Analysis und Synthesis in Fichtes Eigne Meditationen und in der Practischen Philosophie

Analysis und Synthesis in „EIGNE MEDITATIONEN“ von 1793/94 und in der „PRACTISCHEN PHILOSOPHIE“ von 1794 bei Johann Gottlieb FICHTE. Eine kurze Bemerkung.

Glyptothek, München 1) Eingangs in seinen EIGNE MEDITATIONEN bezeichnet FICHTE seine Methode einerseits als „synthetisch“, andererseits als „analytisch“.

Lässt sich nicht dennoch ein Weg denken von der Einheit der Apperception bis zur praktischen Gesezgebung der Vernunft herauf: u. von ihr wieder zu jener herabzusteigen; welches, das erste die synthetische, das letzte die analytische Methode wäre. – Könnten diese einander zur Probe dienen? – Wohin kommt das Princip der ästhetischen, u. teleologischen Urtheilskraft?“ (GA II, 3, 26)

Er benennt dabei – anders als sonst im Traditionsgebrauch üblich – das Hinaufsteigen (griech. „ana“) im theoretischen Teil des Wissens, also im Bereich des Vorstellens bis zur transzendentalen Apperzeption „synthetisch“, und möchte im praktischen Teil „herabsteigen“, d. h. das Wollen und Handeln analysieren, d. h. mittels denkmöglich aufgestellter Begriffe das praktische Streben, die Gefühle, das Wollen und Handeln bestimmen.

(Zu den Termini: In der Tradition wurde der Terminus bzw. die Methode der „analysis“ auch mit resolutio, divisio, reductio, regressus, via inventionis, ars inveniendi beschrieben. Der Terminus „synthesis“ wurde auch als compositio, ascensio, deductio, via iudicii, via demonstrationis umschrieben.)

Des Besseren belehrt kann aber auch im praktischen Teil des Strebens nicht eine reine Analyse folgen, weil sich  das Nicht-Ich in seiner konkreten Erscheinung und als konkreter interpersonaler Aufruf dem konkreten Sinn-Gehalt nach nicht ableiten lässt, sondern hingenommen und angenommen werden muss; zwar nicht rein passiv, es liegt ein aktives Attendieren im Gefühl und im interpersonalen Aufruf enthalten, aber aus bis jetzt unerklärlichen Gründen bleibt wie im theoretischen Bereich des vorgestellten Nicht-Ichs eine Unableitbarkeit der praktischen Gegenwelt und Anders-Welt erhalten.

Weder in der theoretischen Vorstellung lässt sich der Anstoß oder der Aufruf verleugnen oder verneinen, weil es sonst keine Anschauung gäbe, noch praktisch kann die subjektiv-objektive Erscheinung einer anderen Welt (später fünffach gegliedert und ins Unendliche teilbar) in ihrem Wert- oder Sinngehalt in concreto de-duziert werden. Jede Konkretion ist von sich her bereits ein Synthesis vieler ichlicher und nicht-ichlicher Momente und Kraftäußerungen, die zwar notwendig vereint sind, aber a priori kann nicht gewusst werden, was sie in ihrem Wert- und Sinngehalt bedeuten, sodass sie in ihren Elementen nur analysiert werden könnten.

Es gibt zwar eine gewisse apriorische und kategoriale Begrifflichkeit überhaupt aus Verschiedenheit, Unterschiedenheit, Wechselbestimmung für die Gesamtheit der Anschauung, aber die Bestimmheit innerhalb dieser apriorischen Bestimmbarkeit kann nicht de-duziert werden. Es bleibt ein aposteriorisches Moment des Anstoßes/der qualitativen Hemmung/des Anderen überhaupt.

Es muss sowohl theoretisch der Form nach ein Nicht-Ich entgegengesetzt und erhalten bleiben, obwohl aller Gehalt des Nichts-Ichs nach transzendentaler Gesetzlichkeit letztlich nur übertragen aus dem Ich sein kann; aber auch nach praktischen Handlungsgesetzlichkeiten muss das entgegengesetzte Nicht-Ich der Form nach – und dem Gehalt nach erhalten bleiben.

Die theoretischen Wissbarkeitsbedingungen einer Anschauuung sind deduzierbar und vollendet in der Vorstellung – in der Form eines bleibenden, entgegengesetzen Nicht-Ichs. Die praktischen Wissbarkeitsbedingungen können um ihrer selbst willen nicht vollendet und abgeschlossen sein, denn dann wäre

a) die praktische Freiheit sinnlos und schon determiniert, weil sie sich dem Sinn- und Wertgehalt gegenüber nicht mehr frei verhalten könnte,

b) es gäbe ferner keine Selbstständigkeit eines späteren Individuums und

c) endete alles in einen bodenlosen Idealismus oder Totalitarismus, als könnte vom Setzen der Tathandlung direkt zur Einsicht übergegangen werden. Der einer Tat hinterstellte, idealistische Gedanke könnte vom Tun vollkommen eingeholt werden –  wodurch aber jedes Kriterium der Wahrheit und der Erkenntnis entfiele und nur mehr per Machtentscheid würde gehandelt.

FICHTE schwebte sicherlich nicht nur die Gefahr und der Schein einer leeren Begriffsdialektik im theoretischen Vorstellen vor, sondern ebenso die Gefahr eines intelligiblen Fatalismus oder Determinismus und Totalitarismus. 

Aus dieser kurzen Bemerkung FICHTES oben lässt sich also kein (unwillkürlicher, unbewusster) terminologischer Fehler ableiten, weil er etwas abartig das Hinaufsteigen als synthetische Vorgehen beschreibt – sondern der später folgende Weg der konkreten Anwendung und Konkretisierung muss im Hinaufsteigen  schon mitbedacht sein. Analysis für sich nur genommen meint das (eingeschränkte) reine, theoretische Verfahren der Vernunft nach Denkgesetzen, also eine reduktives Zurückgehen und reduktives „Aufsteigen“, bis die Denkmöglichkeit der Vorstellung, sprich, die Denkbarkeit der Anschauung, erreicht ist.

Aber das löst nie die grundsätzliche formale Entgegensetzung eines anzusetzenden Nicht-Ichs, das aus höheren praktischen Gründen synthetisch zu veranschlagen ist. Der analytische Aufstieg, soll er nicht bei einem realistischen Dogmatismus oder bodenlosen Idealismus enden, bleibt vereinigt mit der grundsätzlichen synthetischen Einheit eines endlichen Ichs. 

Wenn man die Topik der Argumentation des Zitats oben genau liest, stimmt es vollkommen: Die Analysis enthält in sich schon eine Synthesis –  bis zur „Einheit der Apperception“ – aber dann geht es nicht mehr weiter, bzw. kann es nicht so weiter gehen, sondern „bis zur praktischen Gesezgebung der Vernunft herauf: u. von ihr wieder zu jener herabzusteigen;“ – eine Analysis für die praktische Gesetzgebung ist nicht möglich. Analysis ist nur soweit möglich, als die Gesetze der Vorstellung und Denkbarkeit gelten, aber für die praktischen Erkenntnisse wie Empfindung/Gefühl, sittliche Gefühle, Interpersonalität –  braucht es wieder ein analytisches und synthetisches Vorgehen gleichzeitig. 

Analytische Lösungsbedingungen implizieren immer eine synthetische Resultante, worauf die Lösung hinauslaufen soll. Wenn die Analyse falsch ist, gibt es keine richtigen synthetischen Ergebnisse – und umgekehrt, ohne richtige Vorahnung einer Synthese kommt es zu keiner klaren Analyse. Die analytischen Wissbarkeitsbedingungen führen zu den Prinzipien der Erkenntnis, die synthetischen Anwendungsbedingungen derselben zur Darstellung dieser Erkenntnisprinzipien, zur Klarheit, zur Gewissheit, zur Weisheit.

Anders gesagt: Die synthetischen Anwendungs- und Konkretionsbedingungen fließen bereits in die analytischen Wissbarkeitsbedingungen ein. Die Vernunft setzt sich nicht aus getrennten theoretischen und praktischen Handlungen zusammen, sondern ist eine Handlung, die sich in ästhetische und teleologische Handlungen aufspaltet. Deshalb oben die unerwartete Notiz und Frage: „Wohin kommt das Princip der ästhetischen, u. teleologischen Urtheilskraft?“

Ich möchte hier auf eine kurze Zeit später, nach Erscheinen der GWL von 1794/95 erschiene Schrift FICHTES verweisen, auf  „Vergleichung des Schmidschen Systems“ (1796), worin er polemisch auf seinen Kollegen in Jena antwortet, dass er mit seiner analytisch-synthetischen Methode genau die Einheit der Vernunft in ihrem Handeln herausstellen wollte, nicht ein psychologisches Vermögen eines vorausgesetzten Subjekts, das  eine empirische Dingwelt voraussetzt. 

Was ist in diesem Geschäft (sc. eine absolute Einheit zu finden, eine analytisch-synthetische Einheit eines philosophischen Prinzips) das zu Analysirende? Das Ich, und zwar das Ich, wie es aufgestellt ist, als Subject Object; bestimmt so, wie es beides ist, also im Handeln. Die einige Handlung, durch die es beides, durch die es Ich ist, und welche jeder durch Erfüllung des ersten Postulats sich selbst giebt, ist zu analysiren, – wodurch sie getheilt wird, mithin in der Analyse erscheint als mehrere Handlungen. Die Realität des zu Analysirenden ist gesichert durch die beschriebne innere Handlung; sie geschieht wirklich, durch den der sie vornimmt, und hat sonach Realität; alles, was weiterhin aufgestellt wird, ist sie selbst in der Analyse, dasselbe hat sonach Realität, so wie sie selbst welche hat: die Richtigkeit des Verfahrens in der Analyse verbürgt das Denkgesetz. *) Denkt man nun in dieser Folge der [/] Hand- lungen, die nur für die analysirende Urtheilskraft eine Folge mehrerer Handlungen wird, an sich aber nur Eine Handlung ist, das Ich als Object, so hat man die Dinge (was Kant die Anschauung nennt): denkt man es als Subject, so hat man den Begriff. Aber die Analyse der Wissenschaftslehre stellt das Ich nicht als Subject, und nicht als Object auf, sondern als beides zugleich, läßt sonach Begriff und Ding zugleich ent stehen, und macht es dadurch sichtbar für das innere Auge des Geistes, daß beide Eins sind und eben dasselbe, nur von verschiednen Seiten angesehen; — was Kant so ausdrückt: Begriff und Anschauung in der Wissenschaftslehre Ding) können nicht getrennt sein.* **)

(in der Sternchenanmerkung dazu heißt es:) Um durch diese Aeußerung meine mit der Wissenschaftslehre näher bekannten Zuhörer, in deren Hände etwa diese Schrift fallen sollte, nicht zu verwirren: nicht für die Gelehrten, welche von der Wissenschaftslehre nichts wissen, und bei denen über diesen Punkt nichts zu verwirren da ist, setze ich hinzu, daß nur das Verfahren des Philosophen in Beziehung auf den ersten Grundsatz, analytisch, das [/] Verfahren und Handeln des seiner Untersuchung untergelegten Ich aber synthetisch ist.“ (GA I, 3 S 255)

Ein analytisch-synthetisches erstes Hinaufsteigen und erneutes synthetisches, zweites „Hinaufsteigen“ setzt zweifellos höchste Konzentration und Intuition von Denkmöglichkeiten voraus, denn die Abstraktionen des Wissens sollen ja gnoseologisch-ontologische Bedingungen des Seins selber sein, d. h. wahres Erkennen und Verstehen ermöglichen und nicht bloße Begriffsdialektik. 

Anders gesagt: Terminologisch ist FICHTE hier also kein Fehler unterlaufen, sondern scharfsinnig schließt die traditionelle Methode der Analysis ein synthetisches Hinaufsteigen zu den höchsten Erkenntnisbedingungen mitein. Die Lösungsbedingungen der analysierten Wechselglieder sind a priori  ebenso synthetisch gebildet und erschaut. 

Das praktische Handeln und Wollen des Ichs, d. h. die Konstitution des Selbstbewusstseins, ist nach erfolgter, vollkommener und systematischer Vernunftanalyse (aller Wissensbedingungen) durchschaubar, wie es nach analytischen Gesetzen sich wirklich und frei! bestimmen kann,  aber in dieser Position (des Selbstbewusstseins) kann es für sich a priori nicht wissen, welche konkreten Bestimmtheiten es zu dieser freien Selbstbestimmung führen.

Es muss  synthetisch die Bedingungen der Wissbarkeit erst reflektieren, prüfen und somit neu ansetzen, ehe es sie wieder in seiner Tendenz ins Unendliche sich neu bestimmen und neu analysieren und synthetisieren kann.

Anders gesagt: Die Vernunft handelt praktisch nach dem Zweck- und Sinnbegriff, der sich in concreto nur synthetisch zeigt bzw. als vorgegeben zeigt. Der Wert- und Sinngehalt  in der freien Selbstbestimmung muss sich von sich her zeigen, er kann nur synthetisch erfahren werden. 

FICHTE stellt deshalb zu Anfang der praktischen Teils fest:

Aber 2.) ich bin auf diese ganze Theorie bloß durch ein Ohngefähr, u. gegen meine vorherige Absicht verschlagen worden. Um sicher zu seyn, dass nicht vergebens gearbeitet worden, so muss ich mir selbst erst beweisen, dass der Weg richtig ist. – Geht mein oben vorgeschlagnes Herabsteigen nicht; u. warum nicht?“ (PRACTISCHE PHILOSOPHIE, ebd. GA II, 3, S 186)

Das „Herabsteigen“ geht nicht, weil das die Freiheit der Reflexion aufheben täte.

Das Hinaufsteigen war in der Philosophiegeschichte, wie gesagt,  stets ein analytisches Zerlegen und Zergliedern. KANT erklärt in seinen PROLEGOMENA sein geübtes Verfahren im Gegensatz zum synthetischen Verfahren als das

analytische Verfahren, (…) dass man von dem, was gesucht wird, als ob es gegeben sei, ausgeht und zu den Bedingungen aufsteigt, unter denen es allein möglich ist“. Die analytische Methode „könnte besser die regressive Lehrart zum Unterschiede von der synthetischen oder progressiven heißen“ (Proleg. § 5 Anm).

 

Welche tieferen Hintergründe stecken noch in diesem analytisch-synthetischen Vorgehen?  

Das synthetische Verfahren, ineins mit dem analytischen Verfahren gesehen, kann, wie folgt, weiter expliziert werden

a) auf der theoretischen Ebene des Vorstellens und

b) auf der praktischen Ebene des Handelns und Wollens.

Ad a) Mit dem Vorstellen alleine ergibt sich eine geistige Realität und Anschauung, wie sie in der Geometrie und Mathematik anerkannt ist. EUKLID hat dieses synthetische Verfahren zusammengefasst und in langer Tradition wurde das in Lehrbüchern immer wieder tradiert.

R. LAUTH, dem ich meinen Zugang zu FICHTE verdanke, hat es in einem Beispiel einmal so erklärt: (Nach einer Vorlesungsmitschrift): Wir setzen z. B. zwei Linien an, sie treffen in einem Punkt zusammen und bilden einen Winkel, und ausgehend von den zwei Linien und einem bestimmten Winkel konstruiere ich mittels einer dritten Seite – den Begriff des Dreiecks. Habe ich das Dreieck synthetisch-begrifflich entworfen, kann ich es in weiterer Folge arithmetisch nach den Punkten analysieren. Die einzelnen zwei Linien und der Punkt setzen dabei synthetisch die Anschauung des Raumes voraus. Jedes begriffliche Moment (ein Punkt, eine Linie) hat in einem allgemeinen Bereich von Begrifflichkeit schon seinen bestimmten Ort und seine begriffliche Ortsstelle, und, wenn das der Fall ist, ist der Begriff durch Allgemeinheiten so verbunden, dass ich konstruierend einen anderen Begriff erschließen kann. Der Begriff eines Punktes, zweier Linien und eines Winkels ergibt den Begriff eines Dreiecks, wenn ich ihn konstruiere. Durch den gesetzlichen Ort der gedachten Linie und des Punktes ergeben sich in einem verstandeslogischen Sinn der neue Begriff und die Anschauung Dreieck. Abgesehen von den Stücken, die ich als Konstruktionsstücke oder Hilfsstücke vielleicht noch angesetzt habe, geschieht immer etwas Grundsätzliches: Ich antizipiere bereits die Gestalt, die herauskommen soll, entwerfe hierbei auch die analytischen Lösungsbedingungen, entwerfe Zeit und Raum, und lasse dann die Synthesis als Probe und als Bewährung der Vorstellung folgen. Die Probe und Bewährung führt in der Geometrie und Mathematik anschaulich den Beweis mit sich.

Was für diese kleinen Bereich der geometrischen und mathematischen Synthesen gilt – wobei man ja fragen kann, worin werden die euklidischen Definitionen, Postulate und Axiome, mithin die Selbständigkeit der Vorstellungen, begründet, wenn nicht transzendental im Wissen – , gilt prinzipiell für das alltägliche Erkennen und für das praktische Wollen und Handeln. Ich muss mein Wollen widerspruchsfrei wissen und wollen (einschauen) können, ehe ich zum Handeln fortschreite – und dies ist immer schon ein synthetischer Akt des Erkennens.

Das synthetische Verfahren muss dabei, in Anlehnung DESCARTES gesagt, klar, durchsichtig, vollständig, und in einem System geschlossen sein (siehe z. B. „Regeln des Verstandes“ u. a. Schriften). Mit M. GERTEN gesprochen,„Die Deduktion ist dann die folgerichtig geordnete Entwicklung einer Kette von Urteilen, die zusammen ein Argument, einen Beweis (im weiteste Sinne) bilden.“1

Ad b) Die Synthesis auf der praktischen Ebene des Wollens und Handelns:  Das reflexive Ich-Bewusstsein, worin vorstellendes Ich und vorgestelltes Nicht-Ich in einer höheren Einheit gesetzt sind, muss aber nicht nur ein vorstellendes, theoretisches Wissen (wie die Mathematik oder jede Feststellung des Faktischen) sein, sondern ineins damit praktisches Handeln und Wollen.

Die Vorstellungen im Bewusstsein sind in irgendeiner Weise immer praktisch-existentieller Natur. Sie sind gesetzt in einer Existenzbehauptung  des „Ich bin“.

Kraft der theoretischen Reflexivität des Wissens könnte das Ich, nach den bisherigen Ausführungen und Beispielen nach EUKLID, nur eine formelle Wissenseinheit erzeugen, aber die Sich-Bezüglichkeit des Wissens hat wesentlich praktisch-existentielle Bedeutung. Eine bloß vorgestellte Einheit des Wissens ist keine. Das ursprüngliche Wissen ist formale wie materiale Sich-Bezüglichkeit.

Der Begriff der Synthesis verlangt deshalb nach einer näheren Bestimmung: Ich möchte nochmals unterschieden zwischen einer a) Synthesis für die höchste Ich-Einheit und einer b) Synthesis im angewandten Fall einer Realisierung im Vorstellen, Wollen und Handeln. Ich nenne die erstere „höhere“, die andere „niedere“ Synthesis – wobei sie im realen Vollzug natürlich nicht getrennt sind.

Zuerst zur „niederen Synthesis“. Nochmals das Zitat vom 2. Teil seiner Vorarbeiten zur WL:

Aber 2.) ich bin auf diese ganze Theorie bloß durch ein Ohngefähr, u. gegen meine vorherige Absicht verschlagen worden. Um sicher zu seyn, dass nicht vergebens gearbeitet worden, so muss ich mir selbst erst beweisen, dass der Weg richtig ist. – Geht mein oben vorgeschlagnes Herabsteigen nicht; u. warum nicht?“ (PRACTISCHE PHILOSOPHIE, ebd. GA II, 3, S 186)

Warum geht eine einfache Analysis nicht?

Der via demonstrationis, der Synthesis als Probe der vorhergehenden Analysis, bedeutet eine praktische Aufgabe: Denn alle Empfindung bzw. die darin enthaltene geistige Intention, ist nur möglich kraft einer Synthesis von reinem Wollen und empirischem Wollen.

Dabei muss ausgegangen werden – weil das Nicht-Ich ja formal teilkonstitutiv bleibt für das Bewusstsein, theoretisch gesehen, und material teilkonstitutiv für das praktische Handeln und Wollen – dass

a) die Qualität der Empfindung, dann Gefühl genannt, nicht abgeleitet werden kann, sondern vorgegeben ist,

b) es eine Vielheit von Gefühlen geben muss zwecks gegenseitiger Abgrenzung und Bestimmung –  

und c) eine  vorgegebene , teleologischen Ordnung der Natur geben muss für die folgende Motorik, Sensorik und Organizität.

Das reine Streben setzt zwar einen absoluten, vollkommenen Inhalt voraus, da es sich aber bezieht auf die wirkliche Existenz, kann es logisch nach dem Widerspruchsprinzip und appositionell nach der Zeit- und Raumanschauung diesen Inhalt nicht auf einmal realisieren, sondern nur diskursiv und in synthetischen Schritten. Die Lösungsbedingungen des mit dem Wollen gesetzten Streben sind deshalb nicht analytisch vorgegeben, sondern müssen synthetisch erst gefunden und konstruiert werden: Was entspricht dem intentionalen Streben des Ichs, was entspricht einem Gleichgewicht von Streben und entgegengesetzter Hemmung, und was entspricht dem Streben des Ichs nicht.

Das intentionale Streben des Ichs kann den materialen Gehalt einer Hemmung oder eines interpersonalen Aufrufs nicht restlos praktisch vorherwissen, wie ein göttlicher Verstand, sondern bleibt auf die aposteriorische Seite des Wert- und Sinngehalts des Nicht-Ichs verwiesen. Es kann nicht einfach begrifflich-logisch „herabgestiegen“ werden (mittels analytischer Begriffe) und gesagt werden, was praktisch etwas bedeutet, weil dann jedes freie Reflektieren und Wissen und Wollen unmöglich würde.

Das „Herabsteigen“, wie FICHTE oben verkürzt meinte im Sinne eines bloß begrifflichen Denkens ohne aposteriorische Erfahrung und ohne reflexive Prüfung und Bewährung, das führte zu nichtssagendem Denken und zu keinem wirklichen Selbstbewusstsein.


Das formal unableitbare Nicht-Ich – in der Theorie der Vorstellung und Anschauung vollständig aufschlüsselbar – behält im praktischen Teil eine unableitbaren Gehalt, der sich zeigt als Gefühl oder mediales Zeichen eines Aufrufes.

Dazu seien noch einige Bemerkungen erlaubt: Rein vom didaktischen Vorgehen her will FICHTE den Mitdenkern seiner Philosophie selber die Geistes- und Gedankenschritte nachvollziehen lassen. Die Mitdenker mögen selbst die höchste analytisch-synthetische Einheit der Erkenntnis einsehen und mitvollziehen. Der Mitvollzug, die „intellektuelle Anschauung“ des vom Philosophen vorgeschlagenen Denkaktes, ist konstitutive Bedingung, die Einheit von Wissen und Sein erreichen zu können, die Thesis eine analytischen Einheit des Sich-Wissens, die sich aber nur analytisch-synthetisch in Zweiheit der Reflexion des Selbstbewusstseins zeigt. 

Der analytisch-synthetische Prozess ist dabei in seiner Letztbegründung eine interpersonale Aufforderung zu einem freien Handeln. Ohne diesem freien Handeln sind weder die synthetischen Lösungsbedingungen noch die Analysebedingungen des sich wissenden Wissens erkennbar. FICHTE wählt als einfachstes Prinzip der Analysis wie der Synthesis die „notion“ des Widerspruchsprinzips, um zur höchsten Einsicht mitzunehmen.

In der begrifflichen Wesensgesetzlichkeit des Widerspruchs liegen die synthetischen Lösungsbedingungen der Aufgabe. Weil der Widerspruch gedacht werden kann, muss er auch auflösbar sein. Die analytisch-synthetische Methode, sei es im Bereich der rein geistigen Anschauung wie in der Mathematik oder Geometrie, oder im Bereich der sinnlichen Anschauung, bezeugt von sich her bereits, dass wir nicht auf einen Schlag die Totalität der Realität erfassen können und sollen, sondern nur sukzessive, diskursiv und synthetisch. Wir sind zwar reflexive Vernunft und insofern von der formalen Einheit des Wissens her schon konstituiert, doch im interpersonalen und sinnlichen Vernunftakt sind wir augenblicklich eingeschränkter Vernunftakt, verobjektiviertes Wissen.

FICHTE ist sich sehr wohl der analytischen Tradition bewusst, und großteils wirkt alles wie eine analysierendes Vorgehen, aber das zeitliche Apponieren von mehreren Lösungs-Setzungen und deren dynamische Vermittlung in einer zeitlich und räumlich gedachten Erkenntnisordnung ist als synthetischer Akt gefordert. Es wird analytisch-synthetisch verfahren, weil zu eigenen Bedingungen der Freiheit die Intuition der Wahrheit und die Lichtheit des Wissens abgebildet  und nach-gebildet werden soll.

Jetzt noch zur höheren Synthesis: Die Crux in den ersten Schriften FICHTES ist ja, dass methodisch ein Gegensatz von Ich und Nicht-Ich angesetzt ist, wo doch schlussendlich dieser Gegensatz in einer transzendentalen Sichbezüglichkeit des Wissens aufgelöst werden soll. Fragt sich nur, wie das gemeint ist!

In den EIGNE MEDITATIONEN und in der PRACTISCHEN PHILOSOPHIE – wohlgemerkt als Vorform der späteren Wln – geht das dogmatisch-realistische Element und das transzendentale Element einer reinen Selbstbeziehungslehre noch durcheinander. Es finden sich Stellen wunderbarer transzendentaler Einheit in der Selbstbezüglichkeit des Ichs – dem folgt wieder ein realistisch/idealistisch angesetztes Nicht-Ich. Das Schöne ist, dass uns FICHTE einen introspektiven Einblick in sein lebendiges Denken gewährt – und zu gegebener Zeit offen einen Fehler korrigiert. Man kann ihm beim Denken richtig zuschauen.

Die reine Selbstbezüglichkeit des Wissens kann offensichtlich nicht eine rein analytische Einheit sein, aber sie muss  zugleich partialisierend in sich eine Einheit erkennen lassen, die höherwertig, vom „absoluten Ich“ her in einem selbst erscheinenden, selbstbegründendem Gehalt erkennbar ist – die von mir so bezeichnete „höhere“ Synthesis. Letzterer Ausdruck vom „absoluten Ich“ kommt nämlich bereits in dieser Frühschrift eines „Ich absolutum“ vor! (GA II, 88 Z 29 und mehrmals bis Seite 91)

Nolens volens möchte ich sagen, da FICHTES Ausgangspunkt eigentlich der kantische Ich-Begriff war; der transzendentale Gedanke trieb ihn von selbst vom kantischen Ich-Begriff zur höchsten Synthesis des „Ich absolutum“.
Damit zusammenhängend ist, dass die transzendental-deduktive Folgerung,  als synthetisches Suchen von Lösungsbedingungen gesehen, vor allem im praktischen Bereich ganz deutlich als übergehender Wille oder einsichtige „Darstellungskraft“ (ebd., GA II, 89) bezeichnet wird. Ebenso beinhaltet  die Vorstellung bereits diese innere Vorstellungs-Kraft!

Discursiv- Was ist denn eigentlich, die reine Einbildungsskraft? Das Subjekt bestimmt sein eignes Seyn in einem Accidens seiner selbst. Nur ist die Frage was heißt bestimmen? – Das Subjekt ist thätig; es ist selbstständig: es hat also Kraft. – Das Subjekt ist (für sich) vermöge seines Seyns: es ist sich selbst Ursache, u. Wirkung seines Seyns: – Dies geschieht durch ein Thätig seyn, dieses Thätig seyn ist Ursache des Seyns, von welchen es doch auch Wirkung ist; dieses Handlung heißt (Darstellen) sich selbst als selbst im Daseyn setzen; u. Die Kraft: Darstellungskraft.“ (EIGNE MEDITATIONEN, GA II, 89).

Die höhere Synthesis ist eine Darstellungskraft, Veräußerung- und Versinnlichungskraft, deren Kraft und übergehender Wille und Licht vom „Ich absolutum“ selber ausgeht.

Insofern FICHTE sich mehr und mehr hineinarbeitet in die synthetische Beziehung von Ich und Nicht-Ich, rückt der Übergang vom theoretischen zum praktischen Bewusstsein immer weiter hinauf; es droht ihm ein unendlicher Regress in einem supponierenden Verfahren der Synthesis. Deshalb muss er eine Einheit postulieren, die nicht bloß formal eine Letztbegründung ist, sondern in und aus der die Gegensätze einsichtig hervorgehen, d. h. genetisch hervorgehen. Es muss eine analytisch-synthetische Einheit sein, worin die Ursache zugleich ihre Wirkung ist, der Grund zugleich das Sein seiner selbst.
Wie kann das aber wiederum transzendental im Wissen gesetzt werden, ohne es einfachhin so zu behaupten? Die Frage ist, wie
in der Spontaneität selbst ein Grund einer beschränkten Handlung des Ichs gedacht werden muss, sodass das endliche Ich modal notwendig sich analytisch-synthetisch setzt?

FICHTE reflektiert das oftmals im praktischen Teil. Das Streben ist zwar als reines Streben unabhängig von allen Hemmungen und Aufforderungen zu sehen, „(…) schlechthin unabhängig.“ (ebd. PRACTISCHE PHILOSOPHIE, ebd. S 186); „Also es ist ein Streben ohne Zwek“ (ebd.)“, aber ohne konkrete und vorgestellte Grenze dieses unendlichen Strebens wäre keine Vergleichbarkeit des Strebens mit sich selbst gesetzt, mithin überhaupt keine Vorstellung gesetzt, kein Bewusstsein. Eine reine Analysis führt zu Nichts. 

Das reine Streben geht darauf aus, wie es kurz vorher an dieser Stelle heißt, „das Nicht-Ich abhängig vom Ich zu machen“ (ebd. S 187), aber es soll darin zu keinem Charakter eines theoretischen Ursache-Wirkung-Verhältnisses kommen, wie es im 1. Teil der EIGNE MEDITATIONEN noch aufgestellt wurde.

Jene bestrebte Erweiterung (sc. Streben) geht also nicht auf dein Erkennen aus; hat nicht Erkenntnis zu ihrem Zwecke. (…) Absolute Selbstthätigkeit hat keinen andern Zwek, als Selbstthätigkeit. (…)“ (ebd. S 188)


Das Streben geht auf die Selbsttätigkeit es Ich, sobald es sie aber realisiert, tritt theoretisch notwendig die Grenze des Nicht-Ichs dazwischen, und das Streben geht zu einer verzeitigenden Appositionsordnung über, sodass es sich nur bedingterweise kraft der Grenze realisieren kann. Mit der Forderung der Verichlichung des Nicht-Ich ist aber der Sinn der Zeit angesprochen: die ideal-reale Zeitreihe (und der Raum wäre analog dazu zu bestimmen) ist die Realisierungsforderung und Sinn-Forderung der analytischen und synthetisch-postulierten Einheit des Ichs.
„Die Zukunft wird nicht theoretisch, sondern ästhetisch, vergegenwärtigt.“ (ebd. S 189). Die Zeit und Geschichte wird damit nicht zum Hindernis einer nicht einsehbaren unmittelbaren Einheit und Gewissheit der Wahrheit, vielmehr zum unmittelbaren Ausdruck und zum Prüfstein einer Idee, inwiefern der Realisierungsforderung entsprochen wird oder nicht.

Zeit und Geschichte wird eine appositionelle Synthesis, einteilbar in verschiedene dynamische Einheiten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in der die unerschöpfliche Quelle der Lichtheit und Wahrheit eines materialen Sollens zur Bewährung und Genetisierung aufgestellt ist.2

Anders gesagt: Die Zeit und Geschichte wird  zu einer Art Gericht von Entscheidungszeit und Erscheinungszeit für das reflexive Ich. Dies besagt reflexiv einerseits eine zeitliche Unabschließbarkeit der synthetischen Setzungen, andererseits kann (muss nicht) im material-sittlichen Wollen jederzeit eine Erfüllung eintreten, d. h. das reine Wollen vermag das sittliche Ich innerlich zu erfüllen durch eine unerschöpfliche  Quelle des Sinns.

Da wir aber meistens nicht diese vollkommenen Wesen sind, bedarf es des mühsamen analytisch-synthetischen Aufstiegs. 

© 20. 10. 2015 Franz Strasser

1 M. GERTEN, Wahrheit und Methode bei Descartes, Hamburg 2001, S 336.

2Ist der Zweck des Strebens selbst ein Streben, u. kann er kein andrer seyn, so wird dadurch das Ziel des Strebens, die endliche Kausalität auf das Nicht-Ich, in die Zukunft gesezt. Die Zukunft wird, nicht theoretisch, sondern ästhetisch, vergegenwärtigt.“ (ebd. S 189)

Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser