PLOTIN, Enneade VI, Neuntes Buch, Ueber das Gute oder das Eine

http://www.zeno.org/Philosophie/M/Plotin/Enneaden/6.+Enneade.+Ontologische+Untersuchungen

Plotin: Die Enneaden. Band 2, Berlin 1880, S. 225.

Plotin: Die Enneaden. Band 1, Berlin 1878, S. 1.

Entstanden zwischen 254 und 270 n. Chr. Die Einteilung von Plotins Schriften in sechs Neunergruppen (Enneaden) stammt von Porphyrios, einem seiner Schüler, der sie nach dem Tod des Lehrers herausgab. Erstdruck in lateinischer Übersetzung durch Marsilio Ficino: Florenz 1492. Der Text folgt der ersten vollständigen deutschen Übersetzung durch Hermann Friedrich Müller von 1878.

Griechischer Text – siehe http://remacle.org/bloodwolf/philosophes/plotin/enneade69.htm
Enneade VI, Neuntes Buch, Ueber das Gute oder das Eine

1. Alles Seiende ist durch das Eine seiend, sowohl das, was ursprünglich seiend ist, als auch das, was irgendwie zu dem Seienden gezählt wird.

[1] Πάντα τὰ ὄντα τῷ ἑνί ἐστιν ὄντα, ὅσα τε πρώτως ἐστὶν ὄντα, καὶ ὅσα ὁπωσοῦν λέγεται ἐν τοῖς οὖσιν εἶναι.

Denn was sollte es auch sein, wenn es nicht Eins wäre?

Τί γὰρ ἂν καὶ εἴη, εἰ μὴ ἓν εἴη;

Da ja jenes, des Einen beraubt, nicht ist was es genannt wird.

Ἐπείπερ ἀφαιρεθέντα τοῦ ἓν ὃ λέγεται οὐκ ἔστιν ἐκεῖνα.

Denn es gibt weder ein Heer, wenn es keine Einheit geben soll, noch einen Chor noch eine Herde ohne Einheit.

Οὔτε γὰρ στρατὸς ἔστιν, εἰ μὴ ἓν ἔσται, οὔτε χορὸς οὔτε ἀγέλη μὴ ἓν ὄντα.

Aber auch ein Haus oder ein Schiff gibt es nicht ohne dass sie das Eine haben, wenn anders das Haus und das Schiff eine Einheit bilden; wenn sie diese verloren haben, so ist das Haus nicht mehr Haus und das [436] Schiff nicht mehr Schiff.

Ἀλλ´ οὐδὲ οἰκία ἢ ναῦς τὸ ἓν οὐκ ἔχοντα, ἐπείπερ ἡ οἰκία ἓν καὶ ἡ ναῦς, ὃ εἰ ἀποβάλοι, οὔτ´ ἂν ἡ οἰκία ἔτι οἰκία οὔτε ἡ ναῦς

Die kontinuierlichen Grössen ( v. syneches – das kontinuierlich Zusammenhängende, Raum und Zeit, nach Aristoteles) hören demnach auf zu sein, wenn in ihnen das Eine nicht vorhanden ist; zerteilt wenigstens alterieren sie das Sein in sofern, als sie das Eine zerstören (zerstören sie das Eine, als sie das Seiende verändern)

Τὰ τοίνυν συνεχῆ μεγέθη, εἰ μὴ τὸ ἓν αὐτοῖς παρείη, οὐκ ἂν εἴη· τμηθέντα γοῦν, καθόσον τὸ ἓν ἀπόλλυσιν, ἀλλάσσει τὸ εἶναι.

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Ebenso auch die Körper der Pflanzen und Tiere, deren jeder eine Einheit bildet: wenn sie in eine Vielheit zerrieben das Eine verlassen, so vernichten sie ihr eigenes Wesen und sind nicht mehr was sie waren, sondern sind andere geworden und zwar jene, die vermöge einer Einheit existieren.

Καὶ δὴ καὶ τὰ τῶν φυτῶν καὶ ζῴων σώματα ἓν ὄντα ἕκαστα εἰ φεύγοι τὸ ἓν εἰς πλῆθος θρυπτόμενα, τὴν οὐσίαν αὐτῶν, ἣν εἶχεν, ἀπώλεσεν οὐκέτι ὄντα ἃ ἦν, ἄλλα δὲ γενόμενα καὶ ἐκεῖνα, ὅσα ἕν ἐστι.

Kommentar Dr. Franz Bader: Es liegt darin ein Anklang an den Phaidros, dass die Seele zerstiebe, vernichtet würde im Tod, wenn sie nicht eins und unsterblich wäre.

Auch die Gesundheit ist dann vorhanden, wenn der Körper zur Einheit geordnet worden, desgleichen Schönheit, wenn die Natur des Einen die Teile zusammenhält; ferner Tugend der Seele, wenn diese zur Einheit geführt und zu einer Harmonie geeint worden ist.

Καὶ ἡ ὑγίεια δέ, ὅταν εἰς ἓν συνταχθῇ τὸ σῶμα, καὶ κάλλος, ὅταν ἡ τοῦ ἑνὸς τὰ μόρια κατάσχῃ φύσις· καὶ ἀρετὴ δὲ ψυχῆς, ὅταν εἰς ἓν καὶ εἰς μίαν ὁμολογίαν (Übereinstimmung) ἑνωθῇ.

Dr. Bader: Da ist ein Anklang an das Theaitetosprinzip, worin geschildert wird, dass die Seele für sich wie für die Sinneswahrnehmung das alles vereinheitlichende Prinzip sein muss.

Muss man nun etwa, da die Seele alles schaffend, bildend, gestaltend, ordnend zur Einheit führt, auf diese rekurrieren und sagen, dass sie den Reigen des Einen führt und diese das Eine ist? Nein, wie sie, die den Körpern das andere zuführt, nicht selbst ist was sie gibt, z.B. Gestalt und Form, die vielmehr von ihr selbst verschieden sind, so muss man, wenn sie auch eine Einheit gibt, doch annehmen, dass sie dieselbe als eine von ihr selbst verschiedene gibt und dass sie auf das (reine) Eine blickend ein jedes zu einer Einheit macht, wie sie auch auf einen Menschen blickend einen Menschen macht, indem sie mitsamt dem Menschen das in ihm liegende Eine ergreift.

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Ich möchte hier nur eine Vorlesungsstunde (es gäbe unzählige!) von Dr. Franz BADER zu diesem Text bringen. Dazwischen eigene Einschübe. Ich verdanke Dr. F. BADER eine komplette neue Sicht auf Platon, Plotin und die Kirchenväter. Er konnte sowohl a) historisch und philologisch die großen Philosophen zitieren, quer durch die ganze Philosophiegeschichte, Antike, Mittelalter, Neuzeit hindurch, b) als sie auch systematisch und ideengeschichtlich vermitteln und aktualisieren auf eine „philosophia perennis“ hin. Diese „philosophia perennis“, die einerseits zeitlos gültig, andererseits riskant, engagiert, offen für neue Fragen und Antworten ist, ist mir stets eine Herausforderung.

1) Die von F. BADER stets neu reflektierte, durchdachte, inkarnatorische Sicht des Platonismus ergänzt und legitimiert in hervorragender Weise den christlichen Glauben. Der Platonismus geht ja von der Einheit des Wissens und einem qualitativen Totalitätsallgemeinen aus, einem transzendentalen Ideal, insofern aber die christliche Offenbarung ebenfalls alle Teile der Wirklichkeit begreift, muss beides ineinander vermittelbar sein, das Prinzipielle mit dem Konkreten und das Konkrete mit dem Prinzipiellen. Das Ganze der Offenbarung geht dem Teil des individuellen Wissensvollzuges voraus und umgekehrt offenbart der Teil ebenso das Ganze. Die Vermittlung des Ganzen und des Teils transzendental-reflexiv auf die Anschauungsform der Zeit angewandt, das ergibt eine starke Position des systemrelevanten Denkens für Natur, Vernunft, Geschichte und Sinn. 

2) Das Ganze  der Wirklichkeit als Totalität hat historisch neben PLATON der Philosoph PLOTIN auf den Begriff gebracht. Deshalb oben diese kurze Passage aus den Enneaden. Siehe besonders auch bei Beierwalters.1 Die Anwendung dieses, man kann sagen, transzendental-reflexiven Wissens auf die verschiedenen Stufen und Bereiche des Wissens, das hat maßgeblich auf die Kirchenväter gewirkt, und bestimmt bis heute unsere christliche Weltanschauung bzw. die Interpretation der Heiligen Schrift. Wie könnte man einen PAULUS z. B. in seiner Aussage Röm 8 verstehen, „18 Ich bin überzeugt, dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll. …. (siehe 8, 18 – 23), wäre nicht PLOTIN oder AUGUSTINUS gekommen, die das intuitiv Richtige des PAULUS intelligierend in die Reflexion der Vernunft übersetzt hätten?! 

3) PLOTIN schildert oben das EINE, Bleibende, Dauernde in der Begriffsdialektik von Teil (Seiendes) und Ganzes. (1. Alles Seiende ist durch das Eine seiend,….) Die Teile verweisen in Wahrheit auf eine Einheit, die zwar durch eine Art „Fall“, durch eigensüchtiges Suchen der Seele, verloren gegangen ist, aber gerade die Form der Zeitlichkeit ist die Aufforderung zur Rückkehr in das Eine und Beständige. Die Zeitlichkeit und Vielheit kann wieder abgestreift werden im ungestörten Bei-sich-Sein der Seele. Wir können erkenntniskritisch/mystisch zur Einheit wieder zurückkehren. Die Gegenwart ist nicht Differenz, sondern die Einheit von Vergangenheit und Zukunft, Gegenwärtigkeit des Geistes, die auf die Ewigkeit verweist.

Im unteren 2. Teil von PLOTIN geht es um die Zentrierung des Wissens in der Seele. Das Mannigfaltige kann in der Einheit der Seele gebündelt werden – und das Zeitliche ist so selbst in der Seele (im Bewusstsein) konstituiert und geht aus der Seele hervor. Über der Einheit der Seele (Psyché) liegt aber noch der Nous und das Hen, das primärreflexiv dem Denken der Seele vorausgehen muss. Siehe dann AUGUSTINUS in seiner Analyse der Zeit, der das Zeitliche und Ewige in noch größerem Gegensatz denkt, aber beides ist durch die Gnade der positiven Offenbarung vermittelbar.

4) Natürlich gibt es heute sehr divergierende Anschauungen zur Zeit, zuletzt die systemtheoretische Sicht von Niklas Luhmann, dass die Zeit durch den differenzspezifischen Diskurs bzw. durch das Bewusstsein in seinen Operationen (Negationen) gebildet ist – aber eigentlich undurchdringlich und empirisch-evolutionär vorgegeben. Warum sollte uns z. B. ein Ereignis der Geschichte mehr betreffen als ein anderes? Gibt es in einer systemtheoretischen Analyse noch den ausgezeichneten Begriff einer positiven Offenbarung?
Was ist
mir lieber, die Klage über die vergängliche Zeit bei AUGUSTINUS, oder die Klage über eine ständig sich ändernde Zeit, je nach differenzspezifischer Klassifikation der Wirklichkeitsbereiche

Für mich enthält die Paradoxie von Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit bei N. LUHMANN eine bleibende Antinomie. Diese muss gelöst werden können. Die Zeit ist ideal und real zugleich; sie wird in und aus einem zeitüberhobenen, absoluten Bestimmungsgrund ideal gebildet und in einem entsprechenden Streben real verobjektiviert und gelebt.

Die beklagenswerte „Ausdehnung“ der Zeit (Augustinus, Confessiones IX, 39), oder die voneinander unabhängigen Zeitmomente (Descartes, 3. Meditation), das alles verlangt nach einem transzendental-reflexiven Denken, wie Zeit entsteht und wie sie bestimmt werden kann – und wie rückwirkend uns bestimmt.  Sie auf die verschiedenen Momente des Diskurses und des Informationsgewinns verschieden aufzuteilen, offenbart nur eine unendliche Teilung der Zeit – wie es bekanntlich der Philosoph ZENON aporetisch formulierte. 
Transzendental im Wissen ableitbar müsste es dahin gehen: Zeit ist lebendige Anschauung, appositionelle Setzung aus einem absoluten Bestimmungsgrunde. (R. LAUTH).
N.
LUHMANN spricht zwar oft von der „offenen“ Zukunft, aber diese ist im Augenblick der Differenzierung schon erledigt. Wenn die Gegenwart nur die Differenz von Vergangenheit und Zukunft ist, so liegt darin, wenn ich den Menschen bloß als „psychisches System“ verstehe, selbst keine Freiheit und keine individuelle Zeit und Zukunft mehr, geschweige eine objektive Zeit und Zukunft, oder, wie die Alten sagten, keine Ewigkeit. 2

5) Hier noch der weitere Kommentar von F. BADER zum obigen Text von PLOTIN, Enneade VI, 9.

Plotin hat im primärreflexiven Wissen bestimmte Wissensstufen unterschieden: 1.) Das Hen; 2.) den Nous mit den onta, den Ideen, die er in sich hat; 3.) die Seele, die wiederum unterschieden werden kann in Weltseele und persönlicher, individueller Seele; schließlich noch 4) die Hyle, den Stoff. Alles ist hierarchisch im primärreflexiven Wissen aufgebaut und dorthin kann das sekundärreflexive Wissen im philosophischen Aufstieg sich zurückziehen. Wenn wir aufsteigen zum höchsten Prinzip, so ist das eine Rückkehr in das Innere, in den in uns liegenden Grund, in die arché,  in uns selbst. Wir steigen auf über die Seele und durch die Seele hindurch in den Nous und durch den Nous hindurch zum Einen. Das ist ein nach Innen gewandter Aufstieg. AUGUSTINUS hat das mit ziemlicher Sicherheit von Plotin übernommen, wenn er von der Innerlichkeit spricht in „De vera religione“, Kap 39, 72 – Noli foras ire, in te ipsum redi; in interiore homine habitat veritas.

Wir können uns mit dem Einen verbinden – später auch „Vater“ genannt, weil die Seele schon „homoousios“ ist in ihm/mit ihm. Das heißt noch lange nicht Pantheismus! Psychologisch wurde das allerdings von Mystikern gesagt, wenn die Seele sich mit Gott eint, ist sie nicht mehr von ihm zu unterscheiden. Das wäre dann eine gewagte Aussage. Ob man aber zwischen psychologischer und ontologischer Aussage noch unterscheiden kann, ist wieder eine Frage – und m. E. ist das in der Tradition nicht gelöst worden. Eine Identitätsaussage mit Gott wäre primärreflexives Wissen. Ein DIONYSIOS AREOPAGITA  setzt irgendwie mit diesem Wissen an, um aber dann zu einem negativen Verfahren der Nicht-Prädizierbarkeit Gottes überzugehen.

Die Seele ist das Einheitsprinzip alles gegenständlichen Mannigfaltigen, sofern es vereinigt wird. Die Seele reicht aber nicht hin, wir müssen durch die Seele zum Geist und durch den Geist zum reinen Hen. Der Geist und das Eine liegen selbst der Seele primärreflexiv zugrunde.

(c) Franz Strasser, 25. 6. 2020

1 Werner Beierwaltes, (Hg.): Plotin. Über die Ewigkeit. Frankfurt am Main 1995.

2 Vgl. zur Zeitvorstellung bei Niklas Luhmann: Thomas Kisser, Zur Paradoxie der Zeit bei Lauth und Luhmann, Würzburg 2017, S 192. Dort auch Literaturangaben zur Niklas Luhmann: „Die Zukunft kann nicht beginnen. Temporale Strukturen der modernen Gesellschaft.“ In: Sloterdijk, P. (Hg.): Vor der Jahrtausendwende. Berichte zur Lage der Zukunft. Bd 1. Frankfurt am Main 1990, S. 119-150, 124. Vgl. dazu auch Luhmann, N.: „Gleichzeitigkeit und Synchronisation.“ In: Ders.: Soziologische Aufklärung 5. Wiesbaden 2005, S. 92–125; ders.: „Geheimnis; Zeit und Ewigkeit.“ In: Fuchs, Peter, Luhmann, Niklas: Reden und Schweigen. Frankfurt am Main 1989, S. 101-137; ders.: „Temporalisierung von Komplexität: Zur Semantik neuzeitlicher Zeitbegriffe.“ In: Ders.: Gesellschaftstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt am Main 1995 [= TK), S. 235–300, 236f., GG, S. 997–1016.

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser