Der höhere Sinn des Differenzdenkens – 3. Teil.

Ich möchte in einem 3. Teil, bei weitem aber nicht abschließend, die Differenz in eine andere Richtung lenken, nicht mehr auf DERRIDAS Zeichenbegriff oder LUHMANNS Systemtheorie bezogen:

Alles liegt m. E. am lebendigen Erfassen a) des Begriffes des Bildes und seiner Idee, ferner b) in der Differenz des „absoluten Ichs“ und des kontingent-endlichen Ichs.

1) Wenn man von vornherein ein sprachliches Zeichen oder einen Unterschied, eine Sichtbarkeit oder ähnliche Faktizitäten markieren möchte, ist man schon dem herkömmlichen metaphysischen Denken des Seins verfallen. Ich zitiere M. Gerten:

„Nun scheint eine allgemeine Gefahr des Denkens und Sprechens, seine Tendenz zu Substantivierungen und falschen Hypostasierungen, in Verbindung mit dem Wort ’Sein‘ besonders groß zu sein. Dadurch wird die ’natürliche‘, ohne reflexive Besinnung sich selbst überlassene Denkhaltung verleitet, aus allem ein Seiendes zu machen. Wenn aber schlechthin alles ein Seiendes ist, dann bleibt für das Nicht-Seiende nur noch die Möglichkeit, dass es, wenn es nicht ist, eben schlechthin Nichts ist. Auf diesem Standpunkt bleibt als einziger Weg, das Nicht (-gegenständlich)-,Seiende‘ vor diesem Nichts zu retten, es doch wieder zu einem „irgendwie“ Seienden zu machen. Die Hypostasierung von Begriffen, Ideen, Werten, Prinzipien, Gesetzen, Normen und ähnlichen ’Entitäten‘ (hier logisch gemeint im Sinne von ,etwas überhaupt‘) zu Seiendem (ontologisch verstanden als existierende Substanzen) ergibt letztlich immer ein ontologisierendes Stockwerksdenken: einer ,sinnlichen‘, diesseitigen Welt mit existierenden, erkennbaren Gegenständen wird eine übersinnliche‘, jenseitige Welt entgegengesetzt, die ,besiedelt ist von mehreren existierenden, aber nur schwer oder gar nicht erkennbaren Gegenständen‘. Die Folge ist ein perennierender Streit, welche dieser Welten die eigentliche ist: ,materialistisch gesehen die sinnliche, oder „idealistisch‘ gesehen die übersinnliche.“ 1

„Dem unbesonnenen Denken, das dieses Gesetz des Verstandes vollzieht, aber nicht sieht, muss eine (bloß logische) Unterscheidung des Verstandes als (reale) Trennung der Momente, als echte Spaltung der Einheit, d.h. als distinctio realis erscheinen. Das besonnene, mit dem heterothetischen Gesetz des Verstandes vertraute Denken dagegen erkennt und durchschaut eben die logische Unterscheidung als bloße distinctio rationis.“2

Der transzendental-kritische Zugang reflektiert a) im Bewusstsein den Begriff des Faktums und seiner Evidenz; zugleich ist b) das Sein dieses Faktums (die Evidenz der „Natur“), im Bewusstsein festgehalten. Wie ist dieses reflexive Bild vom Sein der transzendentalen Bedingung nach aber wiederum möglich? Dem Begriff vorhergehend muss c) die Möglichkeit des Begreifens und das Erzeugens dieses Begriffes (dieses Bildes) liegen. Diese Einsicht in die transzendentale Wissensbedingung ist eine Genesis, worin Sein und Bild des Seins eins sind, und doch in und durch diese Einheit verschieden als real und ideell hervorgehen. Was ist das für eine Disjunktionseinheit der „Genesis“, des lebendigen Begreifens, die eine Differenzeinheit von Bild und Sein eröffnet?

FICHTE beschreibt ab der 4. Kollegstunde der WL 1804/2 diese Genesis im Phänomen des „Lichtes“. Im Licht und durch das Licht erfasst der Begriff seine eigene Kontingenz und seine eigene Möglichkeit. Im Licht ist alles Sein begrifflich gesetzt. Das Licht offenbart ein unmittelbares Dasein des Grundes für die Folge, ist Sein und Bild in einem. Der Begriff ist zwar Grund der Negation, aber dass ein bloßes Faktum oder faktisches Sein nicht der letztgültige Grund seiner selbst sein kann, weiß der Begriff. Er weiß auch um seine eigene Negationsmöglichkeit, dass er nicht selbst der Grund der Genesis ist, sondern in der Geschlossenheit der Lichtform erst seine Negations-Möglichkeit begreift. Er bleibt selbst eingebunden in einen Zusammenhang einer übergeordneten Affirmation (mit untergeordneten Negationsmöglichkeiten) und einer geschlossenen Lichtform.

FICHTE analysiert ab der 4. Kollegstunde diese beiden im Bewusstsein auffindbaren Synthesen des Begriffes und des Lichtes.3  In der Ermöglichungsbedingung des Begriffes durch das Licht ist aber eine eindeutige Gerichtetheit erkennbar. Wir sehen und schauen nicht bloß objektivistisch und objektivierend an, sondern vermögen zu reflektieren. Im Sehen und im späteren nachkonstruierenden Denken und Reflektieren wird uns die Differenz bewusst, aber nicht bloß faktisch in der Art, dass die Erscheinungsformen von Sehen und Gesehenem, von evidenter Natur und begriffenem Logos, in ihren Gegensatzglieder völlig isomorph und gleichlautend und absolut voneinander getrennt erscheinen, sondern in den gegensätzlichen Erscheinungsformen der begriffenen Natur und des reflektierten Wissens, in den differenten Identitätsgenesen, – wie unklar die bis jetzt entstehen mögen – zeigt sich eine eindeutige Richtung der Differenzgenesis von Nichteinheit zur Erzeugung von Einheit.

J. Widmann zitiert hier die transzendentale Einsicht des Vorsokratikers PARMENIDES: „Die Wegweisung ’lichtwärts’ hin zu der ’Einen Weg-Kunde, dass IST ist’ (Fragmente, 1, 10 u. 8; Diels, ebd. S 229. u. 235; bei J. Widmann, ebd. S 58)

Das Begreifen des Seins wie des Bildes offenbart nicht eine gattungsmäßige Differenz, hier faktisches Sein und dort rationales Sein, sondern beide sind hervorgehend aus einem genus und Modus des Erkennens. Wenn der Bezugspunkt zum Ursprünglich-Einen in der kritischen Einsicht reflexiv gewahrt bleibt, wie es der Strenge der Argumentation nach sein muss, wenn also diese eindeutige Gerichtetheit im Erkennen reflektiert wird, ohne wieder auf die Ebene bloßer faktischer Differenz und logischer Entgegensetzung oder anderer Medialitäten zurückzufallen, so erscheint das Begreifen in einer alternativlosen Weise des Unbedingten – und bleibt gerade so begründet und gerechtfertigt.

„Die Differenz ist nicht nur Differenz beliebiger Fakten, sondern Differenz der Faktizität von zwei gegensätzlichen Genesen. Was in der einen Genesis Bedingungsgrund ist, ist in der andern bedingtes Resultat. Und umgekehrt.
Doch nicht nur das: die Genesen bedingen sich selbst wechselseitig. Genesis a bedingt Genesis b und Genesis b bedingt Genesis a.“ 4

Da die Reflexion deshalb nicht realistisch oder idealistisch verabsolutiert werden darf, muss es eine höhere Disjunktionseinheit geben, woraus die verschiedenen Differenzen in der Ansicht des Seins und des Begriffes hervorgehen. Hätte das Begreifen kein eigenes, von allem sonstigen Objekt unabhängiges „Leben“, so könnte es nie sich selbst begreifen. Auch könnte es nicht erkennen, dass etwas in Differenz zu seinem „begreifen“ steht, denn es wüsste ganz und gar nicht, was das ist: „begreifen“.  FICHTE analysiert das aufgestellte Grundgesetz des Wissens weiter: Soll es zum „reinen Licht“ kommen, „so muß der Begriff gesetzt und vernichtet, und ein an sich unbegreifliches Sein gesetzt werden“ (SW, 4. Vortrag, S 119).  Das hängt jetzt ab von der Voraussetzung, daß der Begriff selbständiger Grund seines Sichbegreifens war. „Irgendeinmal muß doch der Begriff, falls er erzeugt wird, schlechthin und durchaus durch sich selber sich erzeugen“ (SW, ebd. S 120).5 

Mit der 4. Kollegstunde hat FICHTE bereits diese Synthesen des Begriffes und des Lichtes erreicht. J. Widmann meint, er hat damit das Auditorium schon ziemlich überfordert, weshalb noch drei Stunden der Erklärung folgen. Mit der 8. Kollegstunde beginnt die Überleitung „in eine tiefere Untersuchung, als die bisherigen es waren.“(SW Bd. X, 9. Kollegstunde, S 153) 6

FICHTE arbeitet heraus, dass die Begriffsform freiheitsgetragen ist, also durch Freiheit erst erfolgen kann. Was heißt das jetzt? Wird der Begriff in dieser Selbstmächtigkeit der Freiheit zu einem Gegenspieler der unwandelbaren Einheitsform des Lichtes? Nicht in dem Sinn, dass die Lichtform Gegner und Feind der Freiheit wäre. Sondern in einem viel wörtlicheren Sinn: „Seine (sc. des Lichtes) Begriffsform ist das Reflectum der Freiheit. Wenn wir uns im Spiegel anschauen, so sehen wir unser Bild, aber was im Bild rechts und links ist, ist an unserm Körper links und rechts. Ähnlich erscheint an den beiden Strukturformen des Lichts und der Freiheit der Gegensatz zwischen Bild und Abgebildetem: Als Reflectum der Freiheit ist der Begriff des Lichtes ihr Gegenbild – als Repräsentant des absoluten Lichtes ist die Freiheit lebendiges Bild von dessen absoluter Unbedingtheit.“7

2) Wie von der Erscheinungsform des Lichtes und des Begriffes zur nächsthöheren praktischen Bedingungsform der Freiheit und zur exakten dialektischen Erkenntnis des Ausgangspunktes (der Einheit) aller Wissensmöglichkeit gekommen werden kann – dazu verweise ich ebenfalls auf J. Widmann, S 64 – 77. 8

Die Überwindung der faktischen Negationsdialektik – das war stets der Kampf FICHTES gegen die Identitätsphilosophen seiner Zeit. Das absolute Licht, der absolute Verstand, das absolut Eine, das über aller Wechselseitigkeit der Kategorien stehende sittlich-praktische Soll, ermöglicht erst ein differenzierendes Vorgehen und analysierendes Handeln. Der Indifferenzpunkt zweier unterschiedlicher Phänomene wie Denken und Sein entlarvt das faktische Differenzdenken als willkürlich abgebrochene Reflexion. Faktische Differenz hat keinen Bestand vor der Realität des absolut Einen. So geht es m. E. jetzt gar nicht um ein Differenzprinzip faktischer Affirmation und faktischer Negation (einer Genesis), sondern: „Das absolute Soll“ ist die Seinsvoraussetzung des „absoluten Ich“. Und wie die Existenzmöglichkeit der kontingenten Iche auf der Existenz des „absoluten Ichs“  beruht, so beruht die Existenmöglichkeit des kontingent-relativen Sollseins auf der Existenz des absoluten Soll.“ 9

M. a. W., das mögliche Differenzdenken ist bedingt und ermöglicht von einem Soll einer freier Konsequenz. Es kann ein Differenzprinzip und ein dekonstruierendes Denken einerseits bleiben, nützlich z. B. für eine Textanalyse, bei vorgegebenen Bildern oder Fakten, andererseits muss das Differenzprinzip sich seiner Bedingheit besinnen, weil jede Differenziation bedingt ist durch ihren genetischen Zusammenhang im Licht und durch das Licht. 

Die Vermittlung von Abstraktion und Konkretion, von Möglichkeit und Wirklichkeit, alle diese angestrebten Zwecke einer Philosophie, ferner das Verstehen des interpersonalen Austausches, das Verstehen eines geschichtlichen Zusammenhangs, ist von der  Sich-Erscheinung des Absoluten getragen, sonst könnte weder „bilden“, noch ein wirkliches „Gebildetes“ sein.
M. a. W., der in jedem Bildzusammenhang unwillkürlich sich einstellende gesetzhafte Zusammenhang des Bildens – ideelles Bilden und Wirkliches – ist bedingt in der unableitbaren Sich-Erscheinung des Absoluten, andernfalls weder Gebildetes (Wirkliches) noch Ursprung des Freiheit des Bildens (bildens) möglich wären.

Ich verweise wieder auf J. Widmann: Ein Bild ist immer schon „(…) doppelte Disjunktion. Das andere Disjunktionsfundament (sc. in den Objektivationen des Bildbegriffes, der abstrakt Allgemeines und konkret Wirkliches im Schweben der Einbildungskraft fasst, entstehen die Disjunktionsfundamente „Idee“ und das Wirkliche; das sich zeigende Wirkliche ist hier als „anderes Disjunktionsfundament“ gemeint) äußert sich in der laufend bemerkten Differenz zwischen fertig in sich geschlossener Bildform und dem actual lebendigen ,,bilden“ 4.30. So erschien der in seiner singulären Qualität objektivierte Bildbegriff innerhalb des Voraussetzungszusammenhangs seiner Projektion als besonderer Begriff unter bestimmten anderen Begriffen. Gleichzeitig war aber klar, daß auch die projizierende Objektivation der anderen Begriffe dadurch zustande kam, daß sie „gebildet wurden“. Das „bilden“ ist somit die wesentliche genetische Einheit des gesamten Zusammenhangs. (….) Gleichwohl drängt sich das Differenzschema immer wieder auf: Eine Differenz zwischen dem „bilden“ und seinen Gebilden kann nur begriffen werden, wenn das reine „bilden“ sich selber als solches projizierend objektiviert. Das bedeutet: im allgemeinen Objektivieren des Bildens muß eine besondere Disjunktion zwischen seiner Sichobjektivation und der Objektivation seiner anderen Gebilde liegen. Wir können sehr wohl fragen, wie das Bild in seinem Sichbegreifen die Einheit dieser – innerhalb seines unmittelbaren Bildens sich vollziehenden – besonderen Objektivationsdisjunktion begreift. Diese Disjunktionseinheit zwischen den Begriffsobjektivationen des „Bildes“ und des „bildens“ wird projiziert im Begriff des „sich“ 4.31. In der Evidenz „das Bild bildet sich“ drückt sich die disjunktive Einheit von lebendigem genetischen Akt und Wesen des Aktes aus. Alle „Sich-Aussagen“ drücken diese wesentliche Einheit von actus und essentia aus und weisen – ungeachtet ihrer je denkbaren besonderen Inhaltsverknüpfungen – zurück auf ihre reine Allgemeinform: das sich bilden des Bildes.“ 10

In der Gesetzlichkeit des Bildens, worin differentielles Bilden (verbal genommen „bilden“) und differenziertes Gebildetes notwendig zusammenhängen, offenbart sich damit ein Bedeutungs- und Sinnzusammenhang, den ich als „höheren“ Sinn des Differenzdenkens bezeichnen möchte. Die „Wahrheitslehre“ des 15. Vortrages der WL 1804/2 offenbart zunehmend diesen höheren Sinn des Differenzdenkens –  in einer Phänomenologie der Erscheinungslehre (16. – 27. Vortrag), Erkenntnis der Erkenntnis, begriffliche Durchdringung der Wirklichkeit –  und die Anwendung der Erkenntnis der Erkenntnis in den vier Bereichen Natur, Gesellschaft, Moral, Religion (28. Vortrag).

3) M. a. W., das Differenzprinzip liegt nicht in einem faktischen Modus der Einteilung des Seienden als Gattung begründet, sondern in der Affirmation und Negation von Modi überhaupt, in einer Differenzrelation, die unbildbar  in der Sich-Erscheinung des Absoluten, sobald Freiheit realisiert und gebildet wird,  hervortritt, und in bildbaren Schritten, negativ,  eingeholt bzw. nachkonstruiert werden kann.

Noch eine Bemerkung:
Das unableitbare „Soll“, dass der Freiheit vorgeordnet ist, wird in der Geschichte der Rezeption FICHTES manchmal als heteronomes, moralisches Soll abgetan. Ich sehe das nicht so: Das „Soll“ ist nicht ein unausführbarer, letztlich nicht zu erfüllender Imperativ, sondern die mögliche, idealisierte  Nachbildung einer vorausgesetzten Sinn-Idee, die frei nachgebildet (nachkonstruiert und vorkonstruiert)  werden kann. 

Für mich ist dieses Vor-Bild im Besonderen, das real und wirklich vorausgesetzt wird, natürlich die positive Offenbarung, wie sie der christliche Glaube verkündet. Der Weg zu dieser freien Einholung dieser Sinn-Idee und Lösungs-Idee ist ein angestrebter Begriff des Vollkommenen, der Allgemeines (der Idee) und Besonderes (der Wirklichkeit) adäquat abbildet und nachbildet. Das Vollkommene als bloß moralisches Soll von eigener Provenienz zu sehen, d. h. was wir selber als vollkommen und gut prädizieren, führt am Begriff des offenbarungsmäßig Vollkommenen und absolut Guten vorbei. 

Der durch die Sich-Erscheinung des Absoluten geoffenbarte Begriff des Vollkommenen – was jetzt viel weiter auszuführen wäre – beginnt in der interpersonalen Welt und geht bis  zur empirischen Welt, und schließt wesentlich eine geschichtliche Erkenntnis und eine Restitution alles Bösen ein. Weil aber das Vor-Bild als reale Objektivation dem subjektiven Bilden ( immer verbal zu verstehen, „bilden“) vorgelagert bleiben muss, muss die geschichtliche Erkenntnis wesentlich von einem „Gesicht“, einer  Sinn-Idee und Lösungs-Idee ausgehen, was soviel besagt, dass a) einerseits notwendig eine positive Offenbarung angenommen werden muss, b) andererseits diese Bejahung oder Verneinung der notwendig positiven Offenbarung der Freiheit der Reflexion und der ganzen vernünftigen und geschichtlichen Evidenzform anheimgestellt bleibt. Die notwendige, positive Offenbarung determiniert nicht. Der Freiheitsakt kann  das „Gesicht“ (die Idee) aufgreifen oder nicht.

4) Es müsste jetzt noch viel tiefer in die Transzendentalphilosphie FICHTES eingestiegen werden. Vor allem was den Begriff der „Genesis“ selbst betrifft. Ich verweise hier auf J. Widmann, ebd. S 123 – 132. Der transzendentale Differenzgrund des Wissens als Einheit in der  Sich-Erscheinung des Absoluten  (als reflexive Freiheits-Bildung)  muss als „Nichtsichgenesis“ (21. Kollegstunde, WL 1804/2) erscheinen, denn der Geltungsgrund reproduziert nicht bloß Eines, sondern produziert Verschiedenes. Er kann dabei freilich nicht nichts sein, sonst wäre in ihm weder Genesis noch irgend etwas. Er muß „positive Nichtsichgenesis“ (SW, ebd. S 259) sein. 11

„Der Disjunktionspunkt postuliert Indifferenz von Erzeugen und Nichterzeugen. Insofern trifft die Negation keineswegs nur das „sich“, sondern auch den Begriff der „Genesis“. Aber in dieser Intention ist sie nicht völliges „Vernichten“ der Genesis – dann wäre der Einheitspunkt nicht mehr Einheit aus Nichtgenesis und Genesis. Vielmehr liegt auch hier vor „positive Negation der Genesis“: „aber die positive Negation der Genesis ist ein bestehendes Sein“ . Was heißt das? Negiert kann nur werden, was ist. Die Genesis muß sein, um negiert werden zu können. Von diesem „sein“ der Genesis geht die Negation aus; sie kommt nicht anderswoher. Das „sein“ der Genesis widerspricht dem in der Genesis liegenden „werden“. Diese Einsicht allein führt noch nicht weiter. Worauf es zudem ankommt, zeigt das Bemerken, dass „sein“ und „werden“ sich hier nicht gleich-gültig gegenüberstehen, sondern dass ihr Verhältnis durch die Differenz ihrer eigenständigen Bedeutungen geprägt ist. Das Sein hat kein Ziel, sondern ruht in sich. Vom Sein kann nichts erwartet werden: es ist schon immer, was es ist, und bleibt immer, was es ist. Vom Werden kann alles erwartet werden. Das Sein trägt seine Gültigkeit in sich. Das Werden macht seine Geltung abhängig von seinem Ziel: dem Sein. Die am Sein reflektierte Negation trifft das noch nicht der Genesis. Und die am Sein gleichfalls reflektierte Affirmation der Genesis rechtfertigt die Existenz der Genesis um ihrer Intention auf das Sein willen. Das alles konzentriert Fichte in die Formel „positive Nichtsichgenesis“ 12

Man erkennt in dieser transzendentalen Analyse des prädispositionalen Setzens und Bildens aber damit den bestimmten Erkenntnismodus, der selbst in der WL 1804/2 kaum zur Sprache gekommen ist: den des geschichtlichen Erkennens! Zur logischen Implikation des Grund-Folge-Setzens kommt notwendig das Schweben der ursprünglich produzierenden Einbildungskraft (GWL 1794) – und deshalb muss das geschichtliche und konkrete Erkennen einer transzendentalen Sinn-Idee selbst vom transzendentalen Erkenntnisprinzip her veranschlagt werden. 

Es kommt im Unterschied zum unüberbrückbaren Hiatus in der Differenzphilosophie zu einer neuen Bestimmung des „Hiatus“ zwischen „absolutem Sein“ Gottes und dem Denken dieses Seins. Die Differenzgeltung des „Solls“ und des „Selbst“ muss bleiben, um Grund und Folge unterscheiden und bestätigen zu können, aber es geht um Nach- und Vorkonstruktion der „nicht erscheinenden Urgenesis“ (SW Bd. X, ebd. 21. Kollegstunde, S 261) 13in und aus einem pertinenten Bestimmungsgrund geschichtlichen Erkennens einer Sinn-Idee. 

M. a. W., die erste und höchste „Genesis“, „Urgenesis“, der Schöpfungsakt, kann nicht erscheinen und ist nicht bildbar in einer unmittelbarer Positivität des Bildes. Die Lichtform verbirgt hier selbst ihren eigenen Grund. Die Erscheinung des faktischen Seins und komplementär Wissens  ist nicht das Absolute und umgekehrt, das Erzeugte nicht der Grund des Erzeugens, aber nichtsdestotrotz bleibt in der Negation des Erzeugten eine fortwährende Vermittlung, denn die fortdauernde Lebendigkeit der Genesis kann nicht  vernichtet werden. Negation ist positive Setzung eines anderen Gesetzten, aber nicht absolute Negation der Genesis, denn dann wäre auch kein Erzeugtes mehr.
Anders gesagt: Der Grund erscheint in einer Art  Strukturbild des Wissens nicht als nichts, sondern als Negation an einer Position. Ein Grund ist nie „nichts“ – sonst könnte aus ihm auch nie etwas hervorgehen oder hervorgegangen sein. Mittels Negation der durch sich selbst bestimmten Position begreift der Verstand das Unbegreifliche an der absoluten Vernunft. Das Unbegreifliche ist das Mittel, durch das der Verstand den positiven Grund aller Erzeugung auf sein eigenes Begreifen bezieht. Besonnen wird der „absolute Verstand“ (WL 1804/2)deshalb den Geltungs-Grund seines Erzeugens nicht leugnen. Der Verstand muss zwar einerseits absolut  sein, will er Folge der Disjunktionseinheit Sich-Erscheinung des Absoluten und Faktum aller Erscheinung beschreiben, aber er ist nicht von sich, durch sich, aus sich absolut. Der Verstand muss eingebunden werden in die höhere Evidenzform der Vernunft, und diese führt weiter zur Evidenzform der Geschichte und des Sinns.  Auch der Verstand ist ein verbales Bilden in und aus der Genesis heraus in Hinblick auf Natur, Logos, Geschichte, Sinn. Er führt notwendig zu einem  appositionellen Denken.

© Franz Strasser, 11. 4. 2021

1M. Gerten, Sein oder Geltung. In: Fichte-Studien, Bd. 47, 2019, S 208.

2M. Gerten, ebd., S 218.

3Zur genaueren Analyse siehe J. Widmann, die Grundstruktur des transzendentalen Wissens nach Joh. Gottl. Fichtes Wissenschaftslehre 1804/2, Hamburg, 1977, S 55ff.

4J. Widmann, ebd., S 54.

5Vgl. J. Widmann zur Synthese des Begriffes, ebd., S 58- 64.

6J. Widmann, ebd., S 55.

7J. Widmann, ebd., S 72

8In einem Aufsatz von D. MERSCH scheint mir zwar die Tatsache der faktischen Differenzgenesis in jedem Bilden und Begreifen gut beschrieben zu sein, aber was ist die Wissensbedingung dieses visuellen Denkens? Die Sichtbarmachung von Bildern, das Visuelle in seiner Medialität,  wie kann es gedacht werden?  Dazu braucht es seiner Ansicht nach vier Theoreme der Bedingungen der Sichtbarmachung von Bildern: a) die „Hervorbringung“, b) die „Bedingungen des Erscheinens“, c) das sichtbar gemachte „Als“ und d) das „Spiel zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit“. (D. Mersch, Sichtbarkeit/Sichtbarmachung: Was heißt ›Denken im Visuellen‹? Platonismus als Herausforderung, 2013 siehe Internet: www.dieter-mersch.de, ebd., S 1 u. 2)

9J. Widmann im Abschnitt zum „Soll“, ebd. S 102.

10J. Widmann, ebd., S 176.

11J. Widmann, ebd. S 125.

12Ebd., S 125.

13Vgl. J. Widmann, ebd. S 127.

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser