1) Die Verhältnisbestimmung von (subjektiven) Erkenntnisbedingungen und (objektiven) Gegenstandsbedingungen macht die spezifische transzendentale Erkenntnistheorie Kants aus, das Denken der Möglichkeit von Erfahrung nach reflexiv nachvollziehbaren Bestimmungsgründen. Die Einheit des „Ich denke“ steht in einer Geltungsdifferenz zur Wahrheit in der Übereinstimmung mit der Erfahrung.
In zahlreichen Verwendungen taucht bei KANT die Synthesis der transzendentalen Apperzeption auf – z. B. in der „Transzendentalen Analytik“, Ausgabe A der KrV, auf – und wird in der Ausgabe B § 16 ff sogar noch stärker betont (im Vergleich zu A) – siehe z. B. KrV B 132ff u. diverse andere Stellen.
KANT wollte damit die sein kritisches Geschäft leitende Frage auflösen, „ob man nicht die menschliche Vernunft zwischen diesen beiden Klippen (sc. zwischen einem dogmatischer Idealismus wie z. B. bei G. BERKELEY und einem empirischen Skeptizismus eines HUMES) glücklich durchbringen (könne) (…)“ (KrV, B 128).
Vor allem in der 2. Auflage der KrV wird er nicht müde zu betonen, dass die Deduktion der apriorischen Verstandesbegriffe durch die Funktion der transzendentalen Apperzeption geleistet wird, aber, so die crux und der Zirkel, die Kategorien gelten nur für die „(…) Gegenstände möglicher Erfahrung“ (KrV, B 166; oder siehe § 24, KrV, B 149ff). Wie kann er das wissen?
Es ist ein genialer Gedanke – in der Traditionsgeschichte als species sensibilis und species intelligibilis immer schon da gewesen: In einer rationalen Synthesis wird die Mannigfaltigkeit der sinnlichen Anschauung zusammengefasst und als „species“ benannt, doch gerade die schematisierende Vermittlung einer intellektuellen Synthesis (die Apperzeption des „Ich denke“) mit der sinnlicher Anschauung – das ist das Problem, das verlangt selbst eine apperzeptive Form des Wissens, worin im Schematisieren a) die Zeit und der Raum und b) die Innenwelt (des Geistes) und die Außenwelt (der Sinne) gleichzeitig hervorgehen, anstatt bloß faktisch nebeneinander und parallel gestellt zu werden.
Es können sogleich Zweifel aufkommen: Wer oder was garantiert, dass diese Verhältnisbestimmung Denken (und dessen Tätigkeit) für die Mannigfaltigkeit in der Erfahrung wahr und gültig ist? Wie begründet ist die Schematisierung und Deduktion der apriorischen Begriffe auf die Anschauungsformen Zeit und Raum? 1
Gestehe ich, rein hypothetisch jetzt formuliert, dem „Ich denke“ einen asymmetrischen Gebrauch zu, dass alle späteren synthetischen Erkenntnisse, sei es die eines sinnlichen Gegenstandes oder eines intelligiblen Inhaltes, oder z. B. der Anschauungsformen Zeit und Raum, oder der Mathematik, oder der fraglichen Ideen Gott, Welt, Seele, darin gebündelt und synthetisiert sind, kann ich ex concessis und im Gegensatz vielleicht sagen, das „Ich denke“ ist eine analytische Einheit, weil sie nicht von den späteren synthetischen Einheiten abhängig ist. Trotzdem ist das „Ich denke“ als Geltungsform und Gültigkeit nur eingeschränkt gültig, denn es soll ja auf die mögliche Erfahrung fix und dauerhaft und faktisch bezogen sein. Über diese Restriktion der möglichen Erfahrung hinaus kann ich keine allgemeingültigen synthetischen Erkenntnisse a priori aus dem „Ich denke“ ableiten. (Die Ideen Gott, Welt, Seele, fallen dabei aus dem Kriterium möglicher Erfahrung heraus. Sie kommen aber als Postulate wieder in Frage.)
Anders gesagt: Mein „Ich denke“ und die apriorischen Begriffe und synthetischen Urteile a priori haben einen genau begrenzten Gebrauch und einen erkenntniskritischen Rahmen. Was darüber hinausgeht, ist dialektischer Schein.
Kant erstellt sozusagen ein geistiges Gebäude, wie die Tätigkeiten des Geistes zu einer Funktion von Anschauung, Begriffen, Urteilen, Schlüssen aufgebaut werden können, alles gegliedert in einer hierarchischen Anordnung und in einer Art von System. „Auf solche Weise sind synthetische Urtheile a priori möglich, wenn wir die formalen Bedingungen der Anschauung a priori, die Synthesis der Einbildungskraft und die nothwendige Einheit derselben in einer transscendentalen Apperception, auf ein mögliches Erfahrungserkenntniß überhaupt beziehen und sagen: die Bedingungen | der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung, und haben darum objective Gültigkeit in einem synthetischen Urtheile a priori.“ (KrV B 197)
2) Das Wörtchen „und“ ist das gefährlichste Wort der deutschen Sprache, so Fichte, denn es scheint zusammenzufassen, was nicht zusammenpasst – hier bei Kant: Ja, sobald die transzendentale Möglichkeit des Denkens und die Gegenstände der Erfahrung als übereinstimmend behauptet werden können, dann haben wir objektive Gültigkeit erreicht. Das „und“ ist aber absolut unbegründet, denn es ist gar nicht erklärt, wie und warum Erkenntnisbedingungen und Seinsbedingungen übereinstimmen können. Es wird nur behauptet.
Die von mir anfangs zugestande „analytische“ Einheit ist aus der späteren Fichte-Lektüre eine synthetische Einheit. Sie kann sich selbst nicht begründen und einsehen und bezieht ihre ganze Sonderstellung nur durch diese scharfsichtig eingeführte, axiomatisch-deduktiv Bestimmung: Das „Ich denke“ soll die Vorstellungen begleiten und vereinen können ……… Irgendeine Einheit der Erkenntnis brauchen wir, deshalb setzen wir das axiomatisch so fest. Bei den Sinneseindrücken kann nicht begonnen werden, wie D. Hume und Locke den Kant vielleicht inspiriert haben, aber umgekehrt ohne Sinneseindrücke geht es ebenfalls nicht, deshalb muss ein Drittes der Vermittlung existieren – die von Kant (als System?) entworfene transzendentale Erkenntnisart.
3) Die offenen Fragen und internen Schwierigkeiten lösen sich bei Fichte.
Er hat intensiv Kant studiert und durch andere Philosophen ist er in Zweifel an Reinhold und Kant geraten. Er suchte intensiv eine Einheit der Erkenntnis, die in sich selbst begründet und gerechtfertigt ist – und in ihrer Apriorizität dann anwendbar auf die ganze Wirklichkeit, kantisch gesprochen, auf die „mögliche Erfahrung“.
Es ist der spannende Weg zu dieser wahren analytisch-synthetischen Einheit hinlänglich oft dargestellt worden. (Literatur, siehe Teil 1, Anm. 3)
Ich fasse deshalb nur zusammen: Die These von KANT soll weiterhin gelten, dass „(…) die Erkenntnisbedingungen auch die der Gegenstände selbst (sind) „ (KrV, A 158), aber höherwertig begründet. Kant setzt das Transzendental der Wahrheit nur voraus, ohne es begrifflich zu durchdringen. Ohne ein, wie FICHTE sagt, „genetisches“ Wissen um die Einheit von Erkennen und Sein bleibt ewig eine unüberbrückbare Diskrepanz zwischen Denken und Sein.
Der Weg der Überbrückung von Denken zu Sein und umgekehrt vom Sein zum Denken, der muss eine totale Schematisierung sein, worin sowohl evident das tätige Erkennen wie das Erkannte eingesehen werden kann. FICHTE wird es dann so sagen: “Kant, der die Kategorien ursprünglich als Denkformen erzeugt werden läßt, und der von seinem Gesichtspunkte [sc. der Kritik] aus daran völlig Recht hat, bedarf der durch die Einbildungskraft entworfnen Schemate, um ihre Anwendung auf Objekte möglich zu machen” (J. G. Fichte, “Grundriß des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre”, Akad.-Ausg. 1,3,189).
“In der Wissenschaftslehre [sc. als einem System der Vernunft] entstehen sie [sc. die Kategorien] mit den Objekten zugleich und um dieselben erst möglich zu machen, auf dem Boden der Einbildungskraft selbst.” (Ebd.).
Fichte fühlte sich eigentlich mit Kant im Reinen, wie er oft sagen wird, obwohl er natürlich dessen Bedingtheiten voll einsah. Er fühlte sich mit ihm auf dem gleichen Weg und im gleichen Anliegen verbunden: Vernunftkritische Erkenntnis der Prinzipien der Wirklichkeit im Ganzen zu leisten und das im philosophischen Vollzug entsprechend darzustellen.
4) Ich will die immense Leistung FICHTES (als Lösung dieser Fragen) hier nur noch kurz skizzieren: Es ist das „Schweben der Einbildungskraft“, das in Unterschiedenheit, aber nicht in Wohlunterschiedenheit, in Unschärfe, sowohl Anschauung wie Begriff der Objekte (Innenwelt wie Außenwelt) schafft und vermittelt. Das Schweben (dia-legein) der Einbildungskraft zwischen dem durch den „Anstoß“ (oder Hemmung, oder Aufforderung) verendlichten und dem die Unendlichkeit ausfüllenden Ich liefert ein Bestimmbares, das von der Vernunft bestimmt werden kann. Das ergibt eine genetische Fünffachheit der Reflexion, den Geltungsbereich der Natur, des Rechts, der Moral und der Religion und die Geltungsform des Sich-Wissens, der Wissenschaft. Diese Geltungsbereiche werden vermittelt gemäß Gesetzen der Implikation und Apposition. Es ergeben sich Evidenzen der Natur, des Logos, der Geschichte, des Sinns.
Vom Begriff der Vernunft aus, eingeschaut als Tätigkeit und Tathandlung, verfolgt die Wissenschaftslehre die systematische Konstitution der einen „Welt“ , der Innen- und Außenwelt und den Aufbau einer „geistigen Natur“ (der Vernunftwelt unter Einbeziehung von Geschichte und der Sinnidee).
Die apriorischen Begriffe, die bei Kant in der 1. Auflage KrV noch die ganze transzendentale Erkenntnisart tragen sollen,2 sind nicht wunderbar und unbegründet festgestellt und als Verhältnisbestimmungen zwischen Denken und Sein einfach behauptet, sondern genetisch gebildete, abgeleitete Begriffe.
“Das Vernünftige Wesen handelt; u. handelt auf eine gewisse bestimmte Art. Man findet in seinem Handeln etwas einförmiges, festes, stets wiederkommendes: z. B. den Begriff der Kausalität [angewendet). Diese Handelsweisen [des Verstandes] heissen, nachdem sie begriffen sind, […] AllgemeinBegriffe, wenn man die implicite Regel in Sätze bringt, Grundsätze der Vft.” (Fichtes Vorlesungen über Platners „Philosophische Aphorismen“ 1794-1812; J. G. Fichte, Akad.-Ausg. II, 4, 49)
“Auf Veranlassung eines […] Anstoßes auf die ursprüngliche Thätigkeit des Ich produciert die […] Einbildungskraft etwas […] zusammengeseztes (cf. das Bestimmbare). Da im Ich, laut seines Begriffes, nichts seyn kann, das es nicht in sich setze, so muß es auch jenes Faktum in sich setzen, d.i. es muß sich dasselbe ursprünglich erklären, vollständig bestimmen und begründen. Ein System derjenigen Thatsachen, welche in der ursprünglichen Erklärung jenes Faktum im Geiste des vernünftigen Wesens vorkommen, ist eine […] Wissenschaftslehre […]. Ich sage mit Bedacht: die ursprüngliche Erklärung jenes Faktum. Dasselbe ist ohne unser wissentliches Zuthun in uns vorhanden; es wird ohne unser wissentliches Zuthun […] nach den Gesetzen und der Natur eines vernünftigen Wesens erklärt.” (Gr.d. E., Akad.Ausg. 1,3, 143.)
Die Form der Einbildungskraft bezieht sich notwendig auf einen materialen, qualitativen Gehalt des Wissens – wie KANT auf dem Prinzip der Erfahrung bestand in der Bestimmung der transzendentalen Erkenntnisart -, aber gerade an und in diesem Gehalt (Hemmung oder Anstoß oder interpersonalem Aufruf) verzeitet und versinnlicht sich der Setzungs- und Seinsgrund des Bewusstseins. Es ist eine Form einer sich-verzeitenden Selbstanschauung in der Einbildungskraft – nicht unterbestimmt in der Form des objektivistisch vorausgesetzten „inneren Sinnes“ wie bei KANT – aber auch nicht überbestimmt in der Form eines göttlichen Verstandes, der zugleich anschaut, was er begrifflich denkt. Durch das Schweben der Einbildungskraft werden Begriff und Anstoß – primär als Aufruf zu verstehen, dann als sinnliche Hemmung – zu einer Anschauung verarbeitet und sukzessive verleiblicht, verobjektiviert und verzeitet und verräumlicht.
(c) Franz Strasser, 19. 10. 2021
———————-
1 (…) die „Art [zu erklären, wie sich Begriffe a priori [die Kategorien bzw. die reinen Verstandesbegriffe] auf Gegenstände beziehen können. (KrV B 117)
2 In der 2. Auflage B der KrV gibt KANT eingangs eine nominale Definition, was transzendentale Erkenntnisart sei: „Ich nenne alle Erkenntniß transscendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnißart von Gegenständen, so fern (Hervorhebung von mir) diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt.“ (KrV, B 25)
Es ist aber nochmals ein eigenes Problem, wenn KANT unter „transzendentaler Erkenntnisart“ hier in der Auflage B (1787) bereits etwas anderes versteht als in der Auflage A (1781) Die oben zitierte Stelle der 2. Auflage B 25 inkludiert ausdrücklich die mögliche Erfahrung als Gültigkeitskriterium. Die 1. Auflage der KrV spricht von „Begriffen a priori von Gegenständen überhaupt“ (KrV A 11) und lässt m. E. eine weitere Interpretation als das restriktive Moment der „möglichen Erfahrung“ zu.