Zum Sinnbegriff in den TdB – 6. Teil (vorläufiger Schluss)

6. u. 7. Vorlesung: Immer tiefer dringt Fichte in den Begriff der (äußeren) Wahrnehmung ein, und kommt in der 6. Vorlesung – die 7. ist nur mehr sehr kurz – zu einer Art Zusammenfassung, wie dieses Phänomen einer ersten Sinnerfahrung   transzendental verstanden werden kann.  Als besondere Sinn-Erfahrung (Fühlungnahme) innerhalb eines Totalsinnes und als Zusammenfassung des unendlichen Vermögens zu teilen in einem Blicke, d. h. in einem Bild und Schema und  dem hinzukommenden unsichtbaren Faktor des Denkens, zeigt sich: „Der Inhalt der Wahrnehmung ist eine sich selbst Anschauung des Wissens.“ (ebd. S 299 Z 15 ) Wahrnehmen ist  eine Erscheinung des Wissens: „(…ein) Schematisieren des Schematisieren“(ebd Z 21 )

Da wir aber doch noch auf der basalsten Ebene der äußeren Wahrnehmung sind, tritt für die Wahrnehmung dieses Bewusstsein des Schematisierens und Bilden noch nicht in aller Deutlichkeit hervor, sondern nur das Bewusstsein des Nichtschemas, eines „Dinges“.

Fichte ist sich wohl seiner besonderen Erkenntnistheorie bewusst, deshalb wiederholt er sehr oft in den TdB die bislang erreichten Ergebnisse. Er bringt auch hier eine Übersicht: (ebd. S 299- 300, Z 27ff)

Die Wahrnehmung in der Reflexion ergab eine bloßes Bild eines Ausgesagten. Die Wahrnehmung ist noch nicht das Wissen selbst, das sich vollauf seiner selbst bewusst ist und sich sieht,  sondern ein schwebendes Bild. Aber indem die Wahrnehmung dieses Schweben aussagt, geht sie über das Schema hinaus. Sie behauptet eigentlich das Gegenteil von dem Schematisierten.  In der Wahrnehmung sagt man: „(….) es ist, und überspringt das Bild“ (ebd. S 300 Z 8)

In der Nachschrift Cauer zur 6. Vorlesung wird diese Wahrnehmung weiter befragt: Warum ist in der Wahrnehmung bloß das Nichtschema bewusst (und überspringt das Bild)? Weil durch die Reflexion gar nicht die Wahrnehmung selbst, sondern nur ihre Form verändert wird. Sie wird charakterisiert, indem sie als Sein oder Nichtbild erscheint.

Ich zitiere die Zusammenfassung der 7. Vorlesung (die Wortwahl und Stil der 6. Vorlesung ist in der Nachschrift Cauer verschieden von der Nachschrift Halle;  der noch vorhandene Rest der 7. Vorlesung nach Haller ist m. E. klarer)  

Die Wahrnehmung wird durch Reflexion charakterisiert, d. h. sie wird durch einen höheren Standpunkt des Sehens (durch die „Sehe“ – 6. Vorlesung nach Cauer,  ebd. S 301 Z 6) gesehen, welche Akt des Sehens aber nicht gesehen wird.

Wir sind damit zu einer ersten, wie möchte ich sagen, rudimentären,  ersten Definition der Wahrnehmung gekommen: Sie ist „verständiges, sich verstehendes (….) Schematisieren.“ (6.Vorlesung, nach Cauer, ebd. S 301 Z 13f ) Dies dank des bisher noch verborgen liegenden Faktors des Denkens.

In der kurzen 7. Vorlesung, Übersicht, heißt es: Dieser Akt des Sehens, oder das „Gesetz des Denkens tritt in die Wahrnehmung mit der Anschauung zusammen, daher das Sein außer uns als Produkt hervor tritt. Es ist hier kein Akt des Verstehens, sondern nur inneres radikales Sein der Verständigkeit. Denken oder Charakterisieren ist nicht neues Hinschematisieren, sondern ein Sich selbst bestimmen der Sehe.“ (7. Vorlesung, Nachschrift Halle, S 302 Z 8f)

Die äußere Wahrnehmung, wenn ich jetzt abschließend auf den Sinnbegriff wieder rekurriere, ist ein erstes Verstehen, „eine Synthesis von Qualität und Ausdehnung“ (6. Vorlesung, ebd. S 301 Z 9).

Damit entwickelt sich von selbst der Sinnbegriff  – aus der Synthesis von Qualität und Ausdehnung –  zu einer höheren Synthesis  des Gefühls, die wiederum eine praktische Sinnidee in sich trägt und zu einem höheren Bewusstsein von Ideen und zu einer sein sollenden sittlichen Einheit mehrerer Ich und zu einem Bild der Sicherscheinung der Erscheinung des Absoluten führt. 

In den Anfangsmomenten der Qualität und der Ausdehnung, bereits auf der Ebene der faktischen, äußeren Wahrnehmung, liegen,  beginnend mit dem Gefühl,  die verschiedenen Sinn-Erfahrungen der erschlossenen, sogenannten „fünf“ Sinne (Das Warm-Heiß-Empfinden könnte als sechster Sinn herausgearbeitet werden?),  die von sich her aber weiterführen zu weiteren, werthaft-geistigen Sinn-Erfahrungen.

Ich verweise hier auf J. Widmann und seinem Kommentar zur WL 1804/2: Er spricht von der  Evidenz der Natur, des Logos, der Geschichte, der Sinnidee schlechthin.  Die Konkretisierung des transzendentalen Wissens weist zurück auf die sinnliche Gefühlserfahrung, wie zugleich voraus auf eine triebhafte wie intentionale Wertsetzung durch Freiheit.  

Nochmals zurückblickend auf die Dialektik der Sinnbildung bei N. LUHMANN. Der Sinnbegriff bezieht sich dort relativ willkürlich auf verschiedene Bereiche des Leben. Durch sein immenses Wissen  findet N. L. zwar überall reichhaltige, durch Differenz gedeutete Sinn-Erfahrungen, aber es bleiben m. E. relative Werte mit relativen Sinn-Erfüllungen, die keine Letztbegründung und Gewissheit der Erkenntnis und des Wollens-in-actu zulassen. 

Die Form des Unterscheidens – und der damit gesetzte Sinnbegriff –  ist stets ein medialer Prozess wechselseitiger Bestimmung von psychischem und sozialem System einerseits, Welt und Umwelt andererseits – so nach der Systemtheorie. Es entstehen  stets neue Synthesen zwischen begrifflicher Idee und Realität, aber was begründet diesen Wechsel? Es gibt keine Selbstregulation der Werte und keine Hierarchie der Werte, weil die Idealform einer Sinnidee fehlt – und dementsprechend keine Freiheit, die das Unterscheiden nach einem Zweckbegriff intentional und wertrelevant durchführt.  Es verläuft ein evolutiver Prozess wechselhafter Sinnbestimmung zwischen psychisch- sozialen Systemen und der Umwelt, aber ohne transzendentale Erklärung, wie diese Wechselbestimmung denn möglich sein soll und welcher höchster Zweckbegriff dahintersteht. 

Ganz anders in den TdB: die unendliche Teilbarkeit ist begründet im bipolaren Grund der Freiheit sich zu beschränken – und den damit jeweils konkret  erscheinenden, materialen und medial zu vermittelnden,  angebbaren Wert- und Sinnerfahrungen. 

Allein in den ersten sieben Vorlesungen der TdB mit der ansatzweisen Herausarbeitung der Wissensbedingungen der äußeren Wahrnehmung (in ihren Phänomenen der Qualität bzw. Empfindung und Ausdehnung) wird  klar, dass selbst die äußere  Wahrnehmung nur a) als spezifizierter Sinn innerhalb eines Totalsinns konkretisiert werden kann, und b) das Vermögen zu teilen und die Form der Ausdehnung – später in Raum und Zeit weiter reproduziert –  einen wesentlichen sittlich-relevanten, oder anders gesagt, werthaften  Faktor der Freiheit und des Denkens enthält und fordert. Wie sollte aber bei relativen Wert- und Sinnanschauungen aus dem Wechsel psychisch/soziales System versus Umwelt eine Gerichtetheit der Sinn-Erfahrung und eine je größere Freiheit abgeleitet werden? 

Wenn ich nach der „Struktur des transzendentalen Wissens“ von J. Widmann gemäß der WL 1804/2 das aufschlüssle: Die a) naturale Sinnes-Erfahrung, die b) Erfahrung von Vernunft, Geschichte, Sinn, c) schließlich die Applikation des Sinnbegriffes auf ein Ich, auf das Wesen, auf eine sittlich-wertvolle Erscheinung der Liebe, auf ein Du, d) ferner die Ordination der Wirklichkeit nach den wesentlichen transzendentalen und qualitativen Begriffen von Gefühl, Urteil, Relation und Wir, das alles gibt ein geschlossenes wie offenes System der Sinn-Erfahrung, wo jede differentielle Sinnbestimmung einen gewissen genetischen Platz einnimmt.  Es ist eben, wie Fichte sagt, ein System der Freiheit.  1

© Franz Strasser, 22. 12. 2018

1Das heißt jetzt nicht, dass N. LUHMANN nicht wüsste, was Freiheit heißt. Manche Analysen arbeiten sehr gut die Freiheit in einem negativen Sinne heraus, d. h. als fehlende Freiheit und als Mangel. So gefiel mir z. B. die Reflexion auf die materialen Erkenntnisbedingungen in einem Verwaltungsakt. Das ist für mich „soziologische Aufklärung“ im besten Sinne einer vernünftigen Aufklärung!  Man bildet sich  ein, dass Prozesse von oben nach unten laufen, doch entscheiden sich die Entscheidungsträger notwendig nach den operationalen Bedingungen, die herrschen, keinesfalls autonom.  Die transzendentalen Bedingungen sind material ausgearbeitet, um die Bedingungen der Freiheit besser zu verstehen. N. Luhmann  zeigt  die Herausarbeitung eines Pseudo-Begriffes von Freiheit in „Paradoxie des Entscheidens“ in einem normalen Verwaltungsakt selbstkritisch  auf.  Das gilt wohl für viele Bereiche: Die Prozesse medialer Vermittlung sind bei weitem nicht von Freiheit und Entscheidungslust  begleitet, wie gemeinhin angenommen. Generell offenbaren ja seine Schriften zum Sinn-Begriff und zur Kommunikation, zur Wirtschaft, zum Rechtsbegriff usw. ein enormes Potential an Freiheitsgewinn – halt ohne Letztbegründung und Gewissheit?  N. LUHMANN,   Paradoxie des Entscheidens. In: Zeitschrift für Verwaltungslehre, Verwaltungsrecht und Verwaltungspolitik, 84. Band, Heft 3, 1993.

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser