Zum Begriff des Transzendentalen – 3. Teil

Zumeist wird in den sogenannten Erkenntnistheorien um die Normativität der Wahrheit heftigst debattiert und die Lager teilen sich, soweit ich das zu erkennen vermag, in Externalismus und Internalismus der Erkenntnistheorien. Die Quellen des Wissens kommen entweder von außen oder sind doch apriorisch in der Vernunft (innen) anzusiedeln?1

Was sind Gründe und in welchem kognitiven Verhältnis stehen Erkenntnissubjekte zu diesen „objektiven“ Gründen? Oft liest man auch von „transzendentalen“ Bedingungen der Erkenntnis und des Wissens und meint reduktiv erschlossene, unhintergehbare Bedingungen, deren Verneinung zu unhaltbaren Erklärungen und Widersprüchen führen würden. Das ist aber eine bloß negative Form des transzendentalen Wissens, gewonnen auf dem reduktiven Weg einer supponierenden Analyse, ohne deren intuitive und intelligible Rechtfertigungsgründe begründen und einsehen zu können.2

Solche „transzendentalen“ Bedingungen fallen je nach idealistischer oder realistischer Richtung der Erkenntnistheorie verschieden aus und sind eine Frage der Axiomatik, welches Argument letztlich als objektiv-gültig angesehen werden kann und soll: ein Begriff vom Sein oder der Erfahrung, oder die kommunikative Ordnung oder  der Konstruktivismus unseres Denkens, oder die Sprache, das subjektivistisch verstandene Selbstbewusstsein usw.
Der eigene Reflexionsakt des Wissens wird in einer letzten Begründung und Rechtfertigung gerade nicht reflektiert.  

Es ist ziemlich verwirrend, wenn schon jede faktische Erscheinungsweise wie z. B. die Seinsfrage (Heidegger), oder die Zeit, oder der Verständnishorizont (Gadamer), die Sprache (Wittgenstein), die kommunikative Ordnung der Gesellschaft (Luhmann), das Differenzdenken (Derrida) usw. als „transzendental“ bezeichnet werden darf, nur weil die Erscheinungsweise des Seins oder der phänomenale Denk- und Wissensakt so stark und unabweisbar erscheinen, so allgemein, dass es universal-erklärend zu sein scheint.  Aber nur eine faktische oder reflexive Denkweise eines esse, unum, verum, bonum, pulchrum vorauszusetzen, ist von vornherein ein versperrter Weg, wenn nicht „die Freiheit die Regel vorgibt“ (4. Vortrag WL 1804/2)  Nur die Bedingung unserer Erkenntnis im Denken als Transzendentalie vorauszusetzen, das ist zu wenig; das verlangt nämlich wiederum nach einer höheren Bedingung des Wissens dieses Wissens und eröffnet einen unabschließbaren Zirkel, sofern nicht der Zirkel im und aus dem Wissen selbst erklärt werden kann – wie FICHTE diese Frage sich selbst oft gestellt hat. (Siehe z. B. „Begriff“ SW I, 61f; 72. 74.; GRUNDLAGE SW I, 92; WLnm GA IV/2, 128ff, 164; und in späteren Werken.) 

Die Verabsolutierung einer Seite, sei es des Denkens oder des Seins, kann bereits bei den ersten Naturphilosophen der Antike festgestellt werden, weil sie eben ein letztes Prinzip, d. h.  ein Denkprinzip (die sog.  arché) gesucht haben. Diese Philosophie und Hermeneutik jetzt zu brandmarken, das wäre ungerecht, denn sie fanden ja allererst die Methode des Nachforschens nach den ersten Denkprinzipien. Äußerst kritisch sehe ich hier ARISTOTELES, dessen Wirkung mit seinem abstrakten („metaphysischen“) Erkenntnisbegriff vom einzelnen Seienden notwendig zu vielen materialistischen und idealistischen Verabsolutierungen führen musste. Natürlich finden sich starke Stellen zum transzendentalen Wissen selbst, wenn er z. B. vom „sich selbst denkenden Geist“  spricht; aber leider war seine Klassifizierung des Seins, ohne Ableitung aus dem Wissensakt, unbegründet.

PLATON erfasste m. E. als erster den Zirkel des Wissens und konnte ihn intuitiv-genial lösen. Dank eines apriorischen Vorwissens und einer ersten und obersten Einschränkungsbedingung des Wissens durch die Idee des Guten (als Geltungsgrund) vermag  jede individuelle Vernunft in Einheit mit der universellen Vernunft zu jeder Zeit („von allen für alle zu jeder Zeit“ sagt FICHTE oft in der WL 1801/02)  erkennen, was ontologisch und gnoseologisch begründet und gerechtfertigt ist. Ja, es gibt Wahrheit und sie lässt sich erkennen – und sie  muss in der Disziplin der Philosophie explizit als Wahrheit und Idee herausgestellt werden können.  PLATON kann mit sicheren und abgeleiteten, durch „dihairesis“ gewonnen Begriffen, exzellente Dialoge führen, gleich dem kritischen Realismus heute (POPPER), und so  zu falsifizierenden Begriffen der empirischen und historischen Erfahrung gelangen – weil er eben die Meta-Reflexion des apriorischen Vorwissens kennt.  Diese Meta-Reflexion des Wissens ist dann selbst nicht mehr nur dihairetisches, begriffliches Denken – das ergäbe einen bloßen, unendlichen Regress – sondern transzendentales Standpunktwissen, sich wissender,  aus der Erscheinung des Absoluten sich bewährender Erkenntnisakt, aus dem alle Wissensprinzipien abgeleitet werden können.  PLATON war hier genial. Es folgten ihm ausdrücklich wenige in dieser Weise einer transzendentalen Rechtfertigung, unbewusst aber viele, denn ohne dieser intellektuellen Anschauung könnte gar nicht gedacht und gesprochen werden.3

(c) Franz Strasser, 29. 10. 2015
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1Der Externalismus geht von einem Außen dieses Wissens aus, der Internalismus von einem Inneren der Intuition. Siehe z. B. T. GRUNDMANN, Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie, 2008, 249 ff.

2Man kann die Erweisung des Widerspruchs bei Negierung der Voraussetzung auch als „retorsives“ Verfahren  oder Retorsion bezeichnen. Es beruht auf den im Vollzug implizierten allgemeinen Bedingungen der Möglichkeit von wahrheitsfähigen Aussagen. In modifizierter Form finden Retorsionsargumente etwa in der Transzendentalpragmatik von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas Anwendung. Eine derartige Argumentation findet sich der Struktur nach, aber auch unter explizitem Bezug auf Wahrheit, bereits bei Aristoteles und danach vielfach in der erkenntnistheoretischen Tradition. Explizit diskutiert und dann auch als solches bezeichnet wird das Retorsionsargument v.a. im Neuthomismus, z. B. bei Joseph Maréchal, Hansjürgen Verweyen oder Béla Weissmahr. http://de.wikipedia.org/wiki/Retorsion

3Wenn man das Sonnengleichnis und das Liniengleichnis PLATONS zu dieser Stelle „Politeia“ 508/509 hinzunimmt, so ergibt sich nach M. BORDT (Platon Skriptum, Philosophische Hochschule München) sowohl eine ontologische wie eine epistemische Priorität. Der Begriff der ontologischen Priorität leitet sich vom griechischen Terminus ta onta, d.h. ‚die Seienden‘, ab. Mit ihm wird zum Ausdruck gebracht, dass die Existenz und die Art der Existenz eines Wirklichkeitsbereichs von der Existenz und der Art der Existenz eines anderen Wirklichkeitsbereichs abhängt. Diese Abhängigkeit eines zweiten Wirklichkeitsbereichs von einem ersten besteht darin, dass ohne die Existenz des ersten Bereichs der zweite überhaupt nicht existieren kann.

Der zweite Aspekt der Abhängigkeit wird epistemische Priorität genannt. Dieser Begriff leitet sich vom griechischen Wort für Erkenntnis, episteme, ab. Die epistemische Priorität und Abhängigkeit ist eine Priorität und Abhängigkeit der Erkenntnis der Gegenstände von einer Erkenntnis  aus einem anderen Bereich. Dass es sinnvoll und unproblematisch sein kann, von epistemischer Abhängigkeit zu sprechen, lässt sich wiederum anhand des Verhältnisses zwischen der Erkenntnis der Schatten und der Erkenntnis der Gegenstände, die die Schatten werfen, plausibel machen: Wenn jemand einen bestimmten Schatten identifizieren möchte, dann kann er diesen Schatten nur durch denjenigen Gegenstand klar identifizieren, der den Schatten wirft. Ohne ein Wissen um den Gegenstand, der den Schatten wirft, ist ein wirkliches Wissen um den Schatten unmöglich. Wenn jemand die Schatten unabhängig vom Wissen des Gegenstandes identifizieren wollte, dann wäre er auf bloße Vermutungen angewiesen.

In dieser Spannung von ontologischer Priorität und epistemischer Priorität (nach der Diktion von BORDT) kann wohl die Platonische Seins- und Ideenlehre als ontologisch-gnoseologische Wahrheitslehre zusammengefasst werden. Es ist eine Konzeption von Wahrheit, die über einer bloß  aussagenorientierte Konzeption von Wahrheit  hinausgeht. Der ursprüngliche Begriff der Idee des Guten verleiht allen anderen Ideen, wie gesagt, (objektive) Seins-Wahrheit und (subjektive) Erkennbarkeit. 

 

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser