroffenen Abbilde, Abdrucke und zur Offenbarung des inneren göttlichen Wesens.“ (ebd. S 469)

4) „Die vierte Ansicht der Welt ist die aus dem Standpuncte der Religion; welche, falls sie hervorgehet aus der dritten soeben beschriebenen Ansicht, und mit ihr vereinigt ist, beschrieben werden müsste als die klare Erkenntniss, dass jenes Heilige, Gute und Schöne keinesweges unsere Ausgeburt, oder die Ausgeburt eines an sich nichtigen Geistes, Lichtes, Denkens, — sondern, dass es die Erscheinung des inneren Wesens Gottes, in uns, als dem Lichte, unmittelbar sey, — sein Ausdruck und sein Bild durchaus und schlechthin, und ohne allen Abzug also, wie sein inneres Wesen herauszutreten vermag in einem Bilde. Diese, die religiöse Ansicht, ist eben diejenige Einsicht, auf deren Erzeugung wir in den bisherigen Vorlesungen hingearbeitet haben, und welche wir nun, in dem Zusammenhange ihrer Grundsätze, schärfer und bestimmter also ausdrücken können. 1) Gott allein ist, und ausser ihm nichts: — ein, wie mir es scheint, leicht einzusehender Satz, und die ausschliessende Bedingung aller religiösen Ansicht. 2) Indem wir nun auf diese Weise sagen: Gott ist; haben wir einen durchaus leeren, über Gottes inneres Wesen schlechthin keinen Aufschluss gebenden Begriff. Was wollten wir denn aus diesem Begriffe auf die Frage antworten: Was denn nun Gott sey? — Der einzig mögliche Zusatz, dass er absolut sey von sich, durch sich, in sich, ist selbst nur die an ihm dargestellte Grundform unsers Verstandes, und sagt nichts weiter aus, als unsere Denkweise desselben; noch dazu nur negativ, und wie wir ihn nicht denken sollen, d.h. wir sollen ihn nicht von einem Andern ableiten, so wie wir, durch das Wesen unsers Verstandes genöthiget, mit andern Gegenständen unsers Denkens verfahren.“ (ebd. S 470)

Es bleibt hier nur ein apo-phatische Rede von Gott übrig, wie Gott nicht ist, weil er kraft der Reflexion im Begriff nicht zu erfassen ist. Es bleibt das absolute Sein Gottes nur als „Leben“ übrig, „als dein eigenes Leben, das du leben sollst und leben wirst. Nur noch die Eine, unaustilgbare Form der Reflexion bleibt, die Unendlichkeit dieses göttlichen Lebens in dir, welches in Gott freilich nur Eins ist; (…)“ (ebd. S 471)

Dieses Leben ist das, was ein „heiliger Mensch thut, lebet und liebet, (….)“ (ebd.)

5) „Die fünfte und letzte Ansicht der Welt ist die aus dem Standpuncte der Wissenschaft. Der Wissenschaft, sage ich, der Einen, absoluten und in sich selber vollendeten. Die Wissenschaft erfasset alle diese Puncte der Verwandlung des Einen in ein Mannigfaltiges, und des Absoluten in eine Relatives, vollständig, in ihrer Ordnung und in ihrem Verhältnisse zu einander;“ (ebd. S 472)

Die Wissenschaft steht vom Inhalt der Einsicht her nicht über der Religion, denn wie könnte über das innige Erfassen der Liebe und des Heiligen noch hinausgegangen werden? Die Wissenschaft erfasst nur die Struktur, das Wie des Zueinanders der verschiedenen Weltsichten.

M. Gerten beschreibt es so: „ (…)die Wissenschaftslehre keine Ăśberbietung des Standpunktes der Religion sein: sie stellt vielmehr insofern den fĂĽnften und obersten Standpunkt dar, als sie qua Vernunft- oder Wissenslehre die vollendete Klarheit durch RĂĽckfĂĽhrung aller Mannigfaltigkeit auf Einheit leistet und so auch die anderen Standpunkte aus der Gesetzlichkeit der Vernunft selbst ĂĽberblicken und in ihrer Nichtigkeit wie in ihrer relativen Notwendigkeit einsehen kann. Die Wissenschaftslehre beansprucht, aus der obersten Perspektive des Einen Wissens dieses selbst sowie die vier anderen Perspektiven zu vereinigen und zu verstehen, während alle anderen Standpunkte das fĂĽnffache Ganze von Natur, Recht/niederer Moralität, Ideen/höherer Moralität, Religion und Wissen durch ihre einseitige Perspektive verzerren. In ihrer tieferen Entfaltung als apriorische Weltbildlehre könnte die Wissenschaftslehre zugleich einen entscheidenden theoretischen Beitrag zur vernĂĽnftigen und argumentativen Lösung des fĂĽr die Menschheit bisher so katastrophalen Streites der Weltanschauungen liefern.“ 4

Der religiöse Mensch glaubt an diesen absoluten Einheitsgrund aller Mannigfaltigkeit, liebt affektiv das Ewige, tut das Heilige; die Wissenschaft bringt zudem jetzt zudem Klarheit in die Form hinein – und ist insofern eine zusätzliche moralische Aufgabe.

Für die Wissenschaft wird „(…) genetisch, was für die Religion nur ein absolutes Factum ist. Die Religion ohne Wissenschaft, ist irgendwo ein blosser, demohngeachtet jedoch unerschütterlichen Glaube: die Wissenschaft hebt allen Glauben auf und verwandelt ihn in Schauen. — Da wir hier diesen wissenschaftlichen Standpunct keinesweges als zu unserem eigentlichen Zwecke gehörig, sondern nur um der Vollständigkeit willen angeben, so sey es genug, über ihn nur folgendes hinzuzusetzen. Das gottselige und selige Leben ist durch ihn zwar keinesweges bedingt; dennoch aber gehört die Anforderung, diese Wissenschaft in uns und andern zu realisiren, |in das Gebiet der höheren Moralität.“(ebd. S 472.473)

Für Fichte tut sich jetzt folgendes Problem auf: Für die Religion wie für die Sache der Wissenschaft könnte das rein abstrakt und theoretisch als bloß „stehende und ruhende Ansicht, die im Inneren des Menschen bleibt, keinesweges aber zu einem Handeln treibend.“ (ebd. S 473) gesehen werden?
Aber das wäre eine falsche Sicht, bloß „brütend über andächtigen Gedanken“ (ebd.), denn notwendig geht die Religion über zur Legalität und höheren Moralität.

(c) Franz Strasser, 25. 7. 2023 

 

1Michael Gerten, Das Verhältnis von Wissen, Moralität und Liebe. Zum Philosophiebegriff des späten Fichte. In: Fichte-Studien, Bd. 17., NY 2000, S 317.318.

2„Unser Leben ist nur dasjenige, was aus jenem nach dem Gesetze zu Stande gekommenen, von uns mit klarem Bewusstseyn erfasst, und in diesem klaren Bewusstseyn geliebt und genossen wird. Wo die Liebe ist, da ist das individuelle Leben, sagten wir einmal: die Liebe aber ist nur da, wo da ist das klare Bewusstseyn.“ (ebd. S 432)

3Joachim Widmann: Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens nach Joh. Gottl. Fichtes Wissenschaftslehre WL-1804-II, Hamburg 1977, S 130.

4Michael Gerten, Das Verhältnis von Wissen, Moralität und Liebe. Ebd.,  S 317.

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser