Der Weg zur Transzendentalphilosophie – Teil 3, Schluss

Ich möchte jetzt  ein Zitat aus der Dissertation KANTS aus dem Jahre 1769/70 bringen, das stellvertretend für die Einsicht in die Idealität des Raumes und der Zeit stehen kann; ferner ein Zitat aus der KrV (A 506) von 1781, sozusagen als vorläufiger Abschluss der damaligen Fragen. In vielen Gebieten des Wissens wie Hirnforschung, Psychologie, der sog. „Evolutionstheorie“, scheint der transzendentale Ansatz vergessen! Man misst Reize, konstruiert bildgebende Verfahren, hinterstellt behavioristische Abläufe, programmiert künstliche Intelligenz, interpretiert biologische oder soziale Vorgänge  – und vergisst die mitlaufenden Reflexionsbedingungen.  Können aus Hirnvorgängen oder Programmiersprachen geistige Akte abgeleitet werden? Ist hinter der Natur ein Zufall erkennbar?  Was ist das Bewusstsein? 

Eine Analytische Sprachphilosophie behilft sich mit dem Regelwerk der Sprache, um Aussagen und Sätze mit der Wirklichkeit zusammenzubringen, fragt sich nur, wie die Zuordnung von Regeln (der Prädikation oder Kommunikation) wiederum begründet und verstanden werden kann? Durch den Gebrauch, durch die Lebensform?  Gibt es dafür Kriterien des richtigen Gebrauchs, geschweige ethischen Gebrauches? 

a) KANT stellte  Fragen zum Raum: Wie soll ein absoluter Raum vorgestellt werden, wenn er nicht nach ontologischen Begriffen wie Substanz und Akzidens und Wirklichkeit und Wirkungskraft erfasst werden kann? Wie vertragen sich die Geometrie des Raumes und die Metaphysik des Raumes nach NEWTON? (Sogenannte 1. Antinomie bei KANT)

b) Er stellte  Fragen zur Seele: Kann ich mir meiner selbst bewusst sein, reflexiv, oder nur in Ansehung der Welt um mich? Kann ich eine geistige Substanz der Seele annehmen, unterschieden vom Körper, nimmt sie dann einen Raum ein, den sie mit Undurchdringlichkeit erfüllt?   (Sogenannte 2. Antinomie)

c) Gibt es überall Determinismus oder doch Freiheit? (3. Antinomie)

d) Kann Gott als dasselbe Wesen an verschiedenen Orten des Raumes zugleich sein und mit sich selbst in einem äußeren Verhältnis stehen? Ist Gott unter räumlichen Bedingungen denkbar? Wie ist eine Schöpfungslehre denkbar?  Kann der Geist den Raum undurchdringlich erfüllen oder ist er darin ausgedehnt? (4. Antinomie)

Ich möchte schlicht und einfach nur die Fragen wiederholen, die KANT damals gestellt hat – und bis heute keine befriedigende Antwort finden können,  sofern der transzendentale Standpunkt verlassen sein sollte. 

DE MUNDI SENSIBILIS ATQUE INTELLIGIBILIS FORMA ET PRINCIPIIS. (1769/70), Werkausgabe Weischedel, Bd. V, S 47)

§.14.
Über die Zeit.

1. Die Vorstellung der Zeit entspringt nicht aus den Sinnen, sondern wird von ihnen vorausgesetzt. Denn ob das in die Sinne Fallende zugleich oder nach einander ist, kann nur |mittelst der Vorstellung der Zeit vorgestellt werden, und die Folge erzeugt nicht die Vorstellung der Zeit, sondern fordert nur dazu auf. Deshalb wird der Begriff der Zeit, als wäre er durch Erfahrung erworben, sehr schlecht als die Reihe von wirklichem nach einander Daseiendem definirt. Denn ich verstehe die Bedeutung dieses Nach nicht, wenn ich nicht schon vorher die Vorstellung der Zeit habe. Denn etwas ist nach einander, was in verschiedener Zeit besteht, //KI149// und das zugleich ist, was in derselben Zeit besteht. (….)

§.15.
Über den Raum.

A. Die Vorstellung des Raums wird nicht von den äußeren Empfindungen abgezogen. Denn ich kann nichts als außer mir gesetzt vorstellen, wenn ich es nicht in einem von dem, wo ich bin, verschiedenen Ort vorstelle, und ebensowenig Sachen außer einander, wenn ich sie nicht in verschiedene Orte des Raumes stelle. Die Möglichkeit äußerer Wahrnehmungen als solcher setzt also die Vorstellung des Raumes voraus und erzeugt ihn nicht; sowie auch das in dem Raum Befindliche die Sinne erregt, während der Raum selbst mit den Sinnen nicht wahrgenommen werden kann.

B. Der Begriff des Raumes ist eine Einzelvorstellung, welche Alles in sich enthält und nicht wie ein abgezogener und gemeinsamer Begriff es unter sich befaßt. Denn was man mehrere Räume nennt, sind es nur als Theile des unermeßlichen Raumes, die durch eine bestimmte Stellung sich auf einander beziehen, und man kann sich keinen Kubikfuß vorstellen, als durch den ihn umgebenden Raum überall begrenzt.

C. Die Vorstellung des Raumes ist deshalb eine reine Anschauung, da es eine Einzelvorstellung ist, die nicht aus Empfindungen zusammengeschmolzen ist, sondern die fundamentale Form jeder äußeren Empfindung. (Werkausgabe Weischedel, Bd. V, S 57)

In der KrV sind die Antinomien so zusammengefasst: siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Antinomien_der_reinen_Vernunft

  1. Antinomie
    • Die Welt hat einen Anfang in der Zeit, und ist dem Raum nach auch in Grenzen eingeschlossen.
    • Die Welt hat keinen Anfang und keine Grenzen im Raume, sondern ist, sowohl in Ansehung der Zeit, als auch des Raums, unendlich.
  2. Antinomie
    • Eine jede zusammengesetzte Substanz in der Welt besteht aus einfachen Teilen, und es existiert überall nichts als das Einfache, oder das, was aus diesem zusammengesetzt ist.
    • Kein zusammengesetztes Ding in der Welt besteht aus einfachen Teilen, und es existiert überall nichts Einfaches in derselben.
  3. Antinomie
    • Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität durch Freiheit zur Erklärung derselben anzunehmen notwendig.
    • Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur.
  4. Antinomie
    • Zu der Welt gehört etwas, das, entweder als ihr Teil, oder ihre Ursache, ein schlechthin notwendiges Wesen ist.
    • Es existiert überall kein schlechthin notwendiges Wesen, weder in der Welt, noch außer der Welt, als ihre Ursache.

    Stellvertretend für die ausführliche Besprechung KANTS jeder einzelnen Antinomie sei ein Auszug aus dem „kosmologischen Streit“ der Vernunft mit sich selbst gebracht.  Darin wird Bezug genommen auf die 3. und die 4. Antinomie: Ob die Welt als endlich oder unendlich gedacht wird, kann in der Reihe der Bedingungen nie an sich entschieden werden, denn die Totalität aller Bedingungen zu einer Erscheinung ist rein eine Synthesis der Vernunft. Die Synthesis der Vernunft denkt zwar die Totalität in der Reihe der Bedingungen, sei es für die Welt, sei es für die Seele, sei es für Gott, aber davon lässt sich kein Erkenntnisbegriff gewinnen, weil unbedingte Bedingungen nicht veranschaulicht werden können bzw. nicht anschaulich sind.

Was hier von der ersten kosmologischen Idee, nämlich der absoluten Totalität der Größe in der Erscheinung, gesagt worden, gilt auch von allen übrigen. Die Reihe der Bedingungen ist nur in der regressiven Synthesis selbst, nicht aber an sich in der Erscheinung als einem eigenen, vor allem Regressus gegebenen Dinge anzutreffen. Daher werde ich auch sagen müssen: die Menge der Theile in einer gegebenen Erscheinung ist an sich weder endlich, noch unendlich, weil Erscheinung nichts an sich selbst Existirendes ist, und die Theile allererst durch den Regressus der decomponirenden Synthesis und in demselben gegeben werden, welcher Regressus niemals schlechthin ganz, weder als endlich, noch als unendlich, gegeben ist. Eben das gilt von der Reihe der über einander geordneten Ursachen, oder der bedingten bis zur unbedingt nothwendigen Exi|stenz, welche niemals weder an sich ihrer Totalität nach als endlich, noch als unendlich angesehen werden kann, weil sie als Reihe subordinirter Vorstellungen nur im dynamischen Regressus besteht, vor demselben aber und als für sich bestehende Reihe von Dingen an sich selbst gar nicht existiren kann. (….) KrV B 533. 534; A 506;)

So wird demnach die Antinomie der reinen Vernunft bei ihren kosmologischen Ideen gehoben, dadurch daß gezeigt wird, sie sei bloß dialektisch und ein Widerstreit eines Scheins, der daher entspringt, daß man die Idee der absoluten Totalität, welche nur als eine Bedingung der Dinge an sich selbst gilt, auf Erscheinungen angewandt hat, die nur in der Vorstellung und, wenn sie eine Reihe ausmachen, im successiven Regressus, sonst aber gar nicht existiren. Man kann aber auch umgekehrt aus dieser Antinomie einen wahren, zwar nicht dogmatischen, aber doch kritischen und doctrinalen Nutzen ziehen: nämlich die transscendentale Idealität der Erscheinungen dadurch indirect zu beweisen, wenn jemand etwa an dem directen Beweise in der transscendentalen Ästhetik nicht genug hätte. Der Beweis würde in diesem Dilemma bestehen. Wenn die Welt ein an sich existirendes Ganzes ist, so ist sie entweder endlich, oder unendlich. Nun ist das erstere sowohl als das zweite falsch (laut der oben angeführten Beweise der Antithesis einer- und der Thesis andererseits). Also ist es auch falsch, daß die Welt (der Inbe|griff aller Erscheinungen) ein an sich existirendes Ganzes || sei. (KrV B 534.535)

Der antinomische Zustand der Vernunft  führte KANT 1769/70 zur berühmten „Veränderung der Denkungsart“, zur sogenannten transzendentalen Denkungsart: Die Objektwelt (oder allgemeiner der Begriff der Erfahrung) müsse zuerst in und aus denknotwendigen Bedingungen, sprich,  in und aus Anschauungsformen und Begriffen des Erkenntnisvermögens bestimmt und eingegrenzt werden, damit zutreffend von einer gültigen Erkenntnis gesprochen werden kann.   Wir haben nicht einen realistischen Weltbegriff,  als könnten wir das An-sich-Sein der sinnlichen Dinge erkennen, sondern mithilfe apriorischer  Formen der Anschauung und der Begriffe erkennen wir die Welt. Die künftige Metaphysik muss eine erkenntnis-kritische Philosophie sein, d. h. eine Philosophie, die sich sowohl der aller-allgemeinsten Erkenntnisbedingungen der Gegenstände der Erfahrung,  d. h. der Möglichkeitsbedingungen der Wahrnehmung (Ästhetik) wie der Möglichkeitsbedingungen der Begriffe (der Logik),   als auch der Grenzen des Vernunftgebrauches (der transzendentalen Dialektik) bewusst ist.

Ich möchte hier die kurze Vorstellung von Kant beenden, wobei natürlich viel  mehr gesagt werden müsste. Die Überleitung zu einer Weiterführung und zugleich Vollendung  der sogenannten „Transzendentalphilosophie“ ist begonnen – und FICHTE wird sie künftig „Wissenschaftslehre“ nennen. Die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis (der Gegenstände der Erfahrung) wird  zu einer umfassenderen Fragestellung fortgeführt und vollendet  werden, denn die Tätigkeit des Bewusstseins kann nicht zweigeteilt sein, hier theoretische Erfahrungsbedingungen, dort praktische Handlungsbedingungen, sondern das Wesen des Erkennens ist theoretisch und praktisch eins, ist eine, ganze, selbstbewusste Tätigkeit.  Die von KANT so deutlich aufgestellten Antinomien – wo liegt ihre Lösbarkeit? Wenn ich nur auf die Teilungs-Antinomie eingehe:

a) Eine jede zusammengesetzte Substanz in der Welt besteht aus einfachen Teilen, und es existiert überall nichts als das Einfache, oder das, was aus diesem zusammengesetzt ist.
b) Kein zusammengesetztes Ding in der Welt besteht aus einfachen Teilen, und es existiert überall nichts Einfaches in derselben.

KANT sah zwar den transzendentalen Hintergrund, konnte ihn aber genetisch nicht entschlüsseln. Wenn ich einsinnig von dem Ganzen auf die einfachen Teile schließe, wie ich transzendentallogisch berechtigt bin zu schließen und anzunehmen, „jede zusammengesetzte Substanz besteht aus einfachen Teilen“, habe ich ein einsinniges Prinzip des Schließens vor Augen und formuliere das als „a“. Zugleich könnte ich transzendentallogisch gleichberechtigt schließen, dass es ja gar nicht viele einfache Teile gibt, sondern nur ein Ganzes – „kein zusammengesetztes Ding der in der Welt besteht aus einfachen Teilen“, so bekomme ich „b“. Ich drehe dieses Prinzip des Schließens um, bin aber damit unvermerkt vom transzendentallogischen Schließen auf das Prinzip des Faktums gekommen, dass es faktisch entweder nur Zusammengesetztes aus unendlich vielen Teilen gibt, oder faktisch nur Ganzes ohne zusammengesetzte Teile. (a aus b oder b aus a).  So endet die Alternative unentscheidbar, eine paradoxe Sache, eine sogenannte Antinomie.

Die dritte Alternative im transzendentallogischen Schließen wird nicht mehr gesehen, die aber Fichte einbringen wird: dass nicht die logische Alternative absolut gesetzt werden darf. Wird absolut negiert, wird der Anschein erweckt, es kann einsinnig von a nach b (oder a aus b) gegangen werden und rückwärts die gleiche Richtung von b nach a (b aus a) und beide bedeuten dasselbe, aber es muss auch einen Grund dieser Disjunktionseinheit geben: KANT konnte  die Bedeutungsverschiedenheit von a nach b (a aus b) und von b nach a (b aus a) nicht finden, weil er am Prinzip selbst die einfache positive Identitätssetzung nicht gesehen hat, d. h.  er konnte nicht die dritte Alternative finden, weil er das tertium comparationis einer absoluten Einheit nicht kannte, worin und wodurch zwei Richtungen und Bedeutungen erst bestimmt werden. Faktisch kann bei Kant die Antinomie somit nicht mehr gelöst werden, weil prinzipiell der faktische Schein schon gesetzt ist,  dass entweder a nach b oder b nach a (a aus b oder b aus a) richtig sein muss. Aus dem beabsichtigten transzendentalen Grundkonsequenz der Erklärung a nach b oder b nach a (a aus b oder b aus a) ist das Grundparadox gesetzt – und somit nicht mehr auflösbar. Das Grundparadox liegt aber nicht am Prinzip des „von a her zu b hin“ oder umgekehrt „von b nach a“, sondern liegt im Akt zweier Identitätssetzungen in der einen Disjunktionseinheit des Bestimmens. (Zum Phänomen des „Paradox“ und den Antinomien, siehe J. Widmann, Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens, 1977, S. 107- 110.)

(c) Franz Strasser, Mai 2015

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser