Evolutionstheorie – 4. Anfrage; Zeit, Raum, Zukunft und Streben.

Die Evolutionstheorie ist für mich mit zahlreichen Zirkelschlüssen und Erschleichungen behaftet.  Eine  sogenannte „Evolutionstheorie“ kommt selbst ohne ideelle Zwecksetzung nicht aus, obwohl sie diese nicht zugeben kann.  Mir kommt das so vor: Das naturalistisch geleitete Bewusstsein will durch den Evolutions- und Entwicklungsgedanken nolens volens eine Zukunft haben, die sie aber selbst nicht verantworten will, denn es ist ja alles evolutionär begründet, d. h. unverantwortet entstanden.  Es wird eine dauernde zeitliche Entwicklung und Veränderung angesetzt, ferner eine ständige räumliche Ausdehnung, ein ständiger Wandel der anorganischen und organischen Lebensformen. Woher die transzendentale Struktur der sinnlichen Wahrnehmung kommt, wohin die Entwicklung geht, das ist ein naturaler Prozess!?  Psychologisch empfinde ich die Evolutionstheorie als große Verdrängungstheorie, um sich aus der Mündigkeit und Freiheit und den böse angefallenen Geschichtssünden und gegenwärtiger Verantwortung herauszukatapultieren. Ein anonymer Prozess läuft ab, der uns für alles entschuldigt, was gewesen ist, was gegenwärtig ist und geschieht – und was kommen wird.
Oder sollte ich es nicht so pessimistisch sehen, dass ich es gerade einem evolutionären Prozess und den evolutionär entstandenen Sinnesorgane  verdanke, dass ich zu einer größeren Freiheitsgewinn gekommen bin? Diesen Freiheitsgewinn  werde ich mit naturalen Mitteln nie finden können, geschweige überhaupt ein Zeit- und Geschichtsbewusstsein. 

1) Die apriorischen Anschauungsformen von Raum und Zeit –  siehe KrV Transzendentale Ästhetik § 2, A 24ff  u. A 31ff von KANT einerseits einmalig benannt und beschreiben, aber andererseits nicht genetisch aus der Einheit des Ichs begründet, stammen nach FICHTE  aus dem praktischen Bereich der Empfindbarkeit und werden durch das Denken eingebracht.

Ich müsste das hier natürlich ausführen – aber siehe andere Blogs: Gerade durch die „unabhängige Tätigkeit“ der  Selbstbestimmung der Freiheit ist das Schweben der Einbildungskraft nicht determiniert, wie es ausgehend durch die Empfindung in einer realistischen Sicht determiniert erscheint, sondern im Schweben erzeugt sie Dauer und Einheit des Ichs und Werden des Ichs – und die Raumanschauung. Zeit und Raum haben eine praktische und sittlich-werthafte Bedeutung  – und sind in etwa 10 Punkten des § 4 der GWL von Fichte einmalig! dargestellt.

Durch die produktive Einbildungskraft, wodurch eine Empfindung oder Wahrnehmung in den inneren Sinn eingebracht werden, geschieht a) eine Vergegenwärtigung einer vollzogenen Vorstellung innerhalb der Dauer des Ichs. Diese Vorstellung ist nicht die Vorstellung vorhergegangener Zeitmomente, sondern Vorstellung von deren Inhalten in einer existentiellen Gegenwart. Es entsteht die Dauer der Zeit, weiteres objektiv vorgestellt mittels abgeleiteter Kategorien die Extension des Raumes.  

Die Inhalte der Vorstellung in der Zeitreihe  machen sich dabei  bemerkbar b) durch „Veränderung(GA II, 3, 105). Die  Zeitform, die in der Veränderung  steckt, ist nicht eine  psychische Assoziation oder ein subjektiver Zustandswechsel in der Apprehension, sondern  dank der produzierenden Einbildungskraft und dank der Raumvorstellung wird sie objektiv in der Einheit des dauernden und zugleich werdenden Ichs bestimmt. Es gibt Veränderung, weil die Vorstellung sie dank notwendiger Fixierung in der Raumanschauung zu bestimmen vermag. 1

Diese Denknotwendigkeiten einer Zeit- und Raumanschauung sind begründet in einem praktischen Bedürfnis (PRACTISCHE PHILOSOPHIE, GA II, 3, 189). Das kann erkannt werden in einer Analyse des Strebens. Streben ist ein Handeln, das keine Kausalität hat (GA II, 3, 183). Das Streben wird gefühlt. Wir sehen und erkennen dabei nur die Wirkung (die Erscheinung) des Strebens, nicht die Ursache. Der Wille ist die Vorstellung jenes Strebens in der inneren Empfindung, aber selbst auch Erscheinung – nicht wie bei Schopenhauer Grund an sich. Wir erkennen die Wirkung aus dem Zweck, den wir uns willentlich gesetzt haben, und vergleichen Wirkung und Zweck als gefühlte Empfindung. Zweck ist Selbsttätigkeit in Beziehung auf Selbsttätigkeit, wie Ursache auf ihre Wirkung.“ (GA II, 3, 12.13) Die erkannte Welt besteht nur in Bezug auf jenes Streben, und umgekehrt erfahren wir das Streben erst, weil wir uns notwendig Zwecke setzen. Dadurch wird uns, durch das gehemmte Streben und dem gleichzeitigen Hinausgehen über die Hemmung in der Vorstellung, die Zeitvorstellung der Zukunft eröffnet.

Alle Zeitvorstellung, und indirekt Raumvorstellung,  ist also immer sittlich-praktische  Rückbeziehung auf den Bestimmungsgrund, der uns wichtig erscheint. Können wir uns auf einen Grund vor 40 Millionen Jahre berufen? Wenn wir wollen ja, aber das ist Willkür, was den sittlich-materialen Inhalt betrifft. Die Berufung auf die lange Erdgeschichte kann und will ich nicht bestreiten, wenn ich schon einmal diesen Standpunkt eingenommen haben, aber welchen Standpunkt will ich damit beziehen, wenn ich plötzlich nur den naturalen Standpunkt gelten lassen will?  

2) Der Entwicklungs- oder Evolutionsbegriff – worauf ich ja hier hinaus will – enthält logisch  eine notwendige Kombination von Raumanschauung und Zeitanschauung – und enthält  notwendige, bestimmte Zwecksetzungen,  sonst könnte eine Veränderung und eine Bewegung und eine  Entwicklung nicht gedacht werden. M. a. W. die Theorie zur Evolution trägt immer stillschweigend einen Zukunftsbegriff mit sich, obwohl sie dieser Zukunft keine inhaltliche, sittlich-materiale Freiheit zubilligen will.  Die zur verselbstständigten Theorie ausgebaute Naturwissenschaft („Evolutionstheorie“) will  projektiv  eine begriffliche Durchdringung („Erklärung“) der Veränderung und Bewegung der Natur, des ganzen Universums, der gesellschaftlichen Kultur,  leisten, gräbt Fossilien aus, erstellt Stammbäume, denkt Mutation und Selektion, um die Homologien und Veränderungen zu deuten, erstellt eine Geschichte – aber von selbst ist dieser ganze Prozess der Veränderung entstanden und geworden? 

3) Es ist ja paradox, dass gerade in der Rede von der Zufälligkeit der Entstehung des Weltalls, des Lebens, der Arten, des Menschen, worin anscheinend keine Intention und Absicht erkennbar sei, projektiv eine ideale Zeitreihe und ideale Zwecksetzung mitgedacht werden müssen, sonst könnte eine Entwicklung  oder Entstehung nicht  gedacht werden. 
Wenn z. B. im mikrobiologischen Bereich von Mutationen in den Gen-Codierungen die Rede ist, so muss eine Substanz postuliert werden, die sich verändert, aber auch dauernd ist.
Oder: Der Zweck des Überleben-Wollens und die verschiedenen Anpassungsleistungen verlangen projektiv eine Substanzvorstellung und projektiv eine Zukunftsvorstellung, sonst könnte Selektion und Mutation nicht gedacht werden. Akzeptiert die Evolutionstheorie eine Art Selbsterhaltungstrieb, der aber wiederum eine transzendentale Zwecksetzung notwendig macht? 

Würde ich für die Erfassung einer genetischen Mutation oder für die Erfassung der Selektion die transzendentalen Produkte der Einbildungskraft  wie Zeit- und Raumanschauung streichen,  könnte ich begrifflich keine Erklärung mehr geben, was sich (an Inhalten in der Vorstellung) substantiell und akzidentiell verändert, wie sich kausal und wechselwirkend etwas verändert, und  wohin etwas strebt und somit eigentlich Zukunft voraussetzt. Leben ohne ideellen Zweckbegriff und reale Hemmung/Aufforderung und ohne triebhaftes Streben ist nicht denkbar, weil der Begriff des Lebens sich aufheben würde. Ein kybernetischer Kreis selbstregulierender Systeme oder eine evolutionäre Erklärungsart erklärt nicht  die Zeit- und Raumanschauung, geschweige den regulativen Sinn der Urteilskraft, die diese Kategorien der Selbstregulierung und der pseudo-evolutionären Zweckgerichtetheit herstellt. 

4) Generell gesagt: Die Erklärung der Ursachen werden im anorganischen Bereich  durch regulative Zweckideen bestimmt, im organischen Bereich durch notwendige und im geistigen Bereich durch konstitutive Zweckideen.  Naturwissenschaft wäre ohne diese regulativen und apodiktisch-apriorischen  und im interpersonalen Bereich ohne kategorischen Begriffe nicht möglich.   Es gäbe keine „Entwicklung“ im anorganischen Bereich, keine Genetik und Mutation auf der organischen Ebene, keine Entwicklung von Sprache und Geschichte auf der kulturellen Ebene, würden wir nicht zuerst innerlich und im Geiste den Entwicklungsbegriff schon ansetzen.  

Ob wir von einer „Evolution“ der anorganischen Materie, oder von einer „Evolution“ des biologischen Lebens, oder von einer kulturellen „Evolution“ ausgehen, immer ist eine höhere Denkmöglichkeit im Spiel, um das System des Ganzen zu verstehen.  Gegen einen  Evolutionsbegriff, der transzendental durch Zweckentwurf und durch reine Anschauungsformen von Zeit und Raum gedeckt wäre, hätte ich nichts einzuwenden.  Aber so verstehen die Evolutionisten die „Evolution“, welchen Begriff ich hier metaphorisch gebrauche, wohl nicht. Sie sprechen von realer Evolution, ohne Apostroph, obwohl sie sie nicht erklären können.  

19. 12. 2015 © Franz Strasser
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1Ich halte ein Fossil einer versteinerten Schnecke in Händen. Es wird auf die Zeit im Molassemeer vor ca. 40 Mill. Jahren geschätzt. Warum ist diese Zeitschätzung möglich? Weil zum zeitlichen Denken zusätzlich die räumliche Erstreckung der Versteinerung hinzukommt. Die Vorstellung einer zwar schwer vorstellbaren vergangenen,  aber einmal gegenwärtigen Zeit, wird in Beziehung gesetzt zur Versteinerung und der vorgestellten Erdgeschichte.

2In der WISSENSCHAFTSLEHRE NOVA METHODO bringt FICHTE das apriorische und aposteriorische Denken so zusammen: „ Das Ich findet sich nur, weil es sich selbst konstruiert. Es entwirft, vom besonderen Objekt abstrahierend, seinen Zweckbegriff und wendet ihn an auf ein besonderes Objekt, zugleich dieses wie auch sich selbst konkret verwirklichend. Das Denken denkt zugleich seine gesamte Erfahrung und sein Bewußtsein: „mit der Selbst PRODUCTION PRODUCIRT es zugleich seine Erfahrung. Also das INTELLIGIBLE Ich und das EMPIRISCHE der gesammten Erfahrung, oder das A PRIORI nach dem Kantischen Sinn u. das A POSTERIORI sind ganz daßelbe nur angesehen von verschiedenen Seiten.“ (Wlnm, GA IV, 2, 197)

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser