Zur Bedeutung der Dialektik 2. Teil

1)  Der Idealismus oder Rationalismus, der anmaĂźend eine höchste Einheit der Erkenntnis behauptet, kann genetisch nicht zu der Vielheit der Erscheinungen ĂĽbergehen – am konsequentesten war hier SPINOZA – weil er kein Gesetz der Dialektik und des Ăśbergehens kennt; und umgekehrt, der Naturalismus oder Empirismus kann nicht erklären, wie aus sogenannter „Materie“ ein Ăśbergang zum Bewusstsein und ein Ăśbergehen zur Einheit einer Vorstellung möglich sein soll. Erkenntnistheoretisch vollbringt die Theorie des Materialismus ständig das KunststĂĽck, subreptiv aus einem faktischen hoc oder post hoc in der Erscheinung ein zu denkendes propter hoc zu erzeugen. Das positive Sein der materiellen Gegebenheit wird zur SichbezĂĽglichkeit des Wissens verwandelt, möglichst im mikroskopischen Bereich, worin die Ăśbergänge nicht mehr klar sichtbar sind.  Die Analytische Philosophie schlieĂźlich ĂĽbernimmt m. E. unkritisch und undialektisch die Elemente und Gebrauchsweise der Sprache, als vermittle a) die Sprache von selbst alle formalen und inhaltlichen (semantischen) Bedeutungen der Aussagen und b) löse sie selbst die Referenzprobleme von Sprache und Welt. Sie kennt aber keine transzendentalen Bedingungen der Wissbarkeit der sprachlichen Zeichen.
Der Evolutionismus schlieĂźlich, noch realistischer, kennt ĂĽberhaupt keine Ableitung der apriorischen Anschauungsformen und keine apriorischen Begriffe der Synthesis von Empirie und Geist, sondern jede Erkenntnis ist evolutionär gebildet, aber damit selbst evolutionär ĂĽberholbar und vergänglich, also praktisch ohne Selbsterkenntnis. Es wird nichts mehr aus logischen Zusammenhängen erklärt, sondern es verschwimmt alles in evolutive Zufälligkeiten, in  zufällige chemische Ereignisse, in zufällige Arten  durch Mutation und Selektion, und zufällig ist dann diese „zufällige“ Erkenntnisart selbst.  

2) Die Dialektik als Vereinigung der Gegensätze (in formaler, nicht materialer!  Hinsicht, mittels Vermögen der Einbildungskraft) ist in der GRUNDLAGE von 1794/95 bis Ende des § 4 in logisch-theoretischer Weise nachkonstruiert. Das logisch ausschlieĂźende und einschränkende Verfahren der dialektischen Bestimmungen werden ab § 5 auch auf den praktischen Teil des  Handelns und Wollens ĂĽbertragen – und von dort her, vom „Streben“ begrĂĽndet und gerechtfertigt. Ich lasse hier Platon sprechen, was die Erkenntnis der Idee des Guten bedeutet:    „(…) aus wirklicher Lebensgemeinschaft wird es im Nu, wie sich aus einem springenden Punkt ein Licht entfacht, in der Seele erzeugt, und siehe da! schon nährt es sich aus sich selbst“ (Platon, Siebenter Brief, 341c-d.)

In der  Terminologie FICHTES: Das dialektische Bilden der Einbildungskraft und des Verstandes ist ein freies Sichbestimmen mit Bezug auf Wahrheit als höchster Wert und bedeutet vom praktischen Handeln her ein intentionales Bezogensein auf ein unbedingtes Soll der Wahrheit und des Guten. M. a. W., die praktische Soll-Bestimmungen einer geforderten Übereinstimmung von Ich und Nicht-Ich wird im Vorstellungstrieb geschlossen, im praktischen Streben darf sie material nicht geschlossen werden, andernfalls das innere Leben und alle innere Kraft (im Triebe) und die freie Reflexion, generell Freiheit,   erlöschen würde.

Die Vorgabe der Ăśbereinstimmung und Einheit des Wissens ist genetisch im „Ich“ geschlossen, Reflexion heiĂźt Sich-Wissen, und eröffnet so die Freiheit theoretischer Erkenntnis und praktischen Wollens, d. h.  ermöglicht Freiheit des Erkennens und Handelns hin auf Rechtfertigung durch einen absoluten Geltungsgrund. 

Bekanntlich kann eine pragmatische oder Analytische Philosophie, wie sie im angelsächsischen Bereich verbreitet ist, die Tür von deskriptiven Ist-Sätzen zu präskriptiven, ethischen  Soll-Sätzen nicht mehr auftun, weil sie prinzipiell schon zu spät kommt, wenn nicht von vornherein die konstitutive Bezug zum Soll der Wahrheit und des Guten besteht, bzw. kommt sie auch zu spät, die Wahrheit deskriptiver Sätze in einem tieferen Sinn der Wahrheit und des Sinns zu begründen.

3) Damit möchte ich noch kurz eingehen auf den Begriff des Sinns, der in allem Erkennen und Wollen zum Tragen kommt – und ebenfalls am besten nur dialektisch erfasst werden kann:

Wir sind als bildende Wesen nicht nur auf sinnliche Natur bezogen, auf sinnlichen Anstoß und Hemmung, sondern ebenso auf interpersonalen Anstoß und auf geschichtliche Sinn-Zusammenhänge. Wir erstellen nicht nur empirische Skalen der Naturvermessung und Gefühlseindrücke, sondern ebenso zusammenhängende Reihen von Geschichts-Erklärungen, wie etwas zu einem Faktum geworden ist, wie wir etwas bewerten möchten, wie wir etwas in Zukunft handhaben wollen. Wir sind immer in Verantwortung gegenüber Natur und Geschichte gestellt, sodass wir existentiell ständig die Sinn-Frage stellen: Was tun mit dem Faktum, wie es interpretieren, wie weitertun usw. Mit einem Wort: Die Sinn-Idee ist konstitutiv für das transzendentale Fragen nach dem Wie der Erkenntnismöglichkeit und dem Was des Tuns. Ich beziehe mich hier auf  Vorlesungen von R. LAUTH bzw. auf diverse Bücher von ihm. Die Sinn-Idee kann nicht relativiert oder geleugnet werden, denn konstitutiv ist die menschliche Vernunft auf Sinn und Erfüllung (in jedem Naturerlebnis, aber auch in Zeit und Geschichte) hingerichtet.  Die Erkenntnis der Sinn-Idee und damit in Negation dazu die  Sinn-Widrigkeiten können, wenn argumentativ und philosophisch eine Auskunft gegeben werden soll, was ist und was sein soll, ebenfalls nur  dialektisch erfasst werden.

Das bildende Vermögen des „Ichs“, der „Ichheit“ – dann faktisch gesehen als individuelles Ich – muss sich ĂĽber die Appositionsfolge  der Zeit und des Raumes und ĂĽber das Denken in  Identität durchhalten. Es kann dies aber nur in existenzrelevanten Auseinandersetzungen mit den ihr zufallenden Hemmungen bzw. Aufforderungen durch eine pertinente  Sinnidee.  Es kann sich einerseits nicht in bloĂźe Unbestimmtheit zurĂĽckziehen, weil es dann nicht mehr ein individuelles Ich wäre, es kann sich andererseits als Streben nach absoluter ErfĂĽllung und vollkommener Realisation der Vernunft auch nicht in endlicher Bestimmtheit abschlieĂźen. Es schwebt deshalb notwendig (dia – legein) zwischen diesen beiden Extremen des  Bestimmtwerdens und des freien Selbstbestimmen und vermittelt sie in einem synthetischen Punkt miteinander.1

4) Durch das gesamte analytisch-synthetische Verfahren – oder dialektische Verfahren –  sollen die theoretischen wie praktischen Momente der Reflexion in ihrer gegenseitigen Durchdringung und in ihrer Applikation auf die real-konkrete Ebene der Anschauung eingesehen und kontrolliert werden – was jetzt weiter auszufĂĽhren wäre.

5) Weil diese Form der Dialektik als eine Art Erfahrungslogik durch das Selbstbestimmen/Bestimmtwerden aufgebaut wird, kann es sein, dass es durch Gewöhnung zu einer verengten Sicht der geistigen „Natur“ des Menschen kommen kann, zu einer Art Wandel der Wesensformen des Erkennens.
Dies zeigt sich z. B. heute so, dass wir die Wesensformen der Erkenntnis stark auf  naturalistische Formen eingeengt haben: Was ist, muss nach Gesetzen der Natur erklärt werden. Dahinter steckt psychologisch m. E. eine hybride Selbstermächtigung des Menschen, dass er selbst festlegen will, was Natur, Menschsein, Recht, Gerechtigkeit u. a. m.,  heißen soll. Die vielen Formen der Naturbeherrschung und der Ausbeutung der Erde entbehren aber deutlich einer kritisch-denkenden und sittlich-praktischen Begründung und Rechtfertigung! Sie entbehren einer gehörigen Bescheidenheit, denn wir blicken nicht hinter den Vorhang transzendentaler Erkenntnisbedingungen.

Die Disposition freier Reaktionen kann durch falsche Gewöhnung ziemlich getrübt sein. Kann eine dialektische Erkenntnisform hier Abhilfe schaffen, indem gerade aus dem Gegensatz zu diesen deterministischen Weltanschauungen neue Synthesen freier Selbstbestimmungen geschaffen werden? Die im transzendentalen Wissen ausgewiesene Reflexion könnte durch das angewandte, dialektische Verfahren aus den naturalistischen  Gewöhnungen und Einseitigkeiten gerissen werden?  „Das absolute Bilden hat, wo es als freie Stellungnahme sich vollzieht, das Reich des Organischen immer schon oberhalb der geeigneten Materie entfaltet – nicht im realistischen Sinne zeitlich vorher, sondern transzendentallogisch vorher, aus welch letzterem auch resultiert, dass und warum dieses vorher zeitlich gelesen wird.“ (R. LAUTH, Transzendentale Basis, Materialismus und Religion. Vgl. Anm. 5., S 139.) Es kann nicht ein „vorbewusstes“, bloß biologisches Leben geben, das sich von selbst zur Höhe der Vernunft entwickelt bzw. ein geistiges Leben, dass nur eine Art und Weise des biologischen Lebens ist. Zu einer gedanklichen Vorwegnahme einer Zweck- und Zielgerichtetheit ist ein positives Sein (einer Materie) nicht fähig, wie die Evolutionisten blind und stur  behaupten. Hier liegt eine Bewusstseinsleistung vor, und das Bewusstsein ist unteilbar. 

6) Die „dialektische Methode“ als transzendentale Erkenntniskritik und Erkenntnisform kann – um noch ein anderes Beispiel zu bringen – ebenso angewandt werden auf das Soziale: Man ist gemeinhin in dem Irrtum befangen, dass es vor aller gesellschaftlichen, interpersonalen Natur des Menschen schon ein individuelles Bewusstsein gibt. „Man verkennt, dass das Individuum nie nur Objekt, sondern von der einen Seite sich vollziehende transzendentale Apperzeption ist und deshalb von der anderen Seite nur Ausgliederung aus dem Gesamtgeiste sein kann. Das ĂĽberindividuelle Bilden bildet sich wesensgesetzlich zu einem Personenreich mit der zu den darin befassten Ichen komplementären Natur.“ R. LAUTH, ebd., S 139. Klassisch hat das FICHTE in der GNR von 1796 abgeleitet.  (Siehe Blogs  zur GNR). 

7) In der Dialektik offenbart sich sowohl eine erkenntnistheoretische wie sittlich-praktische Relevanz. Es ist immer die Dialektik der basalen Vermittlung der Freiheit mit sich selbst angesichts der sie treffenden Hemmungen und angesichts der interpersonalen Aufforderungen.

Es ist mir klar: Die Methode wissenschaftlicher Erkenntnis kraft Dialektik der Bestimmung mĂĽsste jetzt noch viel weiter dargestellt und beschrieben werden – eben fĂĽr alle Bereiche der theoretischen wie praktischen Wirklichkeit – siehe dazu Literatur z. B. v. K. HAMMACHER.
Der Begriff der Dialektik ist auf jeden Fall durch FICHTE wieder in eine helles Licht gerĂĽckt worden. Er knĂĽpft an die groĂźe Tradition der Antike in der Suche nach Wahrheit an, an das analysierende Verfahren bei DESCARTES und dessen LetztbegrĂĽndung des Wissens aus der „veracitas Dei“,   und bereitet, recht verstanden, den Boden transzendentaler Begriffe  fĂĽr induktiv-experimentelles Wissen der modernen Wissenschaft vor, denn wissenschaftstheoretisches Wissen will ja auch apriorisch vorbereitet und verstanden werden. 

© Franz Strasser, Mai 2015

1K. HAMMACHER, Zur Transzendentallogischen Begründung der Dialektik bei FICHTE, Kant-Studien, Nr. 79, 1988. Oder siehe z. B, ders., Problemgeschichtliche und systematische Analyse von Fichtes Dialektik. In: Der transzendentale Gedanke, Hamburg 1981, 388 ff

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser