SL-1812, 18. – 22. Vorlesung, 3. Teil, Kommentar in Stichworten

Hier beginnt der 2. Hauptteil der SL-1812, die begrifflich-analytischer Zerlegung der gesellschaftlichen Erscheinung des Begriffes, d. h. die kausal-zeitliche Anwendung und Realisierung als „Theil der realen Erscheinung“ (18. Vorlesung S 341 Z 21), als Prinzipiat des Prinzips der Erscheinung Gottes.

Durch die Form der Gemeinde von Ichen, „schlechhin faktisch im faktischen Sehen, das ohne alles Zuthun der Freiheit jedem wird, u, keiner ändern kann! (17. Vorlesung S 339 Z 31), muss die Form der Realisierung des idealen Begriffes der Gemeinschaft ebenfalls auf eine mannigfaltige Art und Weise des individuellen Vollzuges geschehen. Es ist konstitutionsgenetisch notwendig, wie in der WL 1811 herausgearbeitet, dass Bewusstsein nicht nur ein Sehen ist, sondern zugleich ein mannigfaltiges Sehen sein muss.
Das Ordnen der Wirklichkeit geschieht dabei durch den Zweckbegriff (19. Vorlesung S 343, Z 24); der Naturtrieb“ (ebd. S 344 Z 5) kommt ins Spiel, um auf eine die sinnliche Naturordnung hinausgehende geistige Gesellschaftsordnung überzuleiten; das Vermögen des Ich ist schematisch eine gesellschaftliche Ordnung, ist ein „selbstständiges Prinzip“ (19. Vorlesung S 345 Z 26).

Die Gemeinde wird beschrieben (20. Vorlesung). Der sittliche Begriff leitet dem Inhalt nach ĂĽber zu einer Mitteilungspflicht der einzelnen Individuen; das Bild der sittlichen Weltordnung ist genetisch vorgegeben und abgeschlossen, aber zeitlich unendlich; dies verlangt Pädagogik und Erziehung mit Liebe – und kann nicht widersittlich erzwungen werden. Der Begriff der sittlichen Ordnung bleibt als Bild und Erscheinung Gottes formal (und somit transzendent) vorgeordnet, inhaltlich muss die Ordnung aber im zeitlichen Bilden (in Bildern und als Bilder), wechselwirkend mit dem Bild Gottes, erst werden und erscheinen. (22. Vorlesung)

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18. Vorlesung

Das Ich soll erscheinen als die Zeit ausfüllend, als selbstständiges Prinzip, aus sich, von sich, durch sich;

S 341 „Der Mensch muß eine Kausalität haben, unabhängig von Sittlichkeit, unsittlich leben und würken können, außerdem könnte er es nicht sittlich.“ (ebd. Z 4)

Im Wissen muss dieses Über-Empirische erscheinen können, über ein leere Bildlichkeit hinaus; ein „sichtbares an sich“, „nicht als bloße Sichtbarkeit gedacht“ (ebd. Z 12). Ein solches ist die Gemeinde der Individuen.

Ein Individuum ist a) bloße empirisches Bild eines Sehens, darin sind alle gleich, und b) ein Teil des „wirklich und realiter in dem Sehen seyenden: u. insofern ist es selbst etwas reales: nemlich ein Theil der realen Erscheinung.“ (ebd. Z 21)

Es erscheint in der Individuenwelt nicht die Erscheinung, wie sie ist, sondern dass sie ist, und dass etwas, „das nicht bloßes Sehen ist, und das an sich unsichtbar ist, sichtbar ist, in dem Sehen.“ (ebd. Z 24) Es wird sichtbar in der Individuenwelt.

Die Erscheinung ist gegeben in der Form der Bildlichkeit; Bildlichkeit heiĂźt, dass etwas ist in der Form der Bildlichkeit;

Das Ich ist Prinzip, die Gemeinde der Individuen und jedes einzelne Individuum als Glied derselben, mĂĽssen erscheinen in wirklicher Erscheinung,

S 342 „als wirkend objectiv“ (ebd. Z2), als real wirkend; das Ich muss diese „Summe von Subjekten“, in der die Erscheinung erscheint, bestimmen können, d. h. es muss Prinzip sein können „in Beziehung auf die Mannigfaltigkeit des Seyns“ (ebd. Z 11), d. h.

S 343 es wird „Urheber einer neuen Ordnung der Mannigfaltigkeit“ sein. (ebd. S 343 Z 1)

Mit der neuen Mannigfaltigkeitsordnung ist synthetisch vereinigt das faktische Sehen der Empirie, das ja ebenfalls aus der realen Erscheinung kommt;

19. Vorlesung

„Ehe es drum zur Erscheinung des sittlichen Lebens kommen kann in irgend einem Individuum, wird dasselbe dargestellt in wirklicher Erscheinung, als Princip irgend eines Ordnens: als wirkend eben, u. freie Ursache.“ (ebd. Z 16f)

Dieses Prinzipiat ist allgemeingültige, objektive Anschauung für das Ich, für alle Individuen, denn es ist die Erscheinung „des Einen realen in der Empirie“ (ebd. Z 21)

Die Wirksamkeit für ein gewisses Ordnen ist bedingt durch den Begriff einer solchen Ordnung, den Zweckbegriff. „Dieser ist wieder bedingt durch den Begriff der im faktischen Seyn der Welt gegebnen Ordnung; eine gewisse Entwiklung des Begriffs geht drum der Wirksamkeit nothwendig voraus.“ (vgl. ebd. Z 24 f)

Es herrscht somit ein Charakter der Ordnung des Ich, der Geistigkeit, wenn der sittliche Wert in realitate gesetzt wird. 1

S 344 Es ist das andernorts oft dargestellte Verhältnis von Naturtrieb, das genetische Sehen des Möglichen, „Naturprodukt und Naturding“ (ebd. Z 5), das für sich aber nicht möglich eingesehen werden könnte, gäbe es nicht die „Darstellung des realen in der Erscheinung“ (ebd. Z 11), mithin ist die natürliche Ordnung bedingt durch eine übernatürliche, geistige Ordnung, und umgekehrt muss es einen Trieb im sinnlichen wie geistigen Sinne für das Zweckdenken geben.

„Es ist andern Theils Darstellung des realen in der Erscheinung: und insofern ist es Trieb, und möglicher Weise Handeln für eine in dem Naturgesetze nicht liegende u. durch dasselbe nicht gefoderte Ordnung; die ihm schlechthin entspricht, die in seinem selbstständigen Seyn liegt, u. durch dasselbe gefodert wird.“ (ebd. Z 11)

Innerhalb der übernatürlichen, geistigen Ordnung macht sich sichtbar das „reale der Erscheinung“ (ebd. Z 24), das „Naturgesetz eines faktischen Wissens“ (ebd. Z 25); dies ist aber ein Gesetz der Gesetzlosigkeit und des Ungefährs.

Beide Ordnungen machen ein Individuum aus – und der reflexive Ichbegriff wird selber so charakterisiert, dass zuerst die gesellschaftliche Ordnung ist, ehe die Naturordnung ist.
Anders gesagt: Das Ich ist dem Vermögen nach zuerst reflektiert und repräsentiert als Gemeinde, ist inhaltlich und material eine Pluralität von Individuen, spiegelt die Einheit einer „Mannigfaltigkeitsordnung“ (siehe Zitat oben S 343 Z 1) wider. „Die sittliche Interperson ist das vom sittlichen Wert in der Wirklichkeit Geforderte“, so R Lauth in seiner Ethik. 2

S 345 „Das Individuum entwickelt sich ja erst als blosses Naturwesen, zur Fertigkeit der SelbstErhaltung: sodann als ein Ich an sich, seinem geistigem Wesen nach, zuförderst zu einem Grade von ErkenntniĂź solcher geistigen Begriffe, u. der Zwekmäßigkeit der Natur fĂĽr sie: sodann zu einem Grade von Fertigkeit sie auszufĂĽhren. Dadurch erhält nun das Individuum zuerst seinen individuellen Charakter, der nothwendig ein geistiger ist, aus der Sphäre der eben beschriebenen Begriffe. a.). Das bloĂź empirische Ich hat keinen Charakter: sie sind alle sich gleich: [strebend nach] SelbstErhaltung, fliehend den Schmerz, wollend sinnliches Wohlseyn: höchstens hat es einen Standpunkt im Raume, u. in der Zeit. b.) jener Charakter wird dem Menschen nicht angebohren, sondern er entwikelt sich in der Zeit, nach unbegreiflichen GrĂĽnden, u. Gesetzen. Das beste thut die menschl[iche]. Gesellschaft, die sich selbst zum Begriffe erzieht. Warum nun diese Erziehung hier nicht anschlägt, dort aber, u. [eine] andere“ andere Resultate liefert: das ist unbegreiflich“ (ebd. Z 2ff)

20. Vorlesung
S 345 Da das Ich letztlich freies Prinzip sein muss, muss auf der Erscheinungsebene die Gemeinde der Individuen selbst als Prinzip aufscheinen, die eine freie, geistige Ordnung der Individuen als Produkt hervorbringt.

Das Produkt ist dabei a priori nicht ableitbar, weil im Akt freien Wollens die gesehene Natur- und Gesellschaftsordnung als Stoff vorausgesetzt wird. „Ann diesem Charakter“ hat der Pflichtbegriff aber seinen Stoff:

„Zufolge dieses Charakters ist nun das Ich, unabhängig vom Sittengesetze, u. vor dem Erwachen deßelben, selbstständiges Princip in der objektiven Welt, von einem solchen, das seinen Charakter ausspricht; und so ist denn die Gemeinde aller Individuen, wiefern sie sich zu diesem höhern geistigen Daseyn entwikelt haben, selbstständiges Princip eines solchen Produkts, das ohne dieselbe, durch die blosse Natur, gar nicht da wäre: u. zeigt sich so als etwas anderes als die Natur, u. da diese nichts ist, als etwas an sich. An diesem Charakter nun, u. dem materialen Inhalte desselben hat der Pflichtbegriff, falls er erscheint, einen Stoff, an den es sich halte, aus dem er seinen eignen Gehalt entlehne, u. ihn weiter bestimme; (…)“ (ebd. Z 21ff)

S 346 Fichte begibt sich an die Beschreibung der Gemeinde:

a) Das Individuum kann sich als reales Bewusstsein nur bewusst werden, in dem es sich integrativ aus der Gemeinde, als Teil eines Ganzen unterscheidet und bestimmt; die Gemeinde ist als Einheit dem Individuum vorgeordnet; es ist die Ansicht der allgemeingeltenden Vernunft;

S 347 diese Einsicht wird erhoben zum Gesetz,

b) was das Handeln und Wirken betrifft, muss alles zuerst den Zweck haben, „die Einheit der Gemeinde auch in der Erscheinung darzustellen, allein individuellen Charakter, d. i. beschränktes Maas der Einsicht, u. der Kunstfertigkeit aufzuheben.“ (ebd. Z 13)

 

Es besteht eine allgemeine Mitteilungspflicht des Geistigen.

S 348 Der sittliche Begriff gewinnt eine geistige Form. Den qualitativen Inhalt muss jeder/jede unmittelbar im Bewusstsein selbst vollziehen:

»1. Das einzige wahrhaft selbstständige innerhalb der Erscheinung ist die Erscheinung selbst, wie sie ist an sich, als Bild Gottes. Dies ist nun in ihrer Einheit als Gemeine der Individuen.“ (ebd. Z 12f

Ich zitiere hier G. Cogliandro, weil dies eine entscheidende Stelle ist in der Analyse des sittlichen Begriffes: „Die Erscheinung ist selbständig und fällt daher in den Bereich der Wissenschaftslehre, d. h. sie gehört in die Analyse des Absoluten, weil die Erscheinung als solche erkannt wird, insofern sie als Bild Gottes verstanden wird. Sie ist das Bild Gottes weil selbständig, und eben deshalb kann sie die Grundlage einer wahrhaften Gemeinschaft von Individuen bilden.“ 3

b) Dies hat jetzt eine interessante Konsequenz, insofern die erste und einzige Erscheinung des Absoluten das „Bild Gottes“ ist, sichtbar in ihrer Einheit als „Gemeine der Individuen“, dass reflexiv selbst sich zum Objekte hat – aber genauso unbegreiflich bleiben muss, wie das Erscheinen des Absoluten selbst als Bild Gottes (und als Einheit einer Vielheit): „<2>). Dieses ihr Seyn stellt sich dar als eine Aufgabe; denn sie erscheint in der Form eines absoluten Princips. Also – der Begriff richtet sich nothwendig an das Ganze, u. spricht vom Ganzen. Es giebt im eigentlichen Sinne keine Pflicht des Einzelnen, sondern nur eine der ganzen Gemeine. Diese aber ist die Hervorbringung einer gewissen WeltOrdnung: (ebd. S 348 Z 16)

Wenn das ein unbegreifliches Erscheinen des Absoluten ist und bleiben muss, kann folglich auch nicht von einem Weltgeist oder „Gesamtbewusstsein“ geredet werden, das dieses Bild Gottes generiert oder emergiert, weil dies dem transzendenten Verhältnis der Erscheinung zum Absoluten widersprechen würde: es heißt konsequent transzendental gesagt:

welche schlechthin unbegreiflich ist, da sie unmittelbar sich offenbaren muß, [und] auch in dieser Welt nicht in irgend einem Bewußtseyn heraustritt, indem theils die Gemeine noch nicht vollendet ist, theils, unter anderm auch, weil sie noch nicht vollendet ist, [sondern] immerfort muß gebildet werden. (Sodann [will ich] darüber eine Bemerkung [anfügen].[)] 

3.). Diese Aufgabe spricht sich nun nicht aus in einem GesamtbewuĂźtseyn, weil es kein solches giebt, sondern in [einem] individuellen, hier so, anderwärts anders, nach einem unbegreiflichen Gesetze.Sie spricht sich aber aus, als Aufgabe fĂĽr das ganze; es wird drum zuallererst Aufgabe an jeden einzelnen seine Ansicht mitzutheilen an alle, u. sich anzueignen die Ansichten anderer: sich zu bilden zur Uebereinstimmung mit dem gemeingĂĽltigen in andern, u. diese zu bilden zur Uebereinstimmung mit dem gemeingĂĽltigen in ihm. In dieser Lage hat jeder seinen besondern geistigen Charakter; die Aufgabe aber ist, daĂź alle diese Charaktere in Einen verschmelzen. – [daáşž] die ganze Gemeinde da stehe mit Einem Sinne. Irgend einmal muĂź dieses Ziel erreicht seyn, denn es ist selbst nur ein Mittelglied zur eigentlichen SichDarstellung der Erscheinung. (ebd. S 348 Z 21ff)

S 349

Wohlgemerkt ist diese selbstständige Erscheinung (Punkt 1, S 348 Z 12) genetisch vollendet, zeitlich aber unendlich; nicht durch ein ĂĽbergeordnetes „Gesamtbewusstsein“ erreichbar, wiewohl es eine reflexive Verpflichtung des „Bildes Gottes“ selbst gibt, sondern nur individuell erreichbar: 3.). Diese Aufgabe spricht sich nun nicht aus in einem GesamtbewuĂźtseyn, weil es kein solches giebt, sondern in [einem] individuellen, hier so, anderwärts anders, nach einem unbegreiflichen Gesetze.Sie spricht sich aber aus, als Aufgabe fĂĽr das ganze; es wird drum zuallererst Aufgabe an jeden einzelnen seine Ansicht mitzutheilen an alle, u. sich anzueignen die Ansichten anderer: sich zu bilden zur Uebereinstim- mung mit dem gemeingĂĽltigen in andern, u. diese zu bilden zur Uebereinstimmung mit dem gemeingĂĽltigen in ihm. In dieser Lage hat jeder seinen besondern geistigen Charakter; die Aufgabe aber ist, daĂź alle diese Charaktere in Einen ver- schmelzen. – [daĂź] die ganze Gemeinde da stehe mit Einem Sinne. (ebd. Z 28 bis S 349 Z 10)

Sich mitteilen zu müssen, eine Übereinstimmung erzielen, das ist eine Frage der Erziehung und der Pädagogik (vgl. auch oben 11. Vorlesung, S 316 Z 12f), aber es muss ein ewiger Hiatus zwischen „Sich-Darstellung der Erscheinung“ (ebd. Z 11 bleiben, damit die Freiheit der individuellen und gemeinsamen Selbstbestimmung gewahrt bleiben kann, d. h. die Realisierung als „Bild Gottes“.

„Irgend einmal muß dieses Ziel erreicht seyn, denn es ist selbst nur ein Mittelglied zur eigentlichen SichDarstellung der Erscheinung. Bis es erreicht werde, wird durch die Erscheinung noch nicht dargestellt die aufgegebene Welt-Ordnung, sondern es wird nur gearbeitet an der Hervorbringung ihres Bildes, welches selbst nicht vollendet seyn kann, ehe die ganze Gemeinde vollendet ist. (ebd. S 349 Z 11f)

(sc. Man beachte hier die größtmögliche Vorsicht und Vorbehalt gegen eine gewaltsame Durchsetzung einer sittlichen Ordnung, trotz Aufgabe der Hervorbringung der sittlichen Ordnung; die gesellschaftliche Ordnung ist Selbstzweck der Erscheinung des Absoluten, deshalb nicht erzwingbar.)

Anders gesagt: Es kommt unter zeitlichen Bedingungen auf die Hervorbringung des „Bildes“ (ebd Z 15) der geistigen, sittlichen, gemeinschaftlichen Weltordnung an, dies liegt in der causalen Struktur der Sich-Erscheinung des Absoluten und dessen Produkt als Gemeinde von Ichen, in vollkommener Liebe, aber nur unter Vorbehalt freier, geistiger Mitteilung und individuellen Vollzuges und endlicher Nicht-Abgeschlossenheit. Die Gemeinschaft und die Idee der Menschheit kann in ihrer Organisation und Artikulation auf den sittlichen Zweck hin nur um seiner selbst willen konzipiert sein, so will es der Begriff der Sich-Erscheinung des Absoluten und das Bild Gottes, umgekehrt kann es keinen Begriff des Sittlichen unabhängig von der individuellen Realisierung geben; beides zusammengenommen ergibt die Synthese (oder Wechselwirkung), dass sich nur in einer apriorisch konzipierten Gemeinschaft die individuelle Sittlichkeit sich bilden und mit-bilden kann.

„Das gegenwärtige Leben ist Vorbereitung; es ist in ihm gar nicht gegeben der eigentliche weltschöpferische Begriff, sondern es ist nur aufgegeben sein Bild. Nicht das Objekt ist aufgegeben, sondern lediglich die Bildung des Subjekts zum Werkzeuge. Jeder soll an sich u. andern arbeiten; er arbeitet aber an sich nur inwiefern er an andern arbeitet, u. umgekehrt. Es ist Wechselwirkung: indem ja überall nur von dem gemeingültigen die Rede ist. [Hierin] Zeigt sich auch recht die Nothwendigkeit der Unsterblichkeit jedes der nur sittlich sich bildet. Das künftige Leben ist ja nur möglich durch die Identität der Individuen, die das gegenwärtige bilden, denn es besteht ja bloß in der Anwendung deßen, was sie hier gelernt haben.“ (ebd. Z 21)

Anders gesagt: Das Postulat der Unsterblichkeit wird aus einer (eschatologischen) Hoffnung endgĂĽltiger, gelungener, vollkommener Sittlichkeit abgeleitet.

21. Vorlesung

Fichte will die Aufgabe und die zeitliche Realisierung der Verwirklichung einer sittlichen Ordnung weiter auf ihre Möglichkeit hin analysieren:
S 350 Für das Vernunftwesen ist ein Wollen möglich; das Wollen ist die „Grenze seines Bewußtseyn“ (ebd. Z 21)

S 351 „Das was er will, ist allemal irgend ein Zustand des Menschengeschlechts; denn der in seinem Bewußtseyn durchgebrochene Begriff ist ein gemeingültiger von der V[ernun]ftgemeinde handelnder“ [ebd. Z 3)

Dies kann einer Art Naturordnung entsprechen, wie bei Napoleon, Mohammed, aber das wäre nicht der eine Begriff – „denn sie haben die Liebe nicht.“ (ebd. Z 21), der sittliche Begriff, jenseits eines besonderen-qualitativen Wollens, ist Form und Inhalt (Motiv) des Wollens;

S 352 Wollen und reiner Begriff könnten in einem Begriff X des Bewusstseins übereinkommen, aber der reine, sittliche Wille wäre das nicht mehr;

S 353 das Soll des Begriffes, in einem bildlichen Begriff gefasst, lässt sich aber dekonstruieren und steigern zum reinen, sittlichen Begriff, wenn das Gemeinschaftliche darin gesehen wird:
„Daß der Begriff sein Leben bekomme, will der sittliche: das Leben des Begriffs ist aber nicht bloß sein individuelles Leben, sondern das Leben schlechthin aller. (…)“ (ebd. Z 11); das ist der materiale Charakter, der Inhalt des sittlichen Willens: die Sittlichkeit aller; das Wollen der Pflicht um der Pflicht willen, die ein Selbstzweck einer einigen Menschheit ist, bedarf der rechten Mittel und Pädagogik:

„aber die absolute Pflicht aller läßt, bis das eigentliche Sittengesetz erscheinen kann, sich nur begreifen als Moralisierung aller, Erbauung aller zu einer einzigen sittlichen Gemeine. Dies ist nun die Liebe, (…) (ebd. Z 26)

Es geht Fichte hier um die Herausarbeitung des Gegensatzes, sittliches Wollen in einem psychischen Zustand und Sittlichkeit der Gesellschaft um seiner selbst willen;

S 354 – es könnte sogar der Missverstand eintreten, dass mit Gewalt das sittliche Wollen durchgesetzt werden könnte; das widerspricht aber dem reinen Begriff des Sittlichen;

22. Vorlesung
S 354

Die Erscheinung eines sittlichen Willens wird angestrebt; es ist die Sittlichkeit aller; der einige und letzte Zweck;

S 355 es gibt zwei Kriterien dafür: ein rein formales: a) der sittliche Wille will den reinen formalen Begriff, unabhängig von allen Zeiterscheinungen der Sittlichkeit; zweites Kriterium, b) er will ein qualitativ Formales, in ewiger Einheit die Sittlichkeit aller; die Spaltung in der Individuenwelt wird dann aufgehoben;

der sittliche Wille ist in spekulativer Hinsicht die faktisch dargestellte Einheit der absolute Erscheinung; (ebd. Z 26) „Gott ist Einer, die Erscheinung [ist] Eine, jenseits ihres Erscheinens. Im sittlichen Willen ist die wieder Eine im Erscheinen selbst. (.…)“ (Z 18); alles ohne Wandel und Veränderung;

S 356 Vom absoluten Begriff, als Grund der Welt und das mit Bewusstsein, gibt es ein Bild in jedem individuellen Bilden; damit es das eine, wahre Bild sei, mĂĽssen alle Bilder der Individuen einander mitgeteilt und zu einer organischen Einheit zusammengefĂĽhrt werden; wie soll es zur Kenntnis der Bilder aller kommen?

Das Bild muss a) leben; (ebd. S 357 Z1)

S 357 es muss b) als individuelles Bild in diskursiver, beschränkter Zeitgestalt eintreten, so, dass es für weitere Gestaltung offen ist, d. h. damit das Individuum sich zum Willen des Pflichtbegriffes selber machen kann und eine fortgehende Entwicklung des Bildes wollen könne – bis zur Entwicklung des wahrhaften Bildes des Einheitsbegriffes, der reinen Sittlichkeit. Dies ist die Sittlichkeit aller, in der alle Individuen zu Bedingungen ihrer Freiheit und Reflexion vereint sind;

S 358 gegenwärtig, in der Zeit, kann nur das stets unvollendete Bild des Bildes erscheinen, als Stufe der Sichtbarkeit, als Bedingung der Möglichkeit der wahren Welt an sich; der sittlichen Erkenntnis geht dabei in der Synthese der gegenwärtigen mit der zukünftigen Welt auf, d.h. im Zusammenhang beider.

Der formale sittliche Wille seine Pflicht zu wollen ist gegenwärtig immer möglich; er ist in dieser Gestalt ewig; Das Gesetz selbst aber, in seinem Inhalte, muss erst durch dieses Leben ausgemittelt werden.4

(c) Franz Strasser, 6. Mai 2023 (bitte wieder die unterschiedlichen Formatierungen zu entschuldigen; der Editor macht, was er will. 

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1Zur sittlich gewollten Realität siehe z. B. R. Lauth, Ethik, 1969, S 61 – 66.

2R. Lauth, ebd., S 66 – 83. Es bedarf hier genauester Differenzierungen, wie Interpersonalität als sittlicher Wert zustande kommt, nämlich im Modus der Aufforderung, wie der sittliche Zweck universal und total gemeint ist, wie durch die absolute sittliche Forderung eine Zweckhierarchie entsteht, wie dann der geistige Akt durch den sittlichen Wert auf die konkrete Interperson zurückwirkt, wie von der Universalität und Totalität auf die Individualität der Person wieder abgestuft wird. Diese einzigartige Systematik nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre leitet bei R. Lauth schließlich zur Bewältigung des Bösen und Unsittlichen durch eine positiven Offenbarung über, d. h. zur Satisfaktion und sittlichen Erfüllung. Der bei Fichte im letzten Teil der SL-1812 künstlich wirkende „Anhang“ erhält bei R. Lauth somit die nötige Fundierung und genetische Ableitung.

3 G. Cogliandro spricht dann davon, dass dies eine paradoxe Situation für die Erscheinung ergibt, „sie ist eine einzelne Erscheinung, insofern sie Bild des Absoluten ist, aber diese Einheit konkretisiert sich nur in einer Gemeinschaft, der ganzen Gemeinschaft von Individuen.“ (ebd. S 167).(…) Imago Dei kann die Erscheinung nur sein, wenn sie die Einzelerscheinungen des Lebens vereinigt, die dem Begriff seinen Inhalt liefern, d. h. die Individuen. Man kann geradezu sagen, dass das Individuum nur durch die Selbstverständigung in der Gemeinschaft ein Ich wird. Nicht zufällig verwendet Fichte in diesem Zusammenhang den Ausdruck »großes allgemeines Ich«“.

4Verweis auf die „Thatsachen des Bewusstseins“ von 1811, StA -II, wo von vielen Welten die Rede ist, sofern nur auf die je individuelle Anschaubarkeit des Endzwecks geschaut werden sollte. Durch den sittlichen Begriff der Einheit der Iche kann aber nur von einem Endzweck der Welt und einer Welt gesprochen werden.

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser