Die Infinitas des absoluten Solls und die Unendlichkeit der Freiheit nach der WL 1811

WL 1811 – Studientextausgabe Frommann-Holzboog, fhs Bd. 2., hrsg. v. Hans Georg Manz, Erich Fuchs, Reinhard Lauth und Ives Radrizzani, Stuttgart-Bad Canstatt 2003, 1- 281.

In diesem Zusammenhang der WL 1811 kann  ein angemessener Sinn von „Unendlichkeit“ und generell die offene! Konzeption der Transzendentalphilosophie nach FICHTE gewonnen werden. FICHTE insistiert immer wieder auf diese „Unendlichkeit“, die nicht aufgegeben werden darf, ansonsten endliches Bewusstsein nicht möglich wäre. Was ist damit gemeint? Es sei angeknüpft an die WL 1810 bzw. deren „UMRISS“ :
In Rücksicht auf das absolute Soll kann von einem „unendlichen Hinschauen oder Schematisieren“ gesprochen werden.

Es ist (§.5.) ein Vermögen des Hinschauens, und zwar ohne die Richtung auf das Eine göttliche Leben, die auf diesem Standpuncte verborgen bleibt, ein unbestimmtes und durchaus ungebundenes, jedoch absolutes Vermögen, also ein unendliches. Es schematisirt sich darum als hinschauend ein Unendliches in einem Blicke (den Raum); sich schematisirt es also, demnach als in derselben ungetheilten Anschauung sich zusammennehmend und zusammenziehend auf ein in der ersten Unendlichkeit Begrenztes, in sich selber gleichfalls unendlich Theilbares, einen verdichteten unendlichen Raum, in einem anderen einfachen unendlichen Raume, oder Materie; — auch hier als ein unendliches Vermögen, sich zusammenzuziehen, und so eine unbegrenzte materielle Welt im Raume: welches Alles nun zufolge des angeführten Grundgesetzes des |Wissens (§.5.) ihm als ein wirklich und an sich daseyendes Seyn erscheinen muss. (UMRISSE, 1810. SW II, 700.701)

Gerade weil das Soll ein sittliches Prinzip ist, Quelle der Realität, erweist sich das Soll als die im Vermögen der Freiheit liegende unerschöpfliche Wertfülle. Es ist in doxischer Hinsicht immer mehr als das, was das freie Vermögen wählen kann. Die Vollziehung der Freiheit kann das unbedingte Sollen nie restlos erfüllen, d. h. gänzlich erschöpfen, was aber nicht heißt, dass es formal unbestimmt wäre, denn  das Soll ist als „fortdauerndes Erscheinen Gottes in der Freiheit“ wesensmäßig bestimmt und qualitativ vollkommen.

M. IVALDO drückt das so aus: „(eine) absolute Differenz (eine Transzendenz) des Sollens dem Ganzen der Freiheitsvollzüge gegenüber und ein Spannungsverhältnis zwischen dem absoluten Soll und dem „Kann“ der Freiheit (lässt sich) feststellen.1

„Das ist der Faktor, der die Freiheit zu einem „unendlichen Machen“ treibt.“ (WL 1811, fhs Bd. 2, ebd. 137.139 u. a.)

„Das Seyn verwandelt in der Freiheit sich in ein Soll“ (ebd. 138). „(es entsteht eine) Dreifache Ansicht des soll. 1.) absolut: 2) in der Freiheit überhaupt, (da ist es ein) muß einer Unendlichkeit. 3) in der Einheit: (da ist es) soll einer Mannigfaltigkeit, die mit dem kann zusammenfällt.-. Der zweite Punkt als der vereinigende (ist) der bedeutenste.“ (WL 1811, fhs, Bd. 2. ebd. 139)

Die Freiheit wird, aufgrund dieses immerwährenden Spannungsverhältnisses zum unendlichen Vollziehen getrieben, dessen was sie kann, (nämlich) des Machens eines Schemas. (vgl. WL 1811, ebd. 139f) In dieser Hinsicht zeichnet sich das Sichvollziehen der Freiheit als ununterbrochenes Entwerfen und Anwenden von Schemata (=praktischen Bestimmungen, Idealen, Zwecken) aus, die das absolute Soll (=praktisch-doxische Idee) zum Ausdruck bringen (wollen), ohne es in dessen Wertfülle je erschöpfen zu können.

FICHTE fĂĽhrt in der WL 1811 aus: „Jenes (absolute Soll-)Schema ist (…) fĂĽr die Freiheit eine unendliche, nie zu erreichende Aufgabe, der sie sich noch nicht einmal, wie manche sich ausgesprochen haben, annähern kann (vgl. auch SITTENLEHRE v. 1798 GA I, 5, 141), sondern die nach aller Unendlichkeit eben so unendlich bleibt, als sie im Beginn war.“ (WL 1811, ebd. 138)

Mit R. LAUTH gesprochen: Die spezifische infinitas, die dem absoluten Soll zukommt, besteht genaugenommen in der „absoluten Wertfülle und der damit gegebenen Kraft der absoluten Selbstrechtfertigung.“ 2 Die Differenz dieser Infinitas des Sollens gegenüber dem unendlichen Schematisieren der Freiheit ist nie abzuschwächen.

FICHTE  bestimmt deshalb den Begriff der Unendlichkeit wie folgt: „Synthesis der Bejahung der absoluten Endlichkeit mit der Verneinung derselben“ (WL 1811, ebd. 140) 
Das Spannungsverhältnis zwischen Sollen und Können ist das freie Schematisieren. Schematisieren ist Erstellen eines Faktums, das endlich ist – in diesem Sinne wird die Endlichkeit bejaht; es ist aber auch ineins damit Verneinung desselben, indem es „nach jedem geendigten Faktum ein andres Faktum (vollzieht), das eben auch sein Ende erreichen wird, u. so ins unendliche fort“.

Unendlich ist somit „die Erscheinung als faktisches Princip“ (ebd. 141), nämlich als praktische Synthesis, als ununterbrochenes „Bilden“ von Fakten bzw. Schemata, die an sich fertig sind und für die darauffolgenden offen bleiben müssen. Transzendental angesehen ist die Wirklichkeit eine prinzipiell offene Freiheitsbildung – faktisch unendlich – und kann durch schöpferische Freiheitsleistungen im Lichte des absoluten Sollens immer wieder erweitert und bereichert werden.3

Reines und faktisches Soll

Das absolute Soll beansprucht wesensmäßig durch das freie Schematisieren in der Faktizität als wirklichkeitsbildendes Prinzip aufzutreten. Das verlangt, dass das Soll nicht nur als ein „reines Soll“, sondern auch in der Form eines „faktischen Soll“, erscheinen muss. Aus dem Zusammenwirken beider im Handeln des Ich treten die höheren Sphären der Wirklichkeit hervor, die als solche dem bloß Faktischen gegenüber etwas schöpferisch Neues in die Erscheinung bringen. Dies hat nochmals erhebliche Konsequenzen in der Wirklichkeitsauffassung:

M. IVALDO bezeichnet das faktische Soll als die „elementare Äußerung des absoluten Soll in der Sphäre des Ich.“ 4 Es ist ein „Princip“ (WL 1811, fhs Bd. 2, ebd. 223ff), welches z. B. die Form des „Naturtriebs“ (ebd. 225) jetzt wiederum klarer definiert. Als ein solches Prinzip ist das faktische Soll faktisch bedingend, obwohl nicht durchbestimmend, die Erscheinung des reinen Soll. „Das ganze faktische soll, faktisch absolut, ist dennoch nicht absolut in Beziehung auf das ideale des soll: es soll nicht seyn schlechtweg, sondern es ist nur darum da, um Ausdruk zu werden des absoluten Soll, des unendlichen Bildes Gottes. Das Princip kann sich erheben zum seyn des Bildes“ (ebd. 227)

Die faktische Wirklichkeit liefert einerseits die Grundlage fĂĽr das Erscheinen der geistigen Wirklichkeit; andererseits zeigt sich das reine Soll als der bestimmende Faktor.

Das Soll ist Zweck, und zwar nicht ein beliebiger Zweck, sondern ein solcher, der sich als durchaus wertvoll und ineins damit als absolut sinnstiftend erweist. Demzufolge ist das Faktische da. Die Welt als Sinnen- und Individuenwelt ist da, um die teleologische unhintergehbare Bedingung anzubieten, damit „das erscheine(,) was erscheinen soll“ (ebd. 223) „ das faktische Urbild Gottes“, die „Sittlichkeit“ im höheren Sinne. (ebd. 223)

In der Sicht einer interpersonalen Letztbegründung der WL und nach M. IVALDO kann nur die sittlich-religiöse Interpersonalität gemeint sein, die die Rechtsgemeinschaft zugleich voraussetzt und transzendiert. 5

Vom transzendentalen Standpunkt ist es sehr wichtig, wie M. IVALDO weiter ausführt, sich das reine Soll und das faktische Soll nicht in einfacher Wechselwirkung stehend vorzustellen, denn es müsste dann dogmatisch behauptet werden, wer was wann bestimmt. „Keineswegs“ sagt FICHTE(ebd. 223). Die Lage ist bestimmt durch das reine Soll. Allein durch das absolute Soll, welches schlechthin selbstbestimmend ist, kann die wert- und sinnstiftende Bestimmung der sinnlichen und interpersonalen Welt behauptet werden. Realität und endgültigen Stellenwert erhält alles erst innerhalb der Erscheinung des Erscheinens des absoluten Seins.

Für die Idee der Praxis kommt es deshalb jetzt zu einer je individuellen Aufgabe: „In jedem spricht in jedem Augenblicke ein soll sich aus für sein Verhältniß zur Sinnenwelt, zur IndividuenWelt, zur Unendlichkeit der Zeit.“ (ebd.)

Jedes Individuum ist vom Bewusstsein des kategorischen Gesetzes durch und durch konstituiert, welches sich nicht abstrakt-allgemein, sondern immer in Bezug auf die jeweilige Situation ausspricht. Dieses individuelle Bewusstsein erhält seine konkret-konkrete Bestimmtheit „lediglich aus seiner Synthesis mit dem faktischen Schematismus“ (ebd. 227).

Das absolute Soll, das an sich „schlechthin rein und Eins“ (ebd.) ist, muss mit dem faktischen Soll vermittelt werden, um „qualitative Gehalt, sowie Unendlichkeit“ (ebd.) zu bekommen. Durch den faktischen Schematismus werden jene praktischen Vorstellungen herausgebildet, die die doxische Idee in der Zeit zum Ausdruck bringen und sie in die Tat umsetzen. „Ein Handeln des Individuum wird notwendig durch das faktische Soll gebildet, wenn damit das reine Soll ausgedrükt werden soll“ (ebd. 230).

© Franz Strasser, 6. 1. 2008

1Vgl. IVALDO MARCO, Die konstitutive Funktion des Sollens in der Wissenschaftslehre,

in: FUCHS ERICH / IVALDO MARCO / MORETTO GIOVANNI [Hrsg.], Der transzendental-philosophische Zugang zur Wirklichkeit. Beiträge aus der aktuellen Fichte-Forschung. Spekulation und Erfahrung. Frommann-Holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, 107-128

2R. LAUTH, Descartes` Konzeption des Systems der Philosophie, Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, S 41.

3Vgl. M. Ivaldo, ebd., 124. Es ist für mich immer wieder faszinierend, welche Prägnanz und Pointiertheit FICHTE durch die genauer epistemologische Bestimmung der Begriffe zu gewinnen vermag. Es zeigt sich z.B. hier, dass für den faktischen Bereich der Wirklichkeit unendlich viele Freiheitsbestimmungen möglich sind. Eine ständig schöpferische Freiheitsleistung im Entwerfen von (induktiven) Gesetzen, Regeln der Anwendung im sinnlichen Bereich, geistige Inspirationen, Intuitionen, Rechtsverhältnisse, sittliche Werte, religiöse Äußerungen im praktischen Bereich – alles Faktische muss zuerst prinzipiell eröffnet werden. 

4M. IVALDO, ebd. 125.

5Vgl. M. IVALDO, ebd. 126. Was IVALDO mit der „sittlich-religiösen“ Interpersonalität genau meint, mĂĽsste jetzt differenziert werden. Ist nur die allgemeine Form eines religiösen und liebenden Zusammenschlusses von Vernunftwesen gemeint, oder muss dieser ordo ordinans einer göttlichen Liebe explizit geschichtlich durch eine positive Offenbarungsreligion begrĂĽndet und durch eine kirchliche Gemeinschaft kontinuiert werden? Da die Freiheitsentscheidungen fĂĽr sich stets eine  geschichtliche Bindung abgeben, muss sowohl die positive Offenbarung wie deren kirchliche Universalisierung geschichtlich und sinngebend  erfolgen – m. E.  

Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser