Das seiende Trugbild, SOPHISTES, 231d – 239d 1. Teil

Ich folge hier Vorlesungen von Dr. Franz Bader, München 2008?1. Er hat mir Platon spannend und lebendig gemacht. Aufrichtigen Dank.

Das Wort von A. N. Whitehead (1861-1947) ist ja bekannt, dass die philosophische Tradition Europas nichts als eine »Reihe von Fußnoten zu Platon« sei (PR, 39 / 91). Nur muss man halt Platon auch lesen und auslegen können!

Die sophistischen Diskussionen von damals wiederholen sich: Die Erkenntnis gehe von den Sinnen aus, die zeitliche Existenz komme vor dem unzeitlichen Wesen, die Wahrheit sei bloß historisch usw.
Rationalistische, sensualistische, nihilistische Theorien bedrängen unser Leben. Platon und die Transzendentalphilosophie sagen hier etwas ganz anderes: Es gibt Wahrheit und und in jeder Aussage erheben wir den Geltungsanspruch von Wahrheit. Diesem reflexiven Begriff entzieht sich keine Rede. Die Frage ist nur, ob sich eine Aussage auch zu bewähren vermag, oder ob es bloß zu Scheinaussagen von Wahrheit kommt – so wie der Sophist im Dialog Platons es versucht. 
 Platon hat hier sagenhafte Gedanken ausgesprochen, die nichts von ihrer Aktualität verloren haben, vorausgesetzt, man vollzieht  die platonische „Standpunktreflexion“ (Bader) mit.

Der Sophist (von damals oder heute) ist schwer zu fassen, dieser „wohlbelohnte Nachsteller“, „Großhändler“, „Krämer“, „Kunstfechter im Streitgespräch“. Er wirft anderen Widersprüchlichkeiten vor, dass das Sein ein Schein sei, dass man nichts sicher wissen kann, aber implizit erhebt er damit selbst einen Geltungsanspruch und setzt ein unwandelbares Sein voraus. Platon muss das furchtbar gestört haben, deshalb hat er diesen wunderbare Dialog „Sophistes“ geschrieben. Selbst in der Negation wird implizit ein Sein behauptet, und jede Scheinerklärung baut auf Sein auf, auch das behauptete Nichtseiende ist seiend, und dies sogar im Konkreten! Der Sophist muss den Geltungsanspruch auf Wahrheit und Sein zugeben, wenn er sich nicht selbst aufheben will. Die Behauptung des Nichtseins oder Nicht-Gültigseins gibt es nicht, wie Parmenides dem „Fremden“ (=Platon) unermüdlich eingeschärft hat, das Sein wird immer behauptet. Bei Platon aber jetzt weitergedacht: das Sein wird nicht nur allgemein behauptet, sondern reflexiv im Wissen und konkret behauptet.

Aus: PLATON, SOPHISTES, 231d – 239d 1. Teil

FREMDER: Zuerst laß uns etwas stillstehn und ausruhen, und

S231d laß uns bei uns selbst zusammenrechnen, indem wir ausruhen, als wie vielerlei uns der Sophist erschienen ist. Ich glaube, zuerst wurde er gefunden als reicher Jünglinge wohlbelohnter Nachsteller.

THEAITETOS: Ja.

FREMDER: Zweitens war er ein Großhändler für die Seele vorzüglich mit Kenntnissen.

THEAITETOS: Richtig.

FREMDER: Und zeigte er sich nicht drittens als ein Krämer mit eben diesen?

THEAITETOS: Ja, und viertens war er uns doch ein Eigenhändler mit Kenntnissen.

FREMDER: Richtig erinnert. Das fünfte will ich versuchen

S231e anzuführen. Aus der Kampfgeschicklichkeit wurde er nämlich als ein Kunstfechter im Streitgespräch abgesondert.

THEAITETOS: Das war er.

FREMDER: Das sechste war freilich zweifelhaft; doch haben wir es ihm eingeräumt und sagen, er sei der von Meinungen, welche in der Seele den Kenntnissen im Wege stehn, reiniget.

THEAITETOS: Auf alle Weise.

S232a (….)

FREMDER: Wir sagen doch, er sei ein Künstler im Streitgespräch.

THEAITETOS: Ja.

FREMDER: Nicht auch, daß er eben hierin ein Lehrer werde für andere?

THEAITETOS: Unbedenklich.

FREMDER: So laß uns denn sehen, worin denn solche Leute sich rühmen, andere streitbar zu machen im Gespräch. Unsere Untersuchung aber gehe von Anfang an

S232c so. Zuerst über göttliche Dinge, wie sie den meisten verborgen sind, setzen sie sie doch in Stand sich zu streiten?

THEAITETOS: Gesagt wird das ja von ihnen.

FREMDER: Und was offenbar ist auf der Erde und am Himmel, auch darüber?

THEAITETOS: Allerdings.

FREMDER: Aber auch in geselligen Versammlungen, wenn vom Werden und Sein im Allgemeinen gesprochen wird, wissen wir doch, daß sie selbst gewaltig

sind im Widersprechen, und daß sie auch die andern tüchtig machen in dem, was sie selbst sind.

THEAITETOS: Auf alle Weise.

S232d FREMDER: Und über Gesetze und alle Staatsangelegenheiten versprechen sie nicht, sie streitbar zu machen?

(….) ——

FREMDER: Was ich aber damals noch unentschieden ließ, in welche von beiden der Sophist zu setzen sei, das kann ich auch jetzt noch nicht bestimmt sehen.

S236d Aber der Mann ist eben wahrlich rätselhaft und schwer zu erkennen; denn auch jetzt ist er gar schön und schlau in einen höchst schwierig zu erforschenden Begriff hineingeschlüpft.

THEAITETOS: Das scheint er.

FREMDER: Bejahest du das aus eigner Einsicht, oder hat dich nur gleichsam die Welle der Rede, wie du es schon gewohnt bist, mit fortgerissen, so schnell beizustimmen?

THEAITETOS: Wieso und weshalb fragst du das?

FREMDER: In Wahrheit, du Guter, wir befinden uns in einer höchst schwierigen

S236e Untersuchung. Denn dieses Erscheinen und Scheinen ohne zu sein und dies Sagen zwar, aber nicht Wahres, alles dieses ist immer voll Bedenklichkeiten gewesen schon ehedem und auch jetzt. Denn auf welche Weise man sagen soll, es gebe wirklich ein falsch Reden oder Meinen ohne doch schon, indem man es nur ausspricht, auf alle Weise in Widersprüchen befangen zu sein, dies, o

S237a Theaitetos, ist schwer zu begreifen.

THEAITETOS: Wieso?

FREMDER: Diese Rede untersteht sich ja vorauszusetzen, das Nichtseiende sei. Denn sonst gäbe es auf keine Weise Falsches wirklich. Parmenides der Große aber, o Sohn, hat uns als Kinder von Anfang an und bis zu Ende dieses eingeschärft, indem er immer ungebunden sowohl als in seinen Gedichten so sprach.

Nimmer vermöchtest du ja zu verstehn, sagt er, Nichtseiendes sei,

sondern von solcherlei Weg halt fern die erforschende Seele.

S237b So wird es von ihm //III248// bezeugt, vor allem aber muß es gewiß die Rede selbst zeigen bei gehöriger Prüfung. Dies also laß uns zuerst betrachten, wenn es dir nichts verschlägt.

Nach anfänglichen Beschreibungen eines Sophisten nach außen hin (Nachsteller reicher Jünglinge, Großhändler, Krämer, Kunstfechter im Streitgespräch usw. siehe 231c ff) nähert sich PLATON dem eigentlichen Kernproblem, einen Sophisten in seinem Wesen zu definieren und ihn in seinen Scheinaussagen zu widerlegen.

Mir geht es hier um den systematischen Kern des Philosophierens von Platon selbst, um Grundaussagen seiner Ideenlehre. Die eigentliche Bestimmung und Definition des Sophisten lasse ich außen vor; dies folgt vor allem im Schlussteil, wenn PLATON zur Unterscheidung der hervorbringenden Künste schreitet, zur zweifellos interessanten Bildlehre, und die Trugbildnerei des Sophisten entlarvt und schließlich sogar eine zusammenfassende Definition des Sophisten gibt. (Abschnitte 44 -52 nach der Einteilung von Schleiermacher)

Die Bildlehre ist ebenfalls ein Gesichtspunkt der Interpretation des „Sophistes“, doch zeichne ich, wie beabsichtigt, nur wenige Grundzüge der Ideenlehre PLATONS nach, weil die starken Parallelen zur späteren Transzendentalphilosophie KANTS und FICHTES auffallend sind.  (4. Teil endet bei 249a)
Letztlich können die großartigen Reflexionen eines PLATON nur transzendentalphilosophisch verstanden werden, d. h. als die im Denken notwendig aufzufindenden Wissensprinzipien und apriorischen Begriffe, sobald man konsequent zu philosophieren beginnt. Der Sophist leugnet sie. PLATON wird ihn deshalb eines inneren Widerspruchs überführen.

1) Das Schein und das Falsche kann es eigentlich nach bisheriger Philosophie des PARMENIDES nicht geben. Mit welchem Begriff operiert dann der Sophist, der vom Nicht-Seienden und der Verneinung und Negation spricht?

Die große, neue Erkenntnis, die PLATON in diesem Dialog vorbringen wird, wird lauten: das Nicht-Sein hat doch ein Sein und kann als ein bestimmtes Sein definiert werden. Der Schein hingegen ist nach bisherigem Stand der Diskussion, wenn man den PARMENIDES wörtlich nimmt, eigentlich nichts, ist ein Trugbild. Aber wenn er ein Trugbild ist, so jetzt die weitere Explikation und die Weiterführung PLATONS gegenüber PARMENIDES,  er ist ein seiendes Trugbild, und deshalb hat der Sophist zu einem gewissen Grad sogar Recht.  

Die Scheinvorstellung (Trugvorstellung) eines Sophisten geht aber dann dahin, dass der Schein mit positiven Elemente der Wirklichkeitskonstitution überbesetzt wird. Der Sophist, wenn er seine Position verabsolutiert, bekommt dann doch Unrecht, denn er kann seine Position nicht durchhalten und in „Wahrheit“ realisieren, denn es tauchen dann Widersprüche auf: Im Schlussteil wird deshalb PLATON den Sophisten ausführlich als diesen „Trugkünstler“ entlarven – siehe besonders Abschnitt 51. 

Die nachbildnerische Kunst wird im Gang der Diskussion des „Sophisten“ vorausschauend schon einmal eingeteilt in Ebenbildnerei und Trugbildnerei (Abschnitt 23, 235a). In welche Gattung der Sophist zu setzen ist, bleibt vorerst noch offen. Denn er ist schwer zu fassen.

Wenn man einen Sophisten als Scheinkünstler, als Trugkünstler usw. entlarven will, verwendet man bereits eine Bestimmung von ihm, meistens eine Negation und Verneinung, die, nach bisherigem philosophischen Stand des Wissens nach PARMENIDES, von der Einheit des Seins gar nicht ausgesagt werden kann. Also kann ein Sophist gar nicht definiert und widerlegt werden? Er entzieht sich einer Wesensdefinition und einer Kritik, weil er ja gar nicht vom Seienden spricht?

Der „Fremde“ – sozusagen der von außen kommende Gelehrte – soll das klären.

Dieses „Scheinen und Erscheinen ohne zu sein, dieses Sagen zwar, aber nicht Wahres“ (236e), soll aufgedeckt werden.

2) PLATON wird den Sophisten auf seine widersprüchliche Rede und seine Trugbilder festnageln. Er bringt dafür eine revolutionär neue Weiterführung der Lehre von der Einheit des Seins, die PARMENIDES vortrug – „ohne ihm Gewalt anzutun“. (241d)

Die Bedenklichkeiten beim Sophisten (A-porien, wohin es keinen Weg gibt) sind gegeben, aber wie ihn jetzt genau widerlegen?

Theaitetos – mit dem es bereits einen gleichnamigen Dialog gibt – ist Gesprächspartner des Fremden.

Dass es das Falsche wirklich gibt (mit dem Hintergrund des Scheinkünstlers eines Sophisten), soll nachgewiesen werden, aber man verheddert sich sofort in viele Widersprüche (236e).

Also muss irgendwie erwiesen werden, wie das Nicht-Seiende doch ist.

Welche Qualität haben die Scheinmeinungen der Sterblichen?

Der Schein hat auch ein bestimmtes Sein! Darauf will PLATON hinaus.

Das Leitende ist dabei der „logos“, die Rede, das Vernunftargument.

237b (…) THEAITETOS: Mir, glaube nur, sei alles genehm, wie du willst, und wie die Rede sich am besten durchführen läßt, so gehe du bei der Untersuchung, und führe auch mich desselben Weges.

FREMDER: Das soll geschehen. Sage mir also, das auf keine Weise Seiende, das unterstehen wir uns ja doch irgend auszusprechen.

Hier hat man expressis verbis die „Standpunktreflexion“ (F. BADER), die PLATON in die Philosophiegeschichte einbringt. Was hat der in Ansatz gebracht, der vom Nicht-Sein spricht? Vom Logos-Begriff her gibt es ein apriorisches Vorwissen, wodurch jede Rede auf die Bedingungen der Wissbarkeit hinterfragt werden kann. Was ist die Bedingung der Wissbarkeit des Redens – auch für den Sophisten, wenn er vom Nicht-Seienden spricht?

THEAITETOS: Warum denn nicht?

FREMDER: Nicht meine ich Streitens wegen oder zum Scherz, sondern wenn

S237c einer von den Zuhörern ernsthaft überlegend zeigen sollte, wo man dieses Wort anzubringen hat, das Nichtseiende, glauben wir, daß er selbst, wozu und wobei er es zu gebrauchen habe, wissen und es dem Fragenden würde zeigen können?

Diese „Standpunktreflexion“ kann am besten mit der Schule der Transzendentalphilosophie in Beziehung gebracht werden: Mit KANT wird nicht in intentio recta auf einen Gegenstand zugegangen, sondern zuerst wird die Aufmerksamkeit (die Reflexion) auf den eigenen Wissensakt gerichtet (intentio obliqua) – und durch die eigenen Wissensform hindurch wird das Wissen von der Einheit mit dem Gegenstand ausgesagt. Alle Vorstellungen von der Außenwelt stehen somit zuerst und primär in einem korrelationalem Zusammenhang mit diesem Akt des Wissens selbst. Auch ein Sophist rekurriert auf eine Form des Wissens, wenn er vom Nicht-Seienden spricht. Eine Bestimmung des Seins, wie sie PARMENIDES ja eindeutig betonte und herausarbeitete, setzt  ein reflexives Vermögen der Bestimmung voraus, wodurch die Reflexion als ein wissendes Handeln auf ein Handeln bezeichnet werden kann, von dem auch der „Sophist“ nicht abstrahieren kann. PLATON entdeckt hier diese Form des Bewusstseins und Selbstbewusstseins, mithin dieses Handeln des Geistes, worin der Begriff einer Sache auf seine vollkommene Idee hin erkannt und realisiert wird. 

(…) S237d FREMDER: Das ist uns doch auch deutlich, daß wir dieses Wort »Etwas« jedesmal von einem Seienden sagen. Denn allein es zu sagen, gleichsam nackt und von allem Seienden entblößt, ist unmöglich. Nicht wahr?

THEAITETOS: Unmöglich.

FREMDER: Und gibst du wohl mit Hinsicht hierauf zu, daß, wer etwas sagt, wenigstens ein Etwas sagt?

THEAITETOS: Gewiß.

FREMDER: Denn das Etwas, wirst du sagen, ist das Zeichen für eines, das etwelche oder einige dagegen für viele.

THEAITETOS: So ist es.

S237e FREMDER: Wer daher nicht einmal etwas sagt, muß ganz notwendig, wie es scheint, ganz und gar nichts sagen.

THEAITETOS: Ganz notwendig freilich.

Das Nicht-Seiende konnte als Bestimmungsmoment vormals nicht verwendet werden – und doch wird es verwendet, so jetzt der weitere Argumentationsgang. Wer etwas sagt, sagt wenigstens ein bestimmtes Etwas als Inhalt.  Wer nicht etwas sagen will, der müsste eigentlich schweigen!

FREMDER: //III249// Dürfen wir nun etwa auch das nicht einmal zugeben, daß ein solcher zwar rede, er sage aber eben nichts, sondern müßten sogar leugnen der Rede, der sich unterfängt, das Nichtseiende auszusprechen?

THEAITETOS: Dann hätte doch alle Not mit dieser Sache ein Ende.

S238a FREMDER: Noch tue nicht groß. Denn es ist noch eine Not hierin zurück, und zwar leicht die erste und größte, denn sie betrifft den ersten Anfang der Sache selbst.

THEAITETOS: Wie meinst du? sprich, und halte nichts zurück.

FREMDER: Einem Seienden könnte wohl ein anderes Seiendes zukommen.

THEAITETOS: Unbedenklich.

238a FREMDER: Wollen wir aber auch zugeben, es sei möglich, daß dem Nichtseienden irgend Seiendes zukäme?

THEAITETOS: Wie sollten wir!

FREMDER: Alle Zahl insgesamt setzen wir doch als seiend?

Hier kommt das Setzen herein, die ursprüngliche und erste Handlung des Geistes selbst. Schon „alle Zahl“ setzen wir.

THEAITETOS: Wie sollten wir!

FREMDER: Alle Zahl insgesamt setzen wir doch als seiend?

(Fortsetzung im download als pdf-Datei, da die griechische Schrift hier in WordPress falsch angezeigt wird- Link)Sophistes 231d – I. Teil Fortsetzung  

(c) Franz Strasser, April. 2017

1Ganz genau kann ich es nicht mehr sagen, wann ich diese Vorlesungen besuchte, etwa im Jahre 2012.

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser