Transzendentale Interpersonalitätslehre nach M. Ivaldo

Bei MARCO IVALDO fand ich auf wenigen Seiten (10) eine schlüssige Wiedergabe der Interpersonalitätslehre bei FICHTE – hauptsächlich nach der GRUNDLAGE des NATURRECHTS (abk.=GNR von 1796), aber auch mit weiteren Verweisen auf diverse WLn. Ich zitiere hier ein paar Auszüge aus diesem Aufsatz und füge ein paar zusätzliche Bemerkungen hinzu.1KHM-Wien

1) Warum muss es andere Personen zur Konstitution des Selbst- und Weltbewusstseins notwendig geben?

Es sei zuerst die allgemeine Erkenntnisposition der WL skizziert, ebenfalls nach M. IVALDO in einem Aufsatz zur Position der Ethik bei FICHTE.2

„Transzendentalphilosophie ist prinzipielle und selbstreflexive Durchdringung des Bewusst-Seins als artikulierte Einheit von Bild und Sein, als Einheit des „Subjektiven“ und „Objektiven“. Unser Wissen, welches jedesmal Wissen von etwas als etwas ist, wurzelt in der organischen und dynamischen Einheit (Disjunktionseinheit) des Bildens. Theoretische Philosophie ist Darstellung der „notwendigen Handlungen“, nach denen das Bild (die Vorstellung) aus dem Abgebildeten (dem Sein) in der Einheit des Bildens „folgt“. Die Aussage „Ich erkenne“ spricht die betreffende Tat des Bewusstseins aus. Praktische Philosophie untersucht ihrerseits die „notwendigen Handlungen“, kraft deren das Abgebildete aus dem Bild „folgt“. Sie erklärt, wie das Bild bzw. der „Zweckbegriff“ das faktische Sein bestimmt. Die in der Aussage „Ich handle“ ausgesprochene Tat des Bewusstseins bedeutet demnach : Ich erfahre, dass ich der Bestimmende von etwas als etwas bin. In diesem Sinne ist Sittenlehre praktische Philosophie: „Das Sistem des notwendigen Denkens, dass mit unseren [intentionalen] Vorstellungen ein Sein übereinstimme, und daraus folge.“ (FICHTE, SL 98, GA I/5, 22) 3

Der Zweckbegriff, als kompatibler Begriff zur Freiheit und erkenntniskonstitutiver Begriff sowohl der theoretischen wie  praktischen Philosophie, hat damit a) eine kategorische Dimension, weil das Bewusstsein der Freiheit und deren intuitive Erkenntnis auf einem kategorischen Sollen beruhen, mithin auf einer sittlich-praktischen Regel, soll Bewusstsein (Selbstbewusstsein) und Freiheit möglich gedacht werden und  b) eine teleologische Dimension: „Ich setze mich als frei, inwiefern ich ein sinnliches Handeln, oder ein Sein aus meinem Begriffe, der dann Zweckbegriff heißt, erkläre“ (SL 1798; GA I/5, 27)

Das Kategorische und Teleologische fallen nicht auseinander, noch sind sie entgegengesetzt, sondern beiden gelten als konstitutive Bestimmungen des praktischen Freiheitsbewusstseins. Der kategorische Faktor betrifft die Rechtfertigung des Prinzips der Sittlichkeit, der teleologische die Konkretion des Prinzips selbst. 4

2) Um die Problematik einer transzendentalen Erkenntnis anderer Personen jetzt aufzuschlüsseln, was meine Frage ist,  sei an die Anfangs- und Ausgangsbasis der Erkenntnislehre bei KANT angeknüpft. Es wird die Problematik eines Erkenntnisurteils anderer Subjekte in der theoretischen Erkenntnismöglichkeit der Vernunft (in der KrV) gar nicht gesehen. Die KrV schränkt die synthetischen Urteile a priori ein a) auf Mathematik und b) auf die  synthetischen Anschauungsformen von Zeit und Raum.

Das Problem des Anderen und dessen Bedeutung tritt bei KANT erst in der praktischen Philosophie auf, konkret in der Ethik. Dort heißt es in der zweiten Form des praktischen Imperativs: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“(GdMdS, IV, 429)

„Woher stammt aber das Wissen um eine andere Person?“ (FICHTE, Bestimmung des Gelehrten GA I, 3, S 34)

In der KdU nimmt Kant für das Geschmacksurteil faktisch an, dass die subjektiven Bedingungen der Möglichkeit einer Erkenntnis allgemein sein müssen, sonst könnte man anderen Personen die Vorstellungen und Erkenntnisse nicht mitteilen. (KdU, 279. 290)
Das Problem einer allgemeinen Kommunikabilität zwischen Subjekten wird zwar irgendwie gesehen,  aber die Bedingungen dieser Kommunikabilität werden als bei allen Menschen existierend vorausgesetzt und nur faktisch festgestellt. Das ästhetische Gefühl wird als allgemein mitteilbar festgestellt,  aber wie die kommunikative Existenz überhaupt möglich gedacht werden kann, das wird nicht problematisiert. Was ist die Erkenntnisbedingung (die ratio essendi und die ratio cognoscendi) des Wissens anderer Subjekte, weil es Kommunikation geben soll? 

3) Das Problem hat eigentlich erst FICHTE gesehen und bis heute gültig beantwortet: Alle Sprachphilosophie, Semiotik, Linguistik müssen eine Form der Kommunikabilität voraussetzen, doch von woher nehmen sie ihre ontologische und gnoseologische Grundlage?  Wie ist die Erkenntnis in einer Subjekt-Objekt-Einheit von Produktionen der Einbildungskraft und Hemmungen in einer endlichen Weise der Vernunfthandlungen, und nochmals eingeschränkt auf mediale Formen der Kommmunikation, möglich denkbar?  Die Erkenntnis der Interpersonalität und die Form der Kommunikabilität ist, so die Antwort FICHTES ,  in der schöpferischen Folge eines „Aufrufs“ bzw. in der Folge einer „Aufforderung“,  substantiell und und kausal schon gesetzt.

Der „Aufruf“ oder die „Aufforderung“ als spezifische Form der „Hemmung“ ist dabei nicht  realistisch von der Seite eingeschoben, sondern wird im Gesamten der vernünftigen Durchdringung der Wirklichkeit von vornherein transzendentallogisch gedacht und abgeleitet. Die Vernunft existiert als Tendenz, sich selbst absolut und vollkommen zu realisieren, das kann sie aber nur, wenn sie sich letztlich frei durch „Aufruf“ vermittelt. Das Sichbilden der Vernunft ist selbstbestimmend und bestimmt werdend in Einheit.5 Die Hemmung muss deshalb den Charakter einer Freiheit an sich tragen, d. h. sie muss ein Virtuelles von anderer Freiheit sein, das durch theoretische und praktische Momente des Ichs im Ich gesetzt ist und weitergebildet werden kann. Diese Charakteristik anderer Freiheit wird dabei im Begriff des „Aufrufs“ bzw. der „Aufforderung“ realisiert und erfüllt.

Es sei dazu zurückgeblendet auf die sinnliche Hemmung in der Wahrnehmung: Die einfache Hemmung ist in der Naturlehre das letztgültige Substrat der Natur und der Ausgangspunkt der Wahrnehmung ein erfahrenes Gefühl. Aus diesem pluripotentiell zu denkenden Substrat der Natur setzt sich eine anorganische und eine organische Natur zusammen. Der Aufbau der anorganischen und organischen Natur wird dabei bereits durch die reflektierende Urteilskraft  praktisch vorbestimmt gesehen,  sodass die anorganische und organische Natur bereits eine Art „anthropisches“ Prinzip ergeben, was die naturale Überlebensfunktion erfüllt, aber darüberhinaus auf ein interpersonales Prinzip des freien Austausches zwischen Personen hingeordnet ist. 6

Bei M. IVALDO heißt es dann weiter:7 So gibt es für das wirkliche Bewusstsein und Selbstbewusstsein a) eine Wechselwirkung zwischen Hemmungen und tätigem Ich in der bloßen Natur,
b) eine Wechselwirkung zwischen objektiviertem Trieb und freiem Willen in der Natur des Menschen, sprich seines Leibes;
c) In der dritten Sphäre eine Wechselwirkung des freien Ichs mit anderen freien Ichen untereinander. Die Hemmung erfährt hier eine Transformation. Das Bestimmtsein des Subjekts wird auf der interpersonalen Ebene ein Aufruf bzw. eine Aufforderung, die, sobald verstanden,  sich zu einer Wirksamkeit entschließen kann. 

Dieser Aufruf ist wie eine sinnliche Hemmung, aber besonderer Art. Er drückt eine auf das Subjekt als freies Wesen gerichtete Intention eines Anderen aus. M Ivaldo: „Was ist denn nun der eigentliche Charakter dieser Intention? Fichte antwortet darauf, dass sie eine  die Freiheit eines Anderen aufrufende freie Zwecksetzung ist.“ 8

a) Eine Zwecksetzung nach notwendigen Gesetzen gibt es schon in der Natur, weil wir anschaulich etwas bestimmen, d. h. empirische Begriffe fassen. Das ist aber nur eine Art instrumentelle Form des Zweckerkennens. Gegenüber dem interpersonalen Zweckerkennen könnte sie als negative Form der Zwecksetzung verstanden werden, als Denken von „Zweckmäßigkeit“.
b) Es muss eine Zwecksetzung nach Gesetzen der Freiheit geben, wodurch das positive Merkmal der Vernünftigkeit eingesehen werden kann. Die Beziehungen zwischen Vernunftwesen, wenn sie das Merkmal der Vernünftigkeit tragen sollen, müssen auf reziproken, freien Zwecksetzungen beruhen und als solche sichtbar sein. Die praktisch-sittliche Tendenz der Vernunft oder Intention verursacht damit nicht eine Verdinglichung des Anderen, auf den sie gerichtet ist, sondern vielmehr die Ich-Werdung des Anderen, reflexiv als Ich und Du  in einem Wir.

Der Träger eines freien Aufrufes kann kein einfaches Objekt der Natur sein, weil ja der eigentliche Charakter dieses Aufrufes die freie Zwecksetzung sein soll. Ein nicht personenhaftes Wesen, z. B. ein Tier, kann keine freien Zwecke setzen oder zu diesen aufrufen. Die transzendental notwendige Bedingung der Möglichkeit eines konkreten Anderen muss deshalb eine der freien Zwecksetzung nach mögliches substantielles anderes Du wie Ich wie Wir sein.  „(…) „dass der Mensch (so alle endliche Wesen überhaupt) nur unter Menschen ein Mensch wird.“ (GA I, 3, 347)

c) Auf die kommunikative Vermittlung durch Sprache müsste jetzt ein eigenes Augenmerk geworfen werden – siehe andere Blogs. Die Ichwerdung ist an die kommunikative Existenz gebunden. 9
„Unser individuelles Ichbewusstsein geht nicht der konkreten Begegnung mit einem anderen Wesen unseresgleichen voraus, sondern ist die schöpferische Folge einer realen Kommunikation.“ 10

„Dass wir überhaupt individuelles Bewusstsein haben, ist somit entscheidendes Indiz für die Existenz eines anderen Vernunftwesens „außer“ uns“. 11

In der GNR nennt es FICHTE „freie Wechselwirksamkeit“, in dem sich „Wirkung und Gegenwirkung“ nicht getrennt denken lassen, sondern „beide die partes integrantes einer ganzen Begebenheit ausmachen“ (GA I,3, 344)

4) M. IVALDO betont jetzt völlig richtig, dass diese intentionale Wechselwirkung immer zugleich eine physische Determinationskomponente hat. „Das vernünftige Wesen setzt sich als Person, indem es sich einen Leib zuschreibt, und zugleich kann es sich keinen Leib zuschreiben, ohne ihn zu setzen als stehend in Interaktion mit einer anderen Person außer ihm.“ 12 Im Leib setzen wir uns unmittelbar als Ursache unseres Willens. Eine kommunikative Wechselwirkung  und kommunikative Intentionalität zwischen Personen ist so zugleich begründet in einer leibhaften Interaktion. Deshalb auch artikulierte Töne, Gebärden etc.13

5) Transzendental muss aber noch mehr als die Leiblichkeit und eine mögliche freie Form der Wirksamkeit im Aufruf (einer Aufforderung) mittels Sprache vorausgesetzt werden: Nach M. IVALDO sinngemäß: Jede wahrgenommene fremde Intention ist momentan. Der Reihe der kontingenten Intentionen liegt eine grundlegende Intention zugrunde, deren ich bewusst werden soll, wenn ich zu einer wirklichen Mitteilung kommen will (ebd. S 171). „Der eigentliche Inhalt der den Aufruf bestimmenden Intention ist somit das Vernunftgesetz.“ 14

Diese grundlegende Intention manifestiert sich zweifach: als ein a) „du darfst nicht“ und als ein b) „du sollst“. In dem Aufgerufenwerden findet sich das Ichbewusstsein zur Verantwortung aufgefordert: und zwar durch die Wahrnehmung der Grenzen und zugleich der Möglichkeit seiner Freiheit. „Die Interaktion zwischen Personen hat das Sittengesetz als Maßstab und die Hervorbringung der Sittlichkeit in der Welt als Zweck. (…) Die Kommunikation hat sich so zu realisieren, dass sie zur Bildung einer wirklichen Gemeinschaft von freien Weisen führen kann und wird.“15

6) Jetzt noch meine weiterführenden Anfragen, weil IVALDO zu Beginn seiner Darstellung ausdrücklich dazu einlädt (vgl. ebd. S 164).: Inwieweit eine religiöse Vermittlung eines leiblichen/interleiblichen und personalen und interpersonalen Wechselverhältnisses ebenfalls notwendig gedacht werden muss, ist mir eine Frage und ein Anliegen:
In der transzendentallogischen Analyse der Möglichkeit von Selbstbewusstsein und Interpersonalität ist der göttliche Setzungsakt konstitutiv. Der göttliche Aufruf muss konstitutiv dem interpersonalen Aufruf-Antwort-Schema vorausgehen.

Ich verweise ebenfalls auf die zahlreichen Ausführungen FICHTES in den Wln ab 1805 zur „göttlichen Anschauung“, verweise auf die Ausführungen zu Glauben und Wissen in der 12. u. 13. Vorlesung WL 1805 oder auf die Universalität der sittlichen Gemeinde in der SL 1812, die sich als „Bild Gottes“ darstellt.  Leider kam FICHTE in der Jenenserzeit (1794-1799) zu keiner Ausarbeitung einer religiösen Disziplin nach den Prinzipien der WL. Es wäre interessant gewesen, wie er die Sinnbestimmung der Religion nach der GWL und der Wlnm und der NR- und SL-Lehre deduziert hätte. In der Wlnm deutet er auf jeden Fall an, es müsste zusätzlich zur naturalen und rechtlichen/interpersonalen und moralischen Ordnung eine religiöse Sinnordnung geben, eine den Wechsel von subjektiver Rechtsordnung und moralischer Sinnordnung übersteigende religiöse Sinnordnung, um die ganze Manifestation und Gesetzmäßigkeit des Vernunftgesetzes und des Sich-Bildens des Selbstbewusstseins der Bedingung der Möglichkeit nach zu denken. 

Unter zeitlichen Bedingungen bliebe die moralische Weltordnung einer ins Unendliche gehenden Selbstbestimmung. Das ist zwar geboten, aber wenn es de facto nicht erreicht werden kann, ist es frustrierend.  Ein genetischer Reflexionsakt muss theoretisch und im Prinzip vollendbar gesetzt sein, trotz zeitlicher Zerdehnung – deshalb geht FICHTE notwendig zu einem religiösen Prinzip über. Die in der Idee der Freiheit begründete Moralität muss sich durch Religion zu einer die Moralität erlösenden, rettenden Sinn-Idee steigern lassen.  Deshalb die Notwendigkeit, so meine Ansicht, dass es ein subjektiv-objektives Bestimmtsein und Erfülltsein des Sich-Bildens der Vernunft geben müsse, eine erlösende Sinn-Idee – wie es in der SL 1812 schon anklingt –  einen „ordo ordinans“ der Religion.

7) Ein Aspekt müsste jetzt gewichtig ebenfalls noch hervorgehoben werden: Er liegt in der veränderten Form des Denkens der Idee (der erlösenden Sinnidee) schon zugrunde: Die formalen Wissensprinzipien des Aktes des Denkens mit den vier materialen Disziplinen Natur, Recht, Moralität und Religion sind rückgebunden an eine dynamische und geschichtliche Einheit des Sich-Bildens. Die Geschichte steht sozusagen quer  zu diesen Bereichen des Denkaktes. Es müsste zusätzlich zur apriorischen Vernunftoffenbarung eine positive Offenbarung notwendig gedacht werden, damit das Sich-Bilden der Vernunft nach einem Urbild und Vorbild der Realisierung sich vollziehen kann.

Es muss, m. a. W.  eine transzendentale Christologie geben, die als positive, geschichtliche Offenbarung den genetischen Aspekt des Werdens der Vernunft zusammenfasst zu einem vollkommenen Bild der Vernunft (des Logos) und des Sinns. FICHTE hat sich um die Aufnahme der christlichen Glaubensüberzeugung in seinem transzendentalen Denken der WL nicht herumgedrückt, sondern im Gegenteil, die Frage nach der Notwendigkeit der positiven Offenbarung gestellt. Göttliche Liebe, Identifikation des Heiligen auch mit dem Sünder, Vergebung, Restitution und Wiedergutmachung alles Widersittlichen, alles das, was wir aus der christlichen Überlieferungsgeschichte kennen und wir als Sinnidee kat exochen zusammenfassen können, liegt in dieser positiven Offenbarung.  Bekanntlich hat FICHTE seinen philosophischen Weg mit der transzendentalen Fragen nach der Erkenntnis von Offenbarung begonnen – und in gewissem Sinne damit geendet (Siehe Diarium 1813/1814)

8) Für die Vermittlung der Sinnidee wird aber damit die Interpersonalitätstheorie nochmals von größter Bedeutung: Wenn generell eine Ich-Werdung nur durch interpersonale Interaktion und interpersonalen Austausch möglich ist, so kann die Vermittlung einer positiven Offenbarung ebenfalls nur durch eine wie immer jetzt aufgebaute, interpersonale Vermittlung geschehen, sprich durch eine Kirche, die sich dies Förderung der Freiheit jedes einzelnen und die Bildung einer gemeinsamen substantiellen Sinnidee verschrieben hat.

Ein „ordo ordinans“ der Religion und eine objektiv, geschichtlich zu erkennende Lösungs-Idee, wodurch die moralischen und rechtlichen Zwecke erst ihren erreichbaren Sinn erhalten, muss m. E. als sakramentale Sinnordnung vorausgesetzt werden. Die Kirchen-Begriff ist ein apriorischer Begriff, folgend aus der interpersonalen und religiösen Natur des Vernunftwesens.  (FICHTE spricht in der SL 1812 nur abstrakt vom „Symbol“ der Kirche; er hat, tragisch genug, eine lebendige Tradition in der evangelischen Kirche seiner Zeit nicht kennengelernt!)  Ich müsste das hier noch viel weiter ausführen: In der Religionsgeschichte der Hl. Schrift begegnen wir dem Phänomen des Hörens als höchster Ausdruck eines inneren Freiheitsverhältnisses. (Abraham, Gen 12) Diesem inneren Hören folgt früher oder später eine öffentliche und universale Promulgation des göttlichen Gesetzes, wodurch dieses innere Hören im moralischen  Gewissen und dann  in eine gewisse Legalitätsordnung (Mose am Berg Sinai, Ex 20) übergeht. Durch das Freiheitserlebnis des Exodus belehrt, wird auf eine „gute“ und „sehr gute“ Schöpfungsordnung geschlossen (Gen 1 u. Gen 2). Nach transzendentallogischen Gesetzen einer appositionellen Kausierung von Wirksamkeit muss sich das praktische und theoretische Bilden der Vernunft immer auf einen absoluten, pertinenten Bestimmungsgrund seines Werdens zurückbeziehen, sprich auf eine positive  Offenbarung. Für den christlichen Glauben ist diese positive Offenbarung klar.  Ohne  Rückbezug auf eine religiöse und speziell dann offenbarungsbestimmte Sinnordnung  kann das Bilden der Vernunft sich im naturalen, moralischen oder juridischen Bereich nicht vollenden oder rechtfertigen und bewähren.  Man lese hier AUGUSTINUS „Civitas Dei“ mit seiner Zwei-Staaten-Theorie. Das rechtliche Denken und das moralische Gesetz wird erst durch die Gnade und die die Vernunft ergreifende, göttliche Liebe vollendet.

© Franz Strasser 26. 8. 2016

1M. IVALDO, Transzendentale Interpersonalitätslehre in Grundzügen nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre, in: A. MUES, Transzendentalphilosophie als System [Hrsg.], Hamburg 1989, S 163 – 173.

2MARCO IVALDO, Die systematische Position der Ethik nach der Wissenschaftslehre nova methodo und der Sittenlehre 1798, in: Fichte-Studien, Bd 16, 1999, 245.

3MARCO IVALDO, ebd. 245.

4M. IVALDO, ebd. S 246.

5Die epistemologische Begründung einer „Hemmung“ oder eines „Aufrufes“ (Aufforderung) müsste jetzt noch weiter ausgeführt werden: Das zweckorientierte Ganze eines freien Bildens der Vernunft, mithin auch die Möglichkeit einer individuellen Vernunft innerhalb mehrerer Iche muss aus der Erscheinung des Absoluten abgeleitet bzw. darin begründet sein. In weiterer Folge kann das freie Sich-Bilden der reflexiven Vernunft nur in und an den Hemmungen und anhand von Aufforderungen geschehen. Die Hemmungen/Aufrufe/Aufforderungen müssen in ihrer Qualität und in ihrem Auftreten sowohl theoretisch wie praktisch unableitbar bleiben. Denn erst anhand der Hemmungen bzw. Aufrufe tritt das freie Linienziehen der ursprünglich produzierenden Einbildungskraft inkraft. Wir können weder theoretisch die Abhängigkeit des Ichs vom Nicht-Ich der Hemmung bzw. eines anderen Ichs im Aufruf,  gänzlich auflösen und deduzieren,  noch können wir die Hemmung oder ein anderes Ich (einen Aufruf) im praktischen Streben in Erkenntnis auflösen.

6Die von der theoretischen Philosophie und Rechtslehre oft propagierte Trennung von Sein und Sollen ist begrifflich manchmal notwendig, doch die praktischen Anwendungsbedingungen und Rechtfertigung der Anwendbarkeit der rechtlichen Sollensbegriffe im sinnlichen Bereich gehört konstitutiv zum Seinsbegriff  und darf nicht dualistisch davon getrennt werden. Erst durch die Verbindung beider (von Sollen und Sein) kommen wir zur Konstitution von dem, was wir als Wirklichkeit erleben.

7Ebd., S 169.

8M. IVALDO, Transzendentale Interpersonalitätslehre, ebd. S 169. Was hier alles zum Begriff der Intention gesagt werden müsste, übersteigt diesen kurzen Blog. Von BRENTANO bis HUSSERL u. a. wurde viel Verwirrung mit diesem Begriff gestiftet. In der Phänomenologie HUSSERLS ist er auf einen erkenntniskritischen Bereich der inneren Gegenständlichkeit eingeschränkt, hat also keinerlei ethische oder interpersonale Funktion. Damit ist sein Standpunkt  m. E. unbegründet, unklar  und dogmatisch.

9Vgl. M. IVALDO, ebd. S 170 Er betont die zentrale Rolle der Erziehung und der Bildung in der Fichteschen Interpersonalitätslehre.
Die Sache mit der Sprache ist kompliziert: Durch die
konstitutive Rolle von Sprache und kommunikativen Formen zwecks Ich-Werdung kann m. E. die transzendentale Sinnbestimmung und Erkenntnis der Sprache festgelegt werden: Sie ist notwendiges Mittel und Werkzeug einer freien Wechselwirkung, trägt und begründet aber nicht selbst diese freie und intentionale Wechselwirkung. FICHTE klagt sogar öfter, dass die sprachlichen Mitteln die Evidenz- und Intellektionszusammenhänge einer Idee nicht erreichen können, weil ihre Grundfunktion die der Objektivierung ist. Die vielen Sprachphilosophien, die es gibt, gehen m. E. von einer Überbewertung der Sprache aus, indem dort entweder a) die Sprache essentialistisch ausgelegt wird, oder b) es wird ihr eine objektivierte, funktionale Rolle zugeordnet, als bestimme sie selbst, sogar übergeordnet einem freien Vernunftgebrauch, den Gebrauch ihrer Verwendung. Je nach Sprachspiele und Lebensformen wird dann von einer funktionalen Bedeutung eines Wortes oder Satzes gesprochen bzw. legt die funktionale Verwendung  die „Bedeutung“ der Sätze fest. Die funktionalistische Deutung in einem „Sprachspiel“ oder eine „Lebensform“ kommt mir in der Analytischen Philosophie ziemlich gekünstelt und willkürlich vor, wenn auch mit gewissen, schwachen Ergebnissen des Verstehen. Die schwachen Ergebnisse des Verstehens beruhen letztlich aber wiederum auf einer konstitutive Bindung an die interpersonale Absicht und nicht, weil die Sprache so funktioniert. 

10M. IVALDO, ebd. S 170.

11Ebd. S 170.

12M. IVALDO, ebd. S 171.

13Die Anwendungsbedingungen müssen selbst auf der Linie der tendenziell freien  Grundbildung der Vernunft liegen; jede Hemmung, auch schon ein naturales Gefühl, kann letztlich nicht nur spontan und determinierend, sondern in gewissem Sinne auch als freie vermittelt werden, sonst wäre sie zu überstark, vernichtend. Die Vernunft als absolutes Bilden ist selbst ursprünglich freiheitsgetragen und  dialogisch; sie erscheint dialogisch als ein Aufrufen und ein Aufgerufenwerden im göttlichen Schöpfungsakt.  Es ist deshalb m. E. auch richtig und wichtig, normalerweise von Interpersonalität, statt nur von Intersubjektivität, zu sprechen. In der Intersubjektivität wird m. E. ein reduktionistisch vorgestelltes abstraktes „Subjekt“  konnotiert, das mit anderen kommunizieren kann – aber ohne Anschauung, ohne Leib, ohne übergeordnete Grundintention. Umgekehrt stört mich das Wort „intersubjektiv“  dann nicht, wenn die „objektiven“ Bestimmungen eines Subjekt-Verhältnisses im Gegensatz bestimmt werden.  

14Ebd., S 171.

15Ebd. S 171.

16FRANZ BADER, Systemidee und Interpersonalitätstheorie in Fichtes Wissenschaftslehre. In: Der transzendental-philosophische Zugang zur Wirklichkeit. Beiträge zur Fichte-Forschung. Hrsg. v. Erich Fuchs, Marco Ivaldo und Giovanni Moretto, Stuttgart 2001, 65 – 106.

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser