Die Natur des Menschen in der Tiefenpsychologie – 1. Teil

Die herkömmlichen Deutungen S. Freuds verlaufen etwa in diese Richtung: a) Der Mensch sei in seiner psychischen Natur determiniert durch die Versagungen in der frühen Kindheit; b) weiters sei er durch ein biologistisches Libidokonzept bestimmt. Wo der Trieb und die (im letzten sexuelle) Lust keine Befriedigung finden, wirken sie destruktiv; c) die menschlichen Krankheiten seien Regressionen und weisen kein Potential einer positiven, lebensbejahenden Kraft auf.

Unser ganzes Verhalten und Denken, unsere Kultur und unsere Sublimierungen, sie sind letztlich rein auf bio-physische und entwicklungsbedingte und historische Grundprozesse zurückzuführen.

Alfred Adler und Carl Gustav Jung haben S. FREUD bereits zu Lebzeiten widersprochen, weil sie andere Teile des Trieblebens vermissten. Interessant ist, dass selbst S. FREUD durchaus andere Interpretationen zulässt, wie W. Pieringer zu meinem Erstaunen ausgeführt hat.
Interpretierte ich zu Unrecht S. Freuds Psychoanalyse nur reduktionistisch d. h. seine ganze Theorie vom Unbewussten und Bewussten zurückbezogen und begründet auf naturale Evidenzen biophysischer Vorgänge und Reize?

Ich beziehe mich zuerst auf einen Artikel von Prof. Primarius Walter Pieringer, Die Natur des Menschen in der Tiefenpsychologie, in: Dimensionen der Psyche. Bewusstes und Unbewusstes, Hrsg. v. R. Kögerler und H. G. Zapatocky, Forum St. Stephan Wien 1990, 91 – 104.

1) S. FREUD geht – so die Charakteristik v. W. Pieringer – von einem dualistischen Konzept einer Leib-Seele-Trennung aus, doch ist damit lange nicht gesagt, dass das Ich des Menschen den physiologisch-biologischen Mechanismen und historischen Entwicklungsgesetzen machtlos und determiniert gegenüberstehen müsse. W. Pieringer bringt Zitate von S. Freud, in denen dieser durchblicken lässt, dass er neben reduktionistischen Erklärungen z. B. von Zwangshandlungen, auch symbolische, die  physiologischen und biologischen Abläufe transzendierende Erklärungen, zulässt. S. FREUD verfalle zwar gut und gerne einem Reduktionismus in der letzten Erklärung psychischer Phänomene, aber manchmal ist eine teleologische, den naturkausalen Ablauf transzendierende Sinnerklärung nicht zu übersehen! (Genauere Belege siehe dort bei W. Pieringer).

Der Triebverzicht z. B. sei nicht nur negativ besetzt, als übe er nur einen Zwang aus gegen das biologische Streben des Menschen, sondern hat durchaus eine transzendierende, konstitutive Bedeutung für Geist und Kultur und vielfältige lebenserhaltende Resultate.  

Das Thema des Ödipuskomplexes muss nicht auf die negative Bewertung der Mordtat beschränkt bleiben, es kann durchaus ein sinnvolles Opfer geben. Ebenso hat das Phänomen der „Wiederholungen“ durchaus lebensfördernde Ziele. Sie sind notwendige Grundlagen des Einlernens und Behaltens. Die Begriffe wie Aggression, Liebe und Ethik im Aufsatz „Unbehagen an der Kultur“ müssen nicht naturkausal verstanden werden, als sei überall nur Triebunterdrückung der Aggression und der Sexualität am Werk, sondern durchaus können diese Triebkräfte eine weiterführende, über die sinnliche Natur hinausgehende Funktion haben. Der Triebverzicht im „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ lässt ebenfalls eine frei sich bestimmende Reflexion des Ichs zu, sodass keineswegs durch die Triebregungen aus dem „Unbewussten“ und durch die Vorschriften des Über-Ichs die Religion eine frei erfundene Sache und Kompensation sein müsse. 

2) W. Pieringer zeichnet im Anschluss und in Parallele zur Tiefenpsychologie S. FREUDS eine, ich möchte sagen, vernunftorientierte, transzendierende Naturkonzeption nach,  die nach einer, das ganze Wesen des Menschen umfassenden Realisation von Sinn- und Werterfahrung strebt. Er beruft sich dabei auf Erkenntnisse der modernen Physik, der modernen Biologie, der Kreativitätsforschung, und kommt  so zu einem hierarchischen Ordnungsmodell der Natur des Menschen, das  geradezu „diametral“ entgegengesetzt zu den bisherigen Tendenzen einer reduktionistischen Deutung der Tiefenpsychologie S. Freuds liegt.  W. Pieringer orientiert sich dabei an „natürlichen Kräften“ nach F. Preuß, der Aufbau des Menschen, 1987.
Dieser unterscheidet zwischen:  a) material-energetischer Dingweltstufe
b) einer vital-energetischen Lebensweltstufe und
c) einer mental-energetischen Geistesweltstufe. (Siehe b. W. Pieringer, S 97)

Gemäß freudscher Tiefenpsychologie gibt es eine entwicklungsgeschichtliche Hierarchie, wonach die Entwicklung der jüngeren von der vorherigen, älteren Entwicklungsstufe abhängig ist, aber im Sinne einer „Rhythmusfolge“ bedingen sich ältere und jüngere Stufe. Das ergibt nach W. Pieringer vier „Modalitäten“ (Wesen des Seins):
a) die ästhetische Natur des Menschen
b) die ethische Natur des Menschen
c) die ökonomische Natur des Menschen
d) die kultische Natur des Menschen.

Er nennt dann vier Temperamente und die vier primären Entwicklungsstufen der frühen Kindheit, wie sie die Tiefenpsychologie FREUDS aufgestellt hat.
a) Der ästhetischen Natur entspricht die narzißtische Phase,
b) der ethischen Natur die oral-aggressive Phase,
c) der ökonomischen Natur die anale,
d) und der kultischen Natur die früh-genitale Phase.

Summa summarum ergibt sich aber damit nicht ein kausal-mechanistisches, durch biologische Determinanten und  historisch-gesellschaftliche Triebunterdrückung geprägtes Menschenbild, sondern ein auf die Triebkräfte und Triebregungen aufbauendes Menschenbild, das vielfältige Transzendenzerfahrungen zulässt.

3) Ob Walter Pieringer die Trieblehre von FICHTE kennt, weil er eingangs kurz die Transzendentalphilosophie anspricht?  Die Phänomene, die von S. FREUD beschrieben worden sind, müssen nicht biologistisch allein interpretiert werden – wozu durchaus bei S. FREUD selbst Ansätze zu finden sind. Die Sicht des „Ich“ gegen die Triebbestrebungen des „Es“ in einer Gesamtkonzeption bei S. FREUD weist ja darauf hin, dass eine Selbstbestimmung gesucht wird, sei es im sinnlich-naturalen wie im kulturell-ideellen Bereich des Menschseins – nur fehlten eben, so meine historisch nicht abgesicherte Meinung, die philosophischen Grundlagen um die Zeit 1900, als S. FREUD im widersprüchlichen bis dekadenten Wien sein Weltbild schuf.

Die von W. Pieringer angedeuteten Phänomene als vierModalitäten des Seins“ sind bereits eine Art reflexiver Durchdringung der Phänomene der menschlichen Natur im Sinne einer transzendentalkritischen Erklärung, d. h. dass die Phänomene nur aus einem Akt-Charakter einer höheren Zweckbestimmung verstanden werden können. 

4) Natürlich habe ich nur manche berühmte Schriften S. FREUDS gelesen. Diese meine folgende Interpretation mag deshalb etwas dürftig ausfallen.

M. E. war S. FREUD a) von den naturwissenschaftlich-induktiven Messungen der körperlichen Natur des Menschen recht angetan; ferner dürfte er b) das transzendentalkritische Erkennen nach  Kant und Fichte nicht kennen gelernt haben (umso schlimmer für die Philosophie dieser Tage in Wien); c) die sich bietenden Alternativen von Schopenhauer und Schelling, die er gelesen hat, waren allesamt bloß spekulative und unbegründete, deterministische Annahmen; schließlich dürfte die d) gesellschaftliche Wirklichkeit des ausgehenden Jahrhunderts in Wien (oder anderen Städten; es dürfte in Berlin ähnlich gewesen sein)  wirklich psychisch krankmachend und triebunterdrückend gewesen sein. (Ich kenne hier nur die Literatur von Joseph Roth, Arthur Schnitzler, Stefan Zweig.)  Das Bild des Menschen war naturphilosophisch so axiomatisiert und relationiert – historisch von mir nicht abgesichert -, dass es auf eine biophysische Systemeinheit hingeordnet war – und aus dieser naturalen Einheit wurde ein prinzipieller Ansatz des Erkennens gesucht.

Dass aber die Triebregungen selbst als Anlass einer Freiheitsverwirklichung und höheren Sinnverwirklichung sein könntenwie z. B. W. Pieringer oder F. Preuß das Streben des Menschen und die Tiefenpsychologie S. FREUDS deuten – dazu fehlte offensichtlich die transzendentale Sicht und die transzendentale Philosophie um 1900. 1

Wenn ich nur ein Zitat von S. Freud bringe: „Sehen Sie nicht, dass die Vielheit dieser Triebe auf die Vielheit der Organe zurückgeht, die alle erogen sind….? Brief von Freud an Oskar Pfister vom 9. Okt. 1918.  Das ist eine totale Hinordnung auf eine bio-physische Erklärungsquelle. 

5) Ich möchte zwei erkenntniskritische Fragen stellen:
a) Nach S. Freud ist die Quelle eines Triebes ein körperlicher Reiz, eine Art bio- physischer, chemischer Spannungszustand. Der Trieb setzt eine reale Verursachung voraus, kann sie aber nicht selber herbeiführen. Das Denken der realen Ursache bleibt dem
Vorstellen überlassen. Ist die konstante, sinnliche Reizanflutung, denen der Organismus nicht ausweichen kann, die alleinige Triebfeder für das Funktionieren des psychischen und physischen Apparates? Wenn sie alleinige Triebfeder wäre, wäre der Mensch determiniert und es käme in einer Triebbefriedigung theoretisch zu keinem weiteren Reizaufbau, wenn es nicht eine andere Quelle über den sinnlichen Reizabbau hinaus gäbe, die einen anderen Zweck wieder voraussetzt, wodurch der Spannungszustand wieder erzeugt wird. Was ist die transzendentale Bedingung der Möglichkeit des Weiterbestehens des Triebes, wenn es doch nicht die sinnliche Quelle allein sein kann, die für sich keinen teleologischen und zeitlichen Zweck kennt, sondern höchstens ein teleonomisches Geschehen darstellt? Ein rein biophysischer und chemischer Vorgang kennt keinen Zweckbegriff, keine Zeit, und verlangt keinen Reizaufbau oder Reizabbau und keine Triebbefriedigung. Denn es musste ja alles naturkausal, zeitlos bestimmt sein. Der  „Trieb“ aber, so jetzt die fichteschen Erkärung, ist keine kausal-mechanische, physikalische Erkärungsform, sondern eine hochabstrakte, transzendentale Erklärungsart der Möglichkeit nach, wie es überhaupt Streben und Wollen geben kann. Ein Trieb ist ein Prinzip, das über den biophysischen Reizaufbau und Reizabbau hinausgeht, weil er eben sonst kein „Trieb“ wäre. S. FREUD verwendet diesen Begriff „Trieb“, aber rein reduktionistisch auf sinnliche Reizmessungen im empirischen Bereich hin – ohne sich dessen ganzer Komplexität bewusst zu sein. 

Könnte tatsächlich der Zirkel eines psycho-somatischen Kreislaufes von Reizaufbau und Reizabbau nie verlassen werden, wäre eine mechanistisch-funktionale Auflösung des Triebes ja konsequent, d. h. der Triebbegriff fiele überhaupt weg. Das Leben funktioniere dann rein mechanisch-kausal, beschreibbar in funktionalen Termen von Reiz-Aufbau und Reiz-Abbauf, wobei das Wort „Reiz“ selbst nicht mehr rational begründet werden kann. Das „Leben“ wird selbst zu einer funktionalen Metapher, es funktioniert eben so, beschreibbar im  Modell eines Reiz-Reaktionsschemas, „Selbsterhaltungstrieb“ (selbst schon eine Metapher) genannt. 

Wie ist eine, sagen wir einmal, trotzdem  nicht zu leugnende Zweckhaftigkeit im abstrakten Triebbegriff fassbar?  Woher das theoretische und praktische Interesse des Erkennens ( ein „triebhaftes“ Vorstellen) und Wollens, und wie wunderbar, dass alles Streben und alle Triebhaftigkeit (alle Triebe)  zu einem systematischen Ganzen zusammenpassen, zu einem distributiv angeordneten Zweckganzen eines lebendigen Ganzen – und das Ganze ist für die Teile da und die Teile für das Ganze? Woher diese Denken eines zweckhaften Ganzen des Lebens?  Woher dieser, in der kleinsten Lebenszelle bis zum Lebewesen „Mensch“ anzutreffende, treffend zu nennende Selbsterhaltungstrieb? Ein äußerlich zu beschreibendes, bio-physisches Geschehen kann diese Zweckgerichtetheit und innere Zweckhaftigkeit ja nicht ablesen und selbst erkennen. Das ist apriorisch vom Geiste übertragen.   

b) Die sinnliche Empfindung und Qualität ist die basalste, erste Form der Wahrnehmung; das wiederum auf die Bedingungen der Wissbarkeit hinterfragt, so muss es eine theoretisch wie praktisch feststellbare  Selbstbestimmung und Sinn-Realisierung des Lebens, d. h. eine erste Vor-Form „bewusster“ Reflexibilität geben.  Das Leben, wenn ich diesen Begriff epistemisch korrekt verwende,  definiert sich deshalb von einer höheren, transzendental-begründete Herleitung her, letztlich in und aus einem Gesamt des Wissens, sei es übertragen auf die sinnliche Natur mit ihren bio-physischen und psychischen Ablaufen, oder sei es übertragen auf die Welt der Interpersonalität und der ganzen Medialität ihrer Zeichen.

Eine bloß  naturalistische Erklärung eines Qualitätsmomentes von Reiz/Lust, angenehm/unangenehm, oder wie immer die Empfindung dann deskriptiv gefasst wird, oder ein bloßer „Informationsaustausch“ mittels Zeichen, setzt die Bedeutung schon voraus, die sie als Erklärung vorgibt.  Es wird biologisch oder chemisch oder digital „bewiesen“, was eigentlich eine die Gefühle und Verhaltensmechanismen und alle epistemische Bedeutung übersteigende transzendierende Erklärung der Bedeutung ist. Nicht die Erfahrung erklärt und begründet die Bedeutung, sondern die apriorischen Wissensbedingungen zusammen mit den Erfahrungsbedingungen erklären die naturalen und personalen Phänomene, bedingen die „Erfahrung“ und das, was wir „Leben“ nennen. 

6) Wenn das konstruierende, hypothetische Verfahren einer philosophischen Prinzipienerklärung  gewählt  werden soll, sind auf einer naturalen, empirischen Ebene anscheinend die analytischen Ausgangsbedingungen vorgegeben: Zellen, Zellverbände, deren Stoffwechsel, die lebenserhaltende Produktionen in Zell- und Nervenbereich usw. Ebenso sind analytisch kulturelle, geschichtliche Prägungen vorgegeben. Die biologischen Mechanismen und die biographische Bedingungen bilden nach S. Freud eine organische Einheit und erzeugen manifeste Triebregungen und Wünsche, Träume und Verdrängungen, Neurosen und Zwangshandlungen usw. In logischer Konsequenz  kann es nicht gänzlich verschiedene und vielerlei Gründe für manifeste Phänomene geben, es muss eine einheitliche Prinzipienerklärung für Natur und Geschichte, und eine,  die Abläufe innerlich erklärende, transzendierende Zweckhaftigkeit sein. Welche Idee der Realisierung der Vorstellungen und des Zweckes schwebte S. FREUD vor? 
Bei meiner geringen historischen Kenntnis seiner Werke, geschahen hier m. E. die dogmatische Fehler und philosophischen Überflüge, dass der Denkakt, der  S. FREUD zur Ausarbeitung  des „Unbewussten“ logisch-notwendig führte,  objektivistisch angesetzt wurde. Er wurde nicht mehr  transzendental den Wissensbedingungen nach zu Ende gedacht, woher den die Zielgerichtetheit und die reelle Kraft des Triebes kommen könnte. 

Es ist in den Augen S. FREUDS logisch und konsequent, wenn  Unbewusstes und Bewusstes nicht gänzlich verschiedene Welten sind. Es könne  nur ein, singuläres Prinzip beiderseitiger Einheit und Spaltung geben, ergo ist die Welt des Bewusstseins selbst eine Form des Unbewussten, die nach den Mustern des Traumes gebildet ist.

Das analysierende Konstruktionsverfahren der Traumdeutung ist selbst eine nachträgliche Beschreibung, Rationalisierung, Nach-Konstruktion eines psycho-somatischen Prozesses. Es ist, so nach S. FREUD, die analysierende Tiefenpsychologie nicht mit dem Aufdecken der Inhalte der Träume an sich beschäftigt, sondern die Traumarbeit ist selbst eine Form des Traumes und des Denkensmit der Aufgabe, den unbewussten Trieben und Verdrängungen und Verschiebungen eine nachträgliche, wie immer zu beurteilende, rationalistische Sinn-Erklärung zu geben.  Das Denken selbst, die ganze Traumarbeit ist Begehren, ist Verdrängung, Verschiebung – und zugleich deren Bewältigung. Sie (sc. gemeint sind Studenten von ihm) suchen das Wesen des Traums in diesem latenten Inhalt und übersehen dabei den Unterschied zwischen latenten Traumgedanken und Traumarbeit. Der Traum ist im Grunde nichts anderes als eine besondere Form unseres Denkens, die durch die Bedingungen des Schlafzustandes ermöglicht wird. Die Traumarbeit ist es, die diese Form herstellt, und sie allein ist das Wesentliche am Traum, die Erklärung seiner Besonderheit.“ (GW II/III, Seite 510 f.).

Analog zur „transzendentalen Erkenntnisart“ KANTS gesprochen könnte also gesagt werden, dass die Erkenntnisart  der „Traumarbeit“ und aller damit verbundenen reflexiven Aussageweisen (in den Fachtermini psychologischer Beschreibung)  der Geltung nach von latenten, bio-physischen Triebregungen und Gehirnprozessen kausal bedingt seiDie Unterscheidung Trauminhalt/Traumarbeit muss selbst in ihrer bestimmten Form auf einen kausalen, wirksamen Inhalt zurückgeführt werden.

Das ist aber dialektischer Schein:  
Die verstandliche Unterscheidung (distinctio rationalis) wird als Spaltung der bio-physischen Einheit selbst verkündet (als distinctio realis), und letztlich gilt nicht diese logische Unterscheidung, sondern die reale Einheit – und die ist monistisch, naturalistisch angesetzt. Die bio-physische-somatische Natur des „Vernunftwesens“ Mensch bewirkt den Trauminhalt und alle Formen rationalen und kulturellen Lebens der Traumdeutung, ganz so, wie die distinctio realis verkündet. 

Transzendentalkritisch ist es aber gerade umgekehrt, dass die logische Unterscheidung beibehalten werden muss, wenn vom Sein (hier „Trauminhalt“) im Bilde (hier „Traumarbeit“) gesprochen wird. Die distinctio rationis  muss transzendentalkritisch erst gehoben und gerechtfertigt  werden – ehe von einer realen Trennung (und späterer natural-kausaler Erklärung auseinander) der Momente von Trauminhalt und Traumarbeit gesprochen werden darf.  Warum die distinctio rationis zugunsten des Trauminhaltes zurückgenommen werden soll und plötzlich zugunsten der Geltung eines naturalen Grundes ausfällt, der sich angeblich im „Trauminhalt“ phänomenal zeigt, das ist dezionistische Entscheidung und reflektiert nicht mehr diese Behauptung der naturalistische  Erklärung. Der Erkenntnisprozess ist abgebrochen zugunsten einer realen/naturalen Begründung, ohne die Reflexion dieser Begründung ebenfalls als solche zu durchschauen und zu begründen. Das ist Empirie-Glaube. 

Woher „weiß“ FREUD, dass alle Formen des Bewussten wie Unbewussten, alle bewussten vernunft- und verstandesmäßigen Begriffe, alle  psychischen und gefühlshaften Phänomene, alle Triebe, Neurosen, Psychosen, Verdrängungen, Verschiebungen etc.   auf bio-physische und chemische Vorgänge zurückgehen? Dann wäre auch sein Wissen nur ein Trauminhalt, eine Verarbeitung eines biologischen und chemischen Vorgangs, der sich  zugegeben in höchst schönen,  literarischer Formen und in Methoden der Gesprächstherapie und psychischen Heilungen geäußert hätte, letztlich aber doch kein Sich-Wissen und keine überzeitliche Selbsterkenntnis und objektive Erkenntnis bedeutet?

Die Bedingungen der Wissbarkeit der idealen, in psychoanalytischen  Termini verfassten Traumarbeit und der gedeuteten (realen) Traumvorgänge können selbst nicht bio-physische und chemische Vorgänge sein, sonst wären sie wissentlich gar nicht zu erkennen und zu bestimmen. Wie könnte Unbewusstes durch Bewusstes erklärt werden oder umgekehrt, Bewusstes durch Unbewusstes, wenn der materiale Gehalt der Aussagen keine Wissensform, kein Sich-Wissen und Sich-Erkennen sein soll? Wenn das Bild des Seins, das sich FREUD von der Natur des Menschen macht, kein Bild des Bildes von diesem Sein als Wissensform gelten lässt, wie sollte die behauptete Geltung des materialen Gehaltes noch irgendeinen Sinn haben und gewusst werden können? Wie sollte der Geltungsbezug zu einer naturalen Quelle aller Träume, Strebungen, Begierden vermittelt werden, wenn darin nicht eine andere Wissensform der höheren Geltung (als dieser naturalen Quellen) sichtbar würde, eine Geltungsform bedingender Freiheit? Die Freiheit ist die transzendentale Bedingungsform der Anwendungsbedingung des Triebes, der infolge der geschlossenen Totalität der Wissens- und Geltungsformen ebenfalls sehr vielfältig ausfällt: als Vorstellungstrieb, als Selbsterhaltungstrieb, als gesellschaftlicher Trieb, als Anerkennungstrieb, als Religionstrieb, und sich äußert in einer praktisch unendlichen Teilbarkeit der Triebbefriedigungen und Sinnerfahrungen. 

Nun würde ich wohl S. FREUD großes Unrecht tun, wenn er nicht dieses größere Freiheitsgeschehen und die therapeutische  Zwecksetzung in der Analyse des Unbewussten und der Deutung der Triebe und Träume gesehen hätte. Um der medizinischen Heilung und des Realitätsgewinns willen, mithin um die größere Freiheit willen,  drehte sich ja die ganze Traumarbeit und psychoanalytische Therapie. Nur die philosophische Grundkonzeption wurde ein dogmatisch/realistischer Ansatz. 

Anders gesagt: Wie KANT  von einem vor-entschiedenen, einseitigen Disjunktionsstandpunkt der Trennung von Anschauung und Verstand ausgegangen ist, so ging S. FREUD letztlich ebenfalls von einem  vor-entschiedenen, einseitigen Disjunktionsstandpunkt aus: Das Unbewusste begründet das Bewusste.  Beeindruckt von der Naturwissenschaft um 1900,  verlassen von der Philosophie, fiel seine Entscheidung zugunsten einer bio-physischen, chemischen Einheit und Quelle aus,  aus der alle gesunden  wie kranken Erscheinungen des Leibes wie der Seele kommen. Der Trieb ist dabei das Paradigma der Erklärung, die umfassende Lebenskraft für alles pflanzliche wie tierische und vernünftige Leben, ist Reizaufbau wie Reizabbau,  letztlich fokussiert auf den sexuellen Reiz und die sexuelle Erfüllung bzw. auch fokussiert auf den Tod.

Der Trieb ist zweifelsohne die begrifflich beste Beschreibung eines naturalen Lebens – der höchste Begriff der sinnlichen Natur – aber warum fällt diese Vorstellung und die Begründung des Triebes ebenfalls naturalistisch aus? Das Bild des Bildes vom Sein verdient eine höhere Erklärungsart.   Gibt es nicht andere Erklärungsgründe  wie Logos, Geschichte, Sinn, um das triebhafte Sehnen und Streben in allem Lebendigen zu beschreiben?  Die Traumarbeit, wenn ich das Wort von ihm an die Studenten ernst nehme, sozusagen die transzendentale ApperzeptionTraumarbeit“ für Bewusstes und Unbewusstes, wird auf das geschlossene Ganze eines biologisch-chemischer Reiz-Reaktionsmechanismus zurückgeführt, aber warum dieses reduktive Erklärungsmuster? Die Traumarbeit verobjektiviert sich in eine reale Trennung und entscheidet sich zugunsten der realistisch-naturalistischen Begründung, aber warum und woher diese Entscheidung und dieser gewählte Standpunkt?

Dem unbesonnenen Denken, das dieses Gesetz des Verstandes vollzieht, aber nicht sieht, muss eine (bloß logische) Unterscheidung des Verstandes als (reale) Trennung der Momente, als echte Spaltung der Einheit, d.h. als distinctio realis erscheinen. Das besonnene, mit dem heterothetischen Gesetz des Verstandes vertraute Denken dagegen erkennt und durchschaut eben die logische Unterscheidung als bloße distinctio rationis.“ 2

© Franz Strasser, Jän. 2017

1Ich füge hier jetzt nachträglich einen Hinweis auf eine Ausstellung „Wien 1900“ ein, die das Klima dieser Zeit etwas beschreibt – Ausstellung im Leopold Museum, Herbst 2020. – LinkWien

2M. Gerten, Sein oder Geltung. In: Fichte-Studien, Bd. 47, 2019, S 218.

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser