Analysis und Synthesis in „EIGNE MEDITATIONEN“ von 1793/94 und in der „PRACTISCHEN PHILOSOPHIE“ von 1794 – Johann Gottlieb FICHTE GA II, 3.
1) Eingangs in seinen EIGNE MEDITATIONEN bezeichnet FICHTE seine Methode einerseits als „synthetisch“, andererseits als „analytisch“.
„Lässt sich nicht dennoch ein Weg denken von der Einheit der Apperception bis zur praktischen Gesezgebung der Vernunft herauf: u. von ihr wieder zu jener herabzusteigen; welches, das erste die synthetische, das letzte die analytische Methode wäre. – Könnten diese einander zur Probe dienen? – Wohin kommt das Princip der ästhetischen, u. teleologischen Urtheilskraft?“ (GA II, 3, 26)
Er benennt dabei – anders als sonst im Traditionsgebrauch üblich – das Hinaufsteigen (griech. „ana“) im theoretischen Teil des Wissens, also im Bereich des Vorstellens „synthetisch“, und möchte im praktischen Teil „herabsteigen“, d. h. die gefundenen idealen Formen des Vorstellens analysieren, wie sie denn in der realen Wirklichkeit und Praxis zur Geltung kommen.1
KANT erklärt in seinen PROLEGOMENA sein geübtes Verfahren als das „analytische Verfahren, (…) dass man von dem, was gesucht wird, als ob es gegeben sei, ausgeht und zu den Bedingungen aufsteigt, unter denen es allein möglich ist. Die analytische Methode „könnte besser die regressive Lehrart zum Unterschiede von der synthetischen oder progressiven heißen“ (Proleg. § 5 Anm).
Warum hat Fichte in dieser Frühform der WL „Synthesis“ und „Analysis“ anders genannt als in der Tradition üblich? Eine unabsichtliche Vertauschung?
Die Antwort wird uns von selbst gegeben, wenn wir beide Teile „EIGNE MEDITATIONEN“ und „PRACTISCHE PHILOSOPHIE“ (GA II, 3) überschauen und verstehen, d. h. warum Fichte absichtlich diese Ausdrucksweise wählte.
Es schwebte ihm bereits eine völlig neue Grundlegung des metaphysisch-begrifflichen Wissens vor, das in seinen Begründungsformen vom praktischen Teil der Sinnbestimmungen aller Begriffe und Anschauungen abhängen sollte, ergo muss der herkömmlich so genannte analytische Aufstieg viele synthetische Elemente enthalten, die als solche mitreflektiert werden müssen. Deshalb schwebte ihm bereits eine ideale „Synthesis“ vor – selbst im Erstellen der theoretischen Wissensbedingungen.
Des Besseren belehrt, entdeckt aber Fichte – er gesteht es freimütig ein – dass ein reiner Weg der „Analysis“ im praktischen Teil des Wissens (in den praktischen Konstitutionsbedingungen) nicht möglich sein wird, erst recht dann nicht im theoretischen Teil, worin das Nicht-Ich ausdrücklich nach dem Satz des Grundes das Ich bestimmt.
„Aber 2.) ich bin auf diese ganze Theorie bloß durch ein Ohngefähr, u. gegen meine vorherige Absicht verschlagen worden. Um sicher zu seyn, dass nicht vergebens gearbeitet worden, so muss ich mir selbst erst beweisen, dass der Weg richtig ist. – Geht mein oben vorgeschlagnes Herabsteigen nicht; u. warum nicht?“ (PRACTISCHE PHILOSOPHIE, ebd. GA II, 3, S 186)
Das heißt: im theoretischen Bereich des Erkennens bleibt das Ich offensichtlich vom Nicht-Ich einer Hemmung (oder einer Aufforderung) abhängig – bei allen apriorischen Erkenntnisbedingungen, die es selber in der Vorstellung einzubringen vermag. Ergo, wenn das Ich nicht alle Wissensbedingungen (idealistisch) für das Nicht-Ich erzeugen kann, bleibt es auch im praktischen Teil seines Strebens abhängig von Wissensbedingungen, die es nicht a priori schon weiß. Die Abhängigkeit des theoretischen Ichs vom Nicht-Ich lässt sich auch praktisch nicht aufheben. (Das wird sich später als tiefgehender Sinn herausstellen: Damit die Bestimmbarkeit und Entscheidbarkeit für eine freie und appositionelle Einheit, sprich für Freiheit überhaupt, geschaffen werde, ist eine nicht alles in restlose Erkenntnis auflösende praktische Philosophie notwendig.)
Das Ich ist sowohl im theoretischen Erkennen wie im praktischen Streben auf einen unerklärlichen Rest einer Nicht-Erkenntnis des Nicht-Ich verwiesen. So bleibt die Frage Kants aufrecht: Wie sind synthetische Erkenntnisse a priori möglich?
2) Im großen Unterschied zu Kant kann aber Fichte im praktischen Bereich zu Sinnbestimmungen finden, die einmalig sind, so z. B. wie es zu einer rechtlicher Freiheit kommt, wie zu einem kategorischen Imperativ u. a. m.
K. Hammacher: „ Es genügte Fichte schon damals nicht, an innere Erfahrung zu appellieren wie Kant mit der Konstatierung der Zeit als apriorischer »Form der inneren Anschauung«. Er deducirt die Zeit (PRACTISCHE PHILOSOPHIE, GA II, 3, 186), d. h. er holt durch »logische Reflexion« nach den Denkregeln heraus, wie man erst zu dem vollständigen Begriff der Zeit über den Begriff der Zukunft gelangt (GA II, 3, 190).“2
Das praktische Streben und Bedürfnis schafft sich notwendig die Zukunft und so die Zeitanschauung, um als solches sich frei entscheiden und handeln zu können. Aber natürlich bleibt eine Abhängigkeit des theoretischen Ich vom Nicht-Ich auch im praktischen Teil der Erkenntnis erhalten, wenn auch symmetrisch anders bestimmt, als bestimmend das Nicht-Ich. Die Abhängigkeit lässt sich theoretisch nicht aufheben (GA II, 3, 186) ) – auch nicht durch das praktische Ich.
Das praktische Streben kann nicht in endgültige Erkenntnis übergeführt werden, wie es vielleicht eine idealistische oder evolutionistische Philosophie behauptet.
Der vorgesehene „Abstieg“ als Anwendung synthetisch gefundener Erkenntnisbedingungen auf die Seinsordnung (die „ratio essendi“, mit Aristoteles gesprochen), muss in seinem analysierenden Verfahren ebenfalls synthetisch bleiben, weil immer nur beides zusammen, die („subjektive“) Erkenntnisordnung und die („objektive“) Seinsordnung die Wirklichkeit im Ganzen ausmachen.
3) Nach dem Erscheinen des die Philosophiegeschichte revolutionierenden Werkes „GRUNDLAGE DER GESAMMTEN WISSENSCHAFTSLEHRE“ (abk.=GWL) von 1794/95 kamen viele Einwände. Fichte erläutert gegenüber seinem Kollegen in Jena seine Methode, die sich 1793 und 1794 herausgebildet hat: Er nennt sie dann „analytisch-synthetisches“ Verfahren:
„ Was ist in diesem Geschäft (sc. eine absolute Einheit zu finden, eine analytisch-synthetische Einheit eines philosophischen Prinzips) das zu Analysirende? Das Ich, und zwar das Ich, wie es aufgestellt ist, als Subject Object; bestimmt so, wie es beides ist, also im Handeln. Die einige Handlung, durch die es beides, durch die es Ich ist, und welche jeder durch Erfüllung des ersten Postulats sich selbst giebt, ist zu analysiren, – wodurch sie getheilt wird, mithin in der Analyse erscheint als mehrere Handlungen. Die Realität des zu Analysirenden ist gesichert durch die beschriebne innere Handlung; sie geschieht wirklich, durch den der sie vornimmt, und hat sonach Realität; alles, was weiterhin aufgestellt wird, ist sie selbst in der Analyse, dasselbe hat sonach Realität, so wie sie selbst welche hat: die Richtigkeit des Verfahrens in der Analyse verbürgt das Denkgesetz. *) Denkt man nun in dieser Folge der [/] Handlungen, die nur für die analysirende Urtheilskraft eine Folge mehrerer Handlungen wird, an sich aber nur Eine Handlung ist, das Ich als Object, so hat man die Dinge (was Kant die Anschauung nennt): denkt man es als Subject, so hat man den Begriff. Aber die Analyse der Wissenschaftslehre stellt das Ich nicht als Subject, und nicht als Object auf, sondern als beides zugleich, läßt sonach Begriff und Ding zugleich entstehen, und macht es dadurch sichtbar für das innere Auge des Geistes, daß beide Eins sind und eben dasselbe, nur von verschiednen Seiten angesehen; — was Kant so ausdrückt: Begriff und Anschauung in der Wissenschaftslehre Ding) können nicht getrennt sein.* **)
(in der Sternchenanmerkung dazu heißt es:) „Um durch diese Aeußerung meine mit der Wissenschaftslehre näher bekannten Zuhörer, in deren Hände etwa diese Schrift fallen sollte, nicht zu verwirren: nicht für die Gelehrten, welche von der Wissenschaftslehre nichts wissen, und bei denen über diesen Punkt nichts zu verwirren da ist, setze ich hinzu, daß nur das Verfahren des Philosophen in Beziehung auf den ersten Grundsatz, analytisch, das [/] Verfahren und Handeln des seiner Untersuchung untergelegten Ich aber synthetisch ist.“ (Vergleichung des Schmidschen Systems, 1796, GA I, 3 S 255)
Ein analytisch-synthetisches erstes Hinaufsteigen – traditionell „Analyse“ genannt- und ein erneutes analytisch-synthetisches, zweites „Hinaufsteigen“ – traditionell „Synthese“ genannt – setzt zweifellos höchste Konzentration und Intuition von Denkmöglichkeiten voraus, denn die philosophischen Abstraktionen des Wissens sollen ja gnoseologisch-ontologische Bedingungen des Seins selber sein, d. h. wahres Erkennen und Verstehen des Seins ermöglichen. Der Weg der Abstraktion soll enden in einem Weg der Konkretion und den entsprechenden Realisierungen in vollkommener Weise. Die Einheit des Wissens ist analytische und synthetische Einheit zusammen, ist Ich-Einheit, reflexiologische Einheit, Anschauung und Begriff in eins, ist Analyse- und Synthesis – kraft ursprünglich produzierenden Einbildungs- und Darstellungskraft in ihrem Schweben zwischen Reflexion und Unterscheidung.
Die höchste Form der Einheit des Wissens – später in den WLn als Sich-Erscheinung des Absoluten noch deutlicher begründet, aber nicht als grundsätzliche andere WL – ist ein „Ich absolutum“, ein Denken, das begriffliches Denken und Anschauung analytisch wie synthetisch vereint.
Es kann auch nicht anders sein, als dass die analytische Einheit zugleich synthetisch sich darstellen und beweisen muss können als compositio, deductio, via judicii, via demonstrationis, – sonst würde man enden bei den unbegründeten Begriffe eines SPINOZAS oder HEGELS. Letztere können nicht beweisen, wie es zur Ableitung aus der Substanz kommt. Es sind leere Begriffe ohne Anschauung – mit Kant gesprochen. Die Elemente des Sich-Wissens in der Einheit des „Ich absolutem“ sind aber hoffentlich auf der Ebene der reinen Erscheinung keine Täuschung, sondern konkrete Erfahrung, interpersonaler Aufruf, Zeit- und Raumerfahrung, Gefühl, Affekt, Recht, Moral, Religion, Erkenntnis der Erkenntnis!
Anders gesagt: Terminologisch ist FICHTE am Beginn der EIGNE MEDITATIONEN also kein Fehler unterlaufen, sondern scharfsinnig schließt die traditionelle Methode der Analysis ein synthetisches Hinaufsteigen zu den höchsten Erkenntnisbedingungen mitein. Die Lösungsbedingungen der analysierten Wechselglieder sind a priori synthetisch gebildet und erschaut.
4) Notwendig geriet Fichte ab dem Erreichen der idealen Einheit des Sich-Wissens und der möglichen Deduktion der Vorstellung in die erneute Schwierigkeit, dass diese formale Einheit des Sich-Wissens wiederum synthetische Schritte der Lösung einer Aufgabe bedarf, sodass er sich selbst verwundert fragt und bescheidet: Geht mein oben vorgeschlagnes Herabsteigen nicht; u. warum nicht?“ (PRACTISCHE PHILOSOPHIE, ebd. GA II, 3, S 186)
Anders gesagt: Die theoretischen Wissbarkeitsbedingungen (oder Anwendungsbedingungen) einer begrifflichen Einheit werden durch die synthetischen Akte der ursprünglich produzierenden Einbildungskraft erreicht (ausgeführt in § 4 der GWL) – wodurch die Anschauung als solche theoretisch bestimmt und abgeleitet werden kann. Die praktischen Wissbarkeitsbedingungen der Anschauung sind aber ebenfalls synthetische Akte des Strebens, wodurch schrittweise das Linienziehen, die Anschauungsformen, die Interpersonalität, die Leiblichkeit und alle anderen Formen materialer Bestimmung in ihrer Sinnhaftigkeit erreicht werden können.
Analytische Lösungsbedingungen implizieren immer synthetische Resultanten, worauf die Lösung hinauslaufen soll. Wenn die Analyse falsch ist, gibt es keine richtigen synthetischen Ergebnisse – und umgekehrt: Ohne richtige Vorahnung einer Synthese kommt es zu keiner klaren Analyse. Die analytischen Wissbarkeitsbedingungen führen zu den Prinzipien der Erkenntnis, die synthetischen Anwendungsbedingungen zur Erkenntnis der Erkenntnis.
Anders gesagt: Die Vernunft handelt theoretisch in der Vorstellung und kommt darin triebmäßig bereits zur Vollendung. „Vollendung“ deshalb, weil im „triebmäßig“ sowohl eine Abhängigkeit von etwas anderem als durch uns selbst besteht, aber auch ein Streben nach Übereinstimmung, jenes nicht von uns abhängige abhängig von uns zu machen, d. h. eben vorzustellen und anzuschauen. (Siehe bereits Entwürfe zur Rezension Änesidemus, GA II, 2, 295. III. Fassung.)
Der Trieb ist reeller, innerer Erklärungsgrund der gewandelten, absoluten Tätigkeit der Vernunft im Rahmen des Bildungstriebes und des Vorstellungsvermögen der Vernunft.
Die eine Vernunft ist aber nicht zweigeteilt: Hier theoretisch vorstellend und anschauend, triebmäßig in der Vorstellung vollendet und durchbestimmt, dort praktisch handelnd, nach Übereinstimmung strebend und doch nie vollendbar, sondern setzt sich, konform zum triebmäßigen Vermögen der Einbildungskraft, frei einen Zweck- und Sinnbegriff. Vernunft, und wenn man so sagen will, „praktisches“ Wissen, ist ein ständiges Reflektieren und Integrieren in die vorstellungsmäßige Disjunktionseinheit des Sich-Wissens hinein – dort in der Vorstellung schon vollendet – und praktisch auf Veränderung und Teilung und neue Erfahrung und neue Inhalte bezogen. Anders gesagt: Es leuchtet in jeder theoretisch-praktischen Synthesis eine Differenz zum projizierten absoluten Wert- und Sinnhorizont bzw. eine Differenz zu einem wahren Urbild eines theoretisch und praktisch gebildeten Bildes vom Sein auf.
Durch die analytisch-synthetisch gefundenen Wissensbedingungen im Aufstieg der EIGNE MEDITATIONEN und im nochmaligen Aufstieg der PRACTISCHEN PHILOSOPHIE gelingen Fichte viele Neubegründungen philosophischer Grundbegriffe. Was ist die Zeit, was sind die Kategorien, wie kommen wir zu Bewegung, Artikulation, Organisation u. a. m.
© 20. 10. 2015 Franz Strasser
1 In der Tradition wurde der Terminus bzw. die Methode der „analysis“ auch mit resolutio, divisio, reductio, regressus, via inventionis, ars inveniendi beschrieben. Der Terminus „synthesis“ wurde als compositio, ascensio, deductio, via iudicii, via demonstrationis umschrieben. Siehe Michael Gerten, Wahrheit und Methode bei Descartes. Eine systematische Einführung in die cartesianische Philosophie, Hamburg 2001, S 63, Fußnote 108.
2K. Hammacher, Die transzendentallogische Funktion des Ichs. In: Fichte-Studien, Bd. 15, Transzendentale Logik, 1999, S. 31 – 69, S. 61.