Zur Deduktion des Rechtsbegriffes bei FICHTE in der GNR – 2. Teil

Es liegt apriorisch im Denken der Vernunft, wenn ein Ich-Bewusstsein/Selbstbewusstsein und freie Wirksamkeit sein soll, dass (metaphysisch) die Existenz mehrerer Vernunftwesen vorausgesetzt werden muss. Wie deren Verhältnis und Gemeinsamkeit geregelt und gestaltet werden soll, das ist die uns beschäftigende Frage nach dem Relationsverhältnis bzw. nach dem Rechtsbegriff. Es ist generell Aufgabe der Transzendentalphilosophie, jede Form der Erkenntnis und des Handelns in ihrer synthetischen Einheit der Bedingung der Möglichkeit nach zu erklären – so auch hier: Was ist der Bedingung der  Wissbarkeit, dass ein  Miteinander freier Personen möglich ist und möglich wird. Jeder Begriff muss  seine unhintergehbare Bedingung erfahren.

In der spezifischen Eingrenzung einer bestimmten Sphäre von Freiheit erfasst das Subjekt zugleich sich selbst als Vernunftwesen und erkennt ein Vernunftwesen außerhalb seiner selbst ebenfalls zugleich als freies Wesen an.

Würden zwei Individuen als freie Wesen sich nicht primär erkennen und anerkennen (bejahen) können, könnte auch ein späteres (freies) Rechtsverhältnis nicht erreicht werden, zumindest nicht nach den Anforderungen einer apriorischen Transzendentalphilosophie, in der kein niederer oder höherer Realismus des Seins, oder umgekehrt niederer oder höherer Idealismus des Gedachten, blind vorausgesetzt werden darf. Alles muss in der Einheit von Anschauung und Begriff abgeleitet und unhintergehbar gerechtfertigt werden. So auch das Rechtsverhältnis freier Personen zueinander.

Gibt es keine einsichtige Einheit in das Rechtsverhältnis, käme es höchstens zu einer faktischen Bestandsaufnahme des Miteinander-Lebens, aber ohne rationale Begründung in das Wie dieses Miteinanders. Ein nicht denkbares Verhältnis freier Personen zueinander kann aber in letzter, in denkbar schlechtester Variante,  – so exerziert es FICHTE in der GNR vor (vgl. ebd. SW Bd. III, S 121f) – bis zur gegenseitigen physischen Vernichtung führen. 

Die geniale Antwort von FICHTE auf die Frage einer notwendigen, aber doch frei eingegangen und geschlossenen  Verträglichkeit von  Personen lautet: Es geschieht durch die hypothetisch gesetzte  Aufforderung und einem damit implizit gesetzten, kategorischen Bejahens  ein Anerkennen. Daraus entspringt genetisch der Rechtsbegriff – und in weiterer Folge steht alles Handeln in einer logisch-praktischen Konsequenz,  was das Miteinander betrifft,  oder anders gesagt, steht alles unter dem Rechtsbegriff und ist in ihm enthalten. 

G. v. Manz beschreibt dieses Aufforderungs- Anerkennungsverhältnis als  „Intersubjektivitätschluss“, als „transzendentalen Rechtsbegriff.“ (Fairneß und Vernunftrecht, ebd., S. 99).

FICHTE erläutert diesen transzendentalen Rechtsbegriff (nach der Ableitung der notwendigen Existenz der Pluralität von Vernunftwesen in § 3) in § 4 (ebd. S 41 – 56)

(…) Die Erkenntniss des Einen Individuums vom anderen ist bedingt dadurch, dass das andere es als ein freies behandele (d.i. seine Freiheit beschränke durch den Begriff der Freiheit des ersten). Diese Weise der Behandlung aber ist bedingt durch die Handelsweise des ersten gegen das andere; diese durch die Handelsweise und durch die Erkenntniss des anderen, und so ins Unendliche fort. Das Verhältniss freier Wesen zu einander ist daher das Verhältniss einer Wechselwirkung durch Intelligenz und Freiheit. Keines kann das andere anerkennen, wenn nicht beide sich gegenseitig anerkennen: und keines kann das andere behandeln als ein freies Wesen, wenn nicht beide sich gegenseitig so behandeln.“(§ 4, ebd., S 44)

Der aufgestellte Begriff ist höchst wichtig für unser Vorhaben, denn auf demselben beruht unsere ganze Theorie des Rechtes. Wir suchen ihn daher durch folgenden Syllogismus deutlicher und zugänglicher zu machen.“

I. Ich kann einem bestimmten Vernunftwesen nur insofern anmuthen, mich für ein vernünftiges Wesen anzuerkennen, inwiefern ich selbst es als ein solches behandele.“ (§ 4, ebd. S 44)

1. 1) Der Interpersonalitäts- oder Intersubjektivitätsschluss verdient noch weiterer Betrachtungen. Ich verweise hier auf J. Widmann: Eine Synthesis von einem Ich auf ein anderes Ich scheint ein sehr abstrakter Schluss zu sein, ist aber nur möglich, wenn sie in concreto als Ich und Du in Wirklichkeit geschieht:   „Die Synthesis von Ich und Du ist keineswegs eine bloß logische Konsequenz des einzelnen Sichbildens, das Bewusstheit von sich erzeugt, sondern „ineins lebendige und konkrete Bewusstwerdung eines andern konkreten Bewusstseins. Ein anderes selbständiges Ich fassen wir aber im Begriff des Du.“1

„Erlebt wird in dieser Bewusstwerdung eine unmittelbar nicht weiter durchschaubare Doppelung des konkreten Ichbegriffs. Das Besondere an dieser Doppelung wird darin erfahren, dass nur einer der beiden Ichbegriffe mit dem Gefühl der unmittelbaren Selbstgewissheit verbunden ist – der andere zwar auch faktisch gewiss da ist, diese Gewissheit sich aber qualitativ von der ersten unterscheidet. Die Differenz beider Gewissheitsweisen wird auf den Begriff des Anderen projiziert und verschmilzt ihn und den zweiten Ichbegriff zum Begriff des Du. Durch diese Synthesis treten zwei Formen von sichtbarer Geschlossenheit ins Licht des individuellen Bewusstseins: die erinnerte ursprüngliche des reinen Ichbegriffs und die neugeschaffene eines besonderen Ichbegriffs. Das Sichbilden selbst erscheint gespalten in ein ursprüngliches und ein neues, fremdes Sichbilden. (…)“2

Dem transzendental-philosophischen Denken auf der Suche nach einem apriorischen Rechtsbegriff muss  das unmittelbare Konkretum eines anderen, realen Ichs vorausgehen, weil die ideale Voraussetzung eines Bildes notwendig die reale Konkretion verlangt – so der  Beweis nach der WL 1804/2. 3

K. Hammacher bezeichnet die „Aufforderung“ als „performativen Sprechakt“: „(…) Fichte hatte die „Aufforderung“ einmal so erläutert: „Also dasselbe, was oben im reinen Denken Aufgabe, sich zu beschränken, (war), finde ich in der Versinnlichung als ein aufgefordert sein, sich zu beschränken.“ Es gibt die Redensart »keine Antwort ist auch eine Antwort«, die uns das einfach begreiflich machen kann. In dem sprachlichen Bezug auf eine der Aufforderung entsprechende oder nicht entsprechende Handlung waltet also eine die Antwort herbeizwingende „logische“ Notwendigkeit. Sie hat den formalen Charakter eines ethischen Anspruchs, wenn  man so sagen will, ist aber selber keine Entscheidung. Sie wird hier deshalb auch „Entscheidbarkeit“ genannt. Es ist eine logische Alternative, die nicht mit dem „wahr“ oder „falsch“ der formalen Logik zu verwechseln ist, insofern es bei ihr eben nur um Entscheidung überhaupt geht. Auf eine Aufforderung reagiert man in jedem Falle, auch wenn man vorgibt oder sich vornimmt, ihr nicht zu folgen. 

Wir haben damit eine Form der Verbindlichkeit gefunden, die nicht an die unerkennbaren Elemente in der subjektiv-individuellen Absicht gebunden ist und trotzdem eine gesetzmäßige Struktur enthält, wie sie das Recht benötigt, die aber im Unterschied zu Austin einer reinen Handlungslogik zuzuordnen ist. Fichte hatte dies wohl auch gemeint, wenn er von der »praktische[n] Gültigkeit des Syllogismus« (GA I, 3, 356,25) in der Grundlage des Naturrechts sprach. 4

1. 2) Noch ein wichtiger Aspekt scheint mit wichtig zu sein, auf den v. Manz später hinweist: Aus der transzendental vorausgesetzten Existenz mehrerer Personen und einem möglichen Relationsverhältnis derselben zueinander kann und soll  das Anerkennungsverhältnis auf die Aufforderung folgen. Das heißt aber jetzt offenbar, dass eine Zeitspanne und Zeitdauer aufgemacht wird zwischen Aufforderung und intendierter Antwort und Anerkennung. Woher jetzt die Zeit? Was tun mit dieser Zeit? Verfälscht sie nicht die ganze Absicht, die vielleicht in der Aufforderung liegt, oder verhindert sie überhaupt eine transzendentale Synthesis „partes integrantes“?

Der Reflexionsakt eines einzelnen Vernunftwesens in seiner Zeit (=Z1) kann von einem anderen Vernunftwesen in seiner anderen Zeit (=Z2) gar nicht eingeholt werden, ergo gibt es kein ursprüngliches Erkennen der Absicht des anderen?

Die genauere Analyse würde uns zurückführen zu den Ableitungen der Zeit in der GWL und in der WLnm. Es ist alles von FICHTE hier so selbstverständlich hingesagt, aber trotzem sehr genau und pointiert:

Aber dasselbe (sc. Aufforderungsobjekt) wird nicht anders begriffen, und kann nicht anders begriffen werden, denn als eine blosse Aufforderung des Subjects zum Handeln. So gewiss daher das Subject dasselbe begreift, so gewiss hat es den Begriff von seiner eigenen Freiheit und Selbstthätigkeit, und zwar als einer von aussen gegebenen, verstanden. Es bekommt den Begriff seiner freien Wirksamkeit, nicht als etwas, das im gegenwärtigen Momente ist, denn das wäre ein wahrer Widerspruch; sondern als etwas, das im künftigen seyn soll. (Hervorhebung von mir; GNR, § 3, S 33)

Das in der Zeit und durch die Zeit geprägte Anerkennungsverhältnis offenbart das Postulat, es möge zusätzlich zur möglichen freien Wirksamkeit und prinzipiellen Willensgleichheit der Subjekte zu einem  fortbestehenden Verhältnis kommen, was uns den Begriff der „Geschichte“ als konstitutiv für den Vernunftbegriff offenbart.

Ebenso folgt m. E. noch eine wichtige Bedingung, eine religionsphilosophische Bedingung: Ein fortbestehendes Verhältnis in einem Willensschluss verlangt einen beständigen Willen, der die performative Sprechhandlung oder einen folgenden Vertrag erst garantieren kann.  Es liegt nicht in der Macht des kontingenten Subjekts und seiner Absichten, diesen beständigen Willen zu garantieren. Er kann m. a. W.  nur durch die Transzendenz garantiert werden. 

Dazu wiederum einmalig  K. Hammacher: „(Ein Versprechen oder ein Rechtsverhältnis hat)…mit der Erwartung künftigen Verhaltens zu tun. Der Versprechende bindet sich im Vertrag: sollte er nach dem Vertragsschluss seinen Willen ändern, so ist er doch an sich heute und morgen gebunden. Die Erwartung enthält also im zwischenmenschlichen Verhalten zweierlei Bedeutung — wie wir noch genauer sehen werden —, nämlich eine ethische und eine rechtliche.  Nun geht auch ein Vertrag auf ein Versprechen zurück und bindet auch ethisch und zwar so, dass das Versprechen immer Erwartungen erweckt.  Den durch Vertrag objektiv begründeten Erwartungen entspricht die Aufforderung, sie zu erfüllen. Das erkennt man freilich erst, wenn man die Aufforderung voll angemessen — und das ist — als gegenseitig bindendes Verhältnis berücksichtigt. Nun ist in der Lehre von der „Aufforderung“ wohl die bedeutendste Leistung Johann Gottlieb Fichtes (1762-1814), insbesondere für die Rechtsphilosophie, zu sehen, Jedoch hat Fichte nicht alle hierbei mitwirkenden Komponenten bei ihrer Anwendung auf den Rechtsbegriff berücksichtigt. Wir können aber dennoch bei ihm anknüpfen, um sie zu gewinnen. Mit der Erwartung wirkt offensichtlich die Aufforderung auf die Rechtsordnung ein. Und zwar gründet sie im mit der Erwartung verbundenen Vertrauen auf einen beständigen Willen. Letzterer ist die grundlegendste des Rechts überhaupt, mit dem deshalb hier das gesamte Rechtssystem analysiert wird. Der beständige Wille wird je doch erst rechtsverbindlich durch eine Willenserklärung als öffentlicher Akt, sei diese auch nur kundbar gemacht durch eine Geste (wie etwa durch Handschlag beim Kaufvertrag).  Das heißt aber nicht, dass vom Recht damit verlangt wird, einen ethischen Anspruch, wie er mit der Erwartung erweckt worden sein kann, zu erfüllen. Dass dies nicht daraus folgt, hierfür hat die transzendentale Rechtslehre Kants und Fichtes trotz ihrer grundsätzlichen Unterscheidung von „Legalität“ und „Moralität“ einen eigentlichen Beweis nicht erbracht.“ 5Es liegt somit in der Aufforderung der Verweis auf eine unverfügbare Transzendenz enthalten.
Wie sich die Hoffnung oder dieses Vertrauen konkret in den Anschauungsformen der Zeit und des Raumes, d. h. in geschichtlichen Anwendungsbedingungen  zeigt – siehe dann später: Es geht hier noch nicht um ein schon vorausgesetztes Zeitverhältnis und um äußerliche Zeitquanta und irgendwelche Raumpunkte, sondern um das Zustandekommen einer genetischen Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung angesichts anderer Freiheit und anderer Gestalt, als Rechtsverhältnis gesehen  – wodurch allerdings die Anschauungsform Zeit und Raum notwendig hervorgehen.  
Anders gesagt: die sonst nur naturphilosophisch betrachteten Anschauungsformen Zeit und Raum entstehen erkenntniskritisch und konstitutiv mitverursacht in und durch eine Interpersonalitäts- und folgende Rechtslehre.

Der Moment der erhofften Anerkennung der Aufforderung, nennen wir es dritte Zeit (=Z3), vollendet das Werden der Zeit des Auffordernden (Z1) und das Werden des Aufgeforderten (Z2), sodass sich durch ein Drittes einer Zeitdauer Z3 das problematische Anerkennungsverhältnis zu einem kategorischen Anerkennungsnexus schließt. Dies ist der Beginn des eigentlichen Begriffes einer Dauer von Zeit und der Anfangsbegriff einer Geschichte.

Dies würde für sich jetzt umfangreicher Analysen bedürfen – und ist dargelegt bei R. LAUTH, Die Konstitution der Zeit im Bewusstsein, Hamburg 1981.

Oder ähnlich, damit verweise ich wieder auf J. Widmann in seiner Analyse der WL 1804/2 und seiner Zeitdeduktion: „Mit ihm (sc. dem Denken und Erzeugen eines faktischen Anfangs)  wiederholt sich nun die spontane Anfangssetzung, die wir von Z1 kennen (sc. Z1 als erstes Teilmoment einer faktischen Zeitsetzung),  denn als erster Anfang der Dauer hat Z3 seinerseits keine bestehenden Dauerform, sondern nur Werdensform sich voraus. Durch diesen Stellung zwischen Werden und Dauer unterscheidet sich Z3 aber auch wesentlich von Z1. Wohl ist es seinerseits Anfang, doch nicht schlechthin unbedingter, sondern durch Werden bedingter Anfang.“ 6

Die Gemeinschaft des Bewusstseins dauert immer fort. Ich richte ihn (den anderen) nach einem Begriffe, den er, meiner Anforderung nach, selbst haben muss.“ (GNR § 4, 50)

M. a. W., es bleibt in diesem synthetischen Ansinnen der Aufforderung die praktische Supposition anderer Freiheit auf Hoffnung und Zukunft und Vertrauen (der Kategorizität) hin gesetzt.
V. Manz beschreibt den Intersubjektivitätschluss weiter so: „Ist das Anerkennungsverhältnis einmal gesetzt, stehen alle folgenden Beziehungen (bzw. die Handlungen, die zu solchen Beziehungen führen), unter ihm. Die Vernünftigkeit erweist sich darin, ob in der Folge konsequent nach den etablierten Anerkennungsverhältnis gehandelt wird. Mit dem einmal gesetzten Anerkennungsverhältnis beginnt eine gemeinsame Geschichte.“
7

Ganz richtig betont  von Manz, dass aus dem Aufforderungs-Antwortverhältnis nicht automatisch das Anerkennungsverhältnis folgen muss, so als sei die Freiheit der Reflexion zu einer Affirmation anderer Freiheit und nochmals innerhalb einer gemeinsamen Sphäre vieler anderer Vernunftwesen und innerhalb einer geschichtlichen Reihe erzwungen. Das würde sowohl den Begriff der „Freiheit“ aufheben, als generell jeden Erkenntnis- und Handlungsbegriff, der mit der Freiheit beginnt, und generell jedes freie Relationsverhältnis in der Rechtslehre und Sittenlehre und Geschichte verstandlich zu bewältigen versucht. 

M. a. W. in dem „Bestimmtseyn des Subjects zur Selbstbestimmung, eine Aufforderung an dasselbe, sich zu einer Wirksamkeit zu entschliessen.“ (GNR, § 3, ebd. S 33) wird das andere, reale Subjekt nicht determiniert, sondern nur „an-determiniert“ (R. LAUTH).

Die je eigene Subjektivität ist der Bestimmung durch alle potentiellen anderen Vernunftwesen ausgesetzt; d. h. im Verhältnis zu einem anderen kann die Subjektivität ermöglicht werden, wenn eine gegenseitige Anerkennung vollzogen wird, oder sie kann bedroht sein, wenn es zu keinem Anerkennungsverhältnis kommt. Zugleich ist sie bei bereits gesetzten Verhältnissen dem zeitlichen Verlauf ausgesetzt. Das Anerkennungsverhältnis kann bei konsequentem Handeln Bestand haben oder es bricht bei inkonsequentem Handeln ab.“ 8
„(…) Das Rechtsverhältnis ist nichts anderes als die notwend
ige Bedingung für das Anerkennungsverhältnis.“ 9

Das deduzierte Verhältnis zwischen vernünftigen Wesen, daß jedes seine Freiheit durch den Begiff der Möglichkeit der Freiheit des anderen beschränke, unter der Bedingung, daß das erstere die seinige gleichfalls durch die des anderen beschränke, heißt das Rechtsverhältnis (ebd. § 4, S 52)

Die Formulierung des Rechtsbegriffs nennt Fichte den Rechtssatz:

Ich muss das freie Wesen ausser mir in allen Fällen anerkennen als ein solches, d. h. meine Freiheit durch den Begriff der Möglichkeit seiner Freiheit beschränken“ (ebd. § 4, S 52)

1. 4) Aber nicht nur der Ursprung der Zeit und Geschichte und der Verweis auf die Transzendenz als Garantie des beständigen Willens  ist im Interpersonalitäts- und Intersubjektivitätschluss enthalten. Wenn der Rechtsbegriff konstitutiv sein soll für diese Bereiche, so enthält er zugleich eine höhere Bedingung seiner selbst, was den Zweck der juridischen Verhältnisse und Visionen betrifft: die Idee der Gerechtigkeit. Der Rechtsbegriff umfasst zwar als Formbegriff einen qualitativen Inhalt des Selbstbewusstseins, die Interpersonalität (oder, etwas anders konnotiert, Intersubjektivität), die Leiblichkeit und die Kommunikabilität, aber der Inhalt selbst zeigt klar über  diese juridischen Gesetzlichkeiten hinaus und führt zu moralischen und pädagogischen und gesellschaftlich-politischen Konsequenzen, die ein Rechtsbegriff oder eine Rechtssprechung (die Legislative) eigentlich nicht mehr erreichen kann.10 

(c) 29. 4. 2021 Franz Strasser

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1J. Widmann, Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens nach Joh. Gottl. Fichtes Wissenschaftslehre 1804/2, S 210.

2Ebd. S 210.

3In der Terminologie der WL 1804/2 lässt sich das so darstellen: Das Bilden eines individuellen Ichs innerhalb des „absoluten Ichs“ ist nur denkbar in Hinblick a) auf eine mögliche Idee eines Sich-Bildens hin, was wiederum zur Folge hat, dass ein Sich-Bilden b) nur im Gegenüber zum Begriff des Wirklichen möglich ist.

Vgl. dazu J. Widmann, Die transzendentale Struktur, a. a. O., Abschnitt zum Bildbegriff 4. 3, S 174ff und zum Du-Begriff, S 209ff. „Durch diese Synthesis treten zwei Formen von sichtbarer Geschlossenheit ins Licht des individuellen Bewußtseins: die erinnerte ursprüngliche des reinen Ichbegriffs und die neugeschaffene eines besonderen Ichbegriffs. Das Sichbilden selbst erscheint gespalten in ein ursprüngliches und ein neues, fremdes Sichbilden. Der Bezug auf das Sichbilden, den wir in den obigen Synthesen rein betrachten konnten, muß von jetzt an als in sich selbst gespalten angesehen werden.“ (J. Widmann, ebd. S 210)

4K. Hammacher, Rechtliches Verhalten und Idee der Gerechtigkeit, Baden-Baden 2011, S 45. Hervorhebungen von mir.

5Das Zitat von K. Hammacher verweist jetzt auf seine verhaltensspezifische und ritualisierte Herleitung des Rechtsbegriffes, wodurch ihm eine Unterscheidung zwischen Legalität und Moralität sehr treffend gelingt. Siehe dazu: Rechtliches Verhalten und Idee der Gerechtigkeit, 2011, ebd. S 44. Hammacher spricht von den anthropologischen Bedingungen, die phänomenologisch den Rechtsbegriff anzeigen, und analysiert sie in transzendentaler Weise nach den Prinzipien der WL.

6 J. Widmann, Die transzendentale Grundstruktur des Wissens, a. a. O., S 280.281

7H. G. v. Manz, Fairneß und Vernunftrecht, ebd., S 101.

8H. H. G. v. Manz, ebd. S. 101.

9 H. G. v. Manz, ebd. S. 102.

10 Siehe dazu G. Duso, Politische als praktische Philosophie beim späten Fichte. In: Der transzendentalphilosophische Zugang zur Wirklichkeit: Beiträge aus der aktuellen Fichte-Forschung, 2001, ebd. S 393 – 409.

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser