MILL will auf eine grundsätzliche, gedankliche Begründung des Handelns nach dem Maßstab und der Regel des Nützlichkeitsprinzip hinaus. Er unterscheidet zwischen den Tatsachengründen und möglichen anderen Gründen, die aber noch nicht klar geworden sind:
„Die Unmöglichkeit eines Vernunftbeweises ist allen ersten Prinzipien gemeinsam, den Grundvoraussetzungen der Erkenntnis ebenso wie denen des praktischen Handelns. Doch da es sich bei den Ersteren um Tatsachen handelt, wird man sich zu ihrer Begründung unmittelbar auf die Vermögen berufen können, mit denen wir über Tatsachen urteilen, nämlich unsere Sinne und unser inneres Bewusstsein. Kann man sich in der Frage der praktischen Zwecke auf dieselben Vermögen berufen?“ (ebd. S 105)
Was unser Handeln und Streben betrifft, geht es um das, was „wünschenswert“ ist, nicht um das, was im Willen als gut oder böse festgesetzt wird, bzw. von außen als gut oder böse vorgegeben wird:
„Der Utilitarismus sagt, dass Glück wünschenswert ist, dass es das Einzige ist, was als Zweck wünschenswert ist, und dass alles andere nur als Mittel zu diesem Zweck wünschenswert ist. Welchen Kriterien muss diese Lehre genügen – welche Bedingungen muss sie erfüllen, um ihrem Anspruch zu überzeugen gerecht zu werden?“ (Hervorhebungen von mir, ebd.)
MILL beruft sich wiederum auf das „Glück“ („happiness“), das offensichtlich als „einer der Zwecke“ (ebd. S 107) im Tun und Lassen des Vernunftwesens Mensch entscheidend ist.
Kann das Glück als offensichtlicher Zweck im Handeln sogar als alleiniger Zweck behauptet werden? (vgl. ebd.)
Ich bezeichnete „Glück/Glückseligkeit“ im 1. Kapitel (1. Teil) als transzendentale Idee, die in Negationsunterscheidungen in ihrer Möglichkeit ins Unabsehbare bestimmt werden kann. Diese Idee ist nichts anderes als die Nachkonstruktion der bloßen Gesetzesgenesis des Strebens und ihrer reinen Begriffsfolgen.
MILL wehrt sich wiederum – siehe bereits 2. Kapitel – , dass der Utilitarismus ein individueller und bloß sinnlicher Hedonismus sei, im Gegenteil, er wird zur Tugendethik:
„Aber bestreitet der Utilitarismus etwa, dass die Menschen nach Tugend streben, oder behauptet er etwa, dass Tugend nicht erstrebenswert sei? Im Gegenteil. Er behauptet nicht nur, dass Tugend erstrebenswert ist, sondern dass sie uneigennützig, um ihrer selbst willen erstrebt werden sollte.“ (ebd. S 107)
„Die Bestandteile des Glücks sind sehr verschieden. Es geht aber immer um ein integratives Streben nach dem Zweckbegriff des Glückes, das insofern die Idee des Guten ausmacht. Speziell die Tugend kann hier selbst ein angelerntes und gewohntes Verhalten werden – und kann ein Teil des Glückes werden. Es ist dann Tugend ein Mittel zum Glück und in Verknüpfung mit dem Glück sogar eine Art Selbstzweck.“ (Hervorhebungen von mir, vgl. ebd. S 111)
Es gäbe, als Erläuterung aufgezählt, noch andere Mittel, die durch die Verknüpfung mit dem Glücksbegriff sogar für manche Menschen sehr wichtig werden können wie Geld, Macht, Ruhm (vgl. ebd. S 111). Das wäre aber ein sehr oberflächliches Glück.
„Indem es aber um seiner selbst willen begehrt wird, wird es als Teil des Glücks begehrt: durch seinen bloßen Besitz wird der Mensch glücklich oder glaubt, glücklich zu werden, und wird unglücklich, wenn der Versuch, in seinen Besitz zu gelangen, misslingt. Der Wunsch nach ihm ist von dem Wunsch nach Glück eben- sowenig verschieden wie die Liebe zur Musik oder der Wunsch nach Gesundheit.“ (ebd. S 113)
MILL kommt wieder auf die Tugend zu sprechen. Die Tugend ist zwar ebenfalls natural begründet in einem Glücksstreben, aber hat a) bessere Folgen und b) ist selbst lustvoll, wenn sie trotz Widerstände sich zu steigern vermag:
„Deshalb gebietet die utilitaristische Norm, die zwar auch jene anderen erworbenen Strebungen (sc. wie z. B. nach dem Geld, nach Ruhm) duldet und billigt (wiewohl nur so lange, als sie dem allgemeinen Glück nicht eher abträglich als zuträglich sind), die größtmögliche Ausbildung der Liebe zur Tugend als das, was in seiner Bedeutung für das allgemeine Glück von nichts übertroffen wird.[…]
Es ergibt sich aus den vorangehenden Überlegungen, dass in Wirklichkeit nichts anderes begehrt wird als Glück. Alles, was nicht als Mittel zu einem Zweck und letztlich als Mittel zum Glück begehrt wird, ist selbst ein Teil des Glücks und wird erst dann um seiner selbst willen begehrt, wenn es dazu geworden ist. Wer die Tugend um ihrer selbst willen erstrebt, erstrebt sie entweder deshalb, weil das Bewusstsein, sie zu besitzen, lustvoll ist oder weil das Bewusstsein, sie nicht zu besitzen, unlustvoll ist oder aus beiden Gründen zugleich – wie sich ja überhaupt Lust und Unlust nur selten allein, sondern fast immer gemeinsam finden, insofern man zugleich befriedigt ist, einen bestimmten Grad von Tugend erreicht zu haben, und unbefriedigt, nicht noch mehr erreicht zu haben.“ (ebd. S 115)
MILL denkt hier ganz transzendentallogisch und fragt nach den Bedingungen der Wissbarkeit von begründetem Handeln, selbst des tugendhaften Handelns, und kommt zum Ergebnis: Alles ist begründet im Streben nach Glück – und selbst Tugend ist Teil des Glücks.
Das ist ein sowohl logisch wie anschaulich geführter Beweis, ein Deduktionsbeweis aus dem praktischen Streben.
„Damit haben wir also eine Antwort auf die Frage, welcherart Beweis für das Nützlichkeitsprinzip geführt werden kann. Wenn die Auffassung, die ich soeben dargelegt habe, psychologisch richtig ist wenn die menschliche Natur so beschaffen ist, dass sie nichts begehrt, was nicht entweder ein Teil des Glücks oder ein Mittel zum Glück ist, dann haben wir keinen anderen und benötigen keinen anderen Beweis dafür, dass dies die einzigen wünschenswerten Dinge sind. In diesem Fall ist Glück der einzige Zweck menschlichen Handelns und die Beförderung des Glücks der Maßstab, an dem alles menschliche Handeln gemessen werden muss, woraus notwendig folgt, dass es das Kriterium der Moral sein muss, da ja der Teil im Ganzen enthalten ist.“ (Hervorhebungen von mir, ebd. S 115.117).
Die transzendentale Idee von Glück ist natural-empirisch sicher – und selbst der oft anderweitig, von einem angeblich nicht-sinnlichen Wert abgeleitete Tugendbegriff ist integrativ im Streben nach Glück enthalten und entspringt derselben praktischen Quelle.
J. S. MILL wird durch den transzendentalen Gang der Untersuchung jetzt von selbst weitergetrieben zu einem anderen Begriff, um diese Quelle des praktischen Tuns noch besser zu analysieren: Es ist der Begriff des „Willens“.
MILL kommt m. E. hier zu einer sehr eigenwilligen Herleitung, aber man merkt, er verlässt nicht das transzendentale Erforschen der Bedingungen der Wissbarkeit und der Anwendbarkeit der Konzeptes „Glück/Glückseligkeit.“
Ist der Wille, wie er gerne in anderen Moralbegründungen vorkommt, nicht deutlich über ein sinnliches Streben hinausgehend ? So wie der Glücksbegriff/die Glückseligkeit selber schon, wie wir gesehen haben, bereits weit über sinnliche Befriedigung hinausweist, auf Tugend, Altruismus, Gemeinschaftsgefühl?
Anders gesagt: Was ist der Wille in seinem Wert-Erkennen?
„Der Wille, das aktive Prinzip, ist etwas anderes als das Begehren, der Zustand passiver Reizbarkeit, und obgleich er im Begehren entspringt, kann er mit der Zeit eigene Wurzeln schlagen und sich von der Mutterpflanze so vollständig lösen, dass wir in Fällen gewohnheitsmäßiger Zwecke etwas häufig nicht deshalb wollen, weil wir es begehren, sondern deshalb begehren, weil wir es wollen – ein Beispiel für jene altvertraute Tatsache: die Macht der Gewohnheit, das in keiner Weise auf den Fall tugendhaften Handelns beschränkt ist.“ (Hervorhebung von mir; ebd. S 119)
MILL ordnet das Wollen also a) in einer naturalen Quelle begründet ein, aber auch b) als durch Zeit und Geschichte geprägte „Macht der Gewohnheit“.
Da, so jetzt meine Sicht, J. S. MILL die transzendentallogischen Begründungen und Termini fehlen, wie etwas als natural Gewordenes der Erscheinung nach und als intelligible Größe zugleich angesehen werden kann, als Gewordenes in der Geschichte und als „Macht der Gewohnheit“, wird eine unaufhebbare Diskrepanz der Erklärung bleiben, woher der Wille kommt. Aber man hört trotzdem das transzendentale Fragen nach den Vernunftgründen heraus, die den naturalen Seinsgründen nicht widersprechen können: Selbst ein natural angeborener Wille widerspricht nicht der Idee des Guten, dem Glück- und Glückseligkeitsstreben in seinen höchsten Idealen.
Zuerst die naturale Seite: Man kann Wille und Begehren unterscheiden, aber „[…] Deshalb ist es jedoch nicht weniger wahr, dass der Wille ursprünglich gänzlich ein Produkt des Begehrens ist darin eingeschlossen die Anziehungskraft der Lust und die Abstoßungskraft der Unlust.“ (Hervorhebung von mir, ebd. S 121)
Dann wieder die apriorische, durch Vernunft bestimmte Zweckidee des Guten und des Glücks/der Glückseligkeit: Die Lust an der Tugend ist ebenfalls möglich, geweckt durch Pädagogik und Übung. So wird der Wille zum Guten erzeugt. (Der Wille zum Guten hat natürlich dann eine große transzendentalphilosophische Tradition)
„[…] dass man den Menschen dazu bringt, die Tugend zu begehren- dass man ihm die Tugend im Licht der Lust und die Untugend im Licht der Unlust erscheinen lässt. Nur indem man das Rechttun mit der Lust und das Unrechttun mit der Unlust verknüpft, bzw. indem man die Lust, die mit der einen, und die Unlust, die mit der anderen von Natur aus verknüpft ist, bewusst macht, einprägt und einschärft, 5 vermag man jenen Willen zur Tugend hervorzurufen, der, sobald er gefestigt ist, ohne irgendeinen Gedanken an Lust oder Unlust handelt.“ (vgl. ebd. S 121)
Die Gewohnheit kann ein nützliches Hilfsmittel sein, die Tugend einzulernen und „[…] Im Fühlen wie im Handeln kann allein Gewohnheit Gewissheit verleihen.“ (ebd. S 123)
Lust und Glück sind in einem materialen Sinne zu verstehen, inhaltliche Realisierungen einer formalen Idee des Guten. Im Begriff des Willens schwingt noch dieses Doppelte des materialen Angeborenseins von etwas wie Lust und Glück mit, ebenso ein formales Einlernen und Üben, eine mühevolle Realisierung. Der Wille ist formale in seinem Erkennen, material in seinem Streben nach Glück, Lust, Tugend. Es wird im Willen zum Glück oder zur Lust nicht bloß im Gedanken konzipiert, sondern zugleich in der Tat der Pädagogik und des Trainings eingesehen.
Es kommt mir wieder KANT in den Sinn – siehe oben 2. Teil – dass Glück/Glückseligkeit ein Zustand ist, in dem „alles nach Wunsch und Willen geht“ (KpV, AA Bd. V, S 224), d. h. aber gerade, a) dass nur etwas erhofft und erwartet werden kann und b) im Willen nur als interpersonales Wollen.
Anders gesagt: J. S. MILL verfällt weder einem reinen naturalistischen Willensbegriff – wie z. B. dann Schopenhauer – aber auch nicht einer reinen Gesinnungsethik, dass allein ein guter Wille gut zu nennen ist, denn das Gute und das Glück/die Glückseligkeit und die Lust sollen ja ein Zustand werden und sein, eine gefühlte Erfahrung. Der Wille ist hier beides, materiales Begehren und formales Sollen und Wollen einer Idee des Guten.
„[…] Mit anderen Worten: Dieser Willenszustand (sc. der Wille als Gewohnheit) ist ein Mittel zum Guten, kein eigenständiges Gut, und steht daher nicht in Widerspruch zu dem Lehrsatz, dass etwas nur insoweit ein Gut für den Menschen ist, als es entweder selbst lustvoll ist oder ein Mittel ist, Lust zu erlangen und Unlust zu vermeiden.“ (Hervorhebung von mir, ebd S 123)
Weil der Wille oder das Wollen schon auf Lust und Glück hingeordnet sind, braucht der Wert der Lust/des Glücks/der Glückseligkeit nicht zuerst abseits des realen Strebens nur auf den idealen Willen definiert zu werden, noch umgekehrt, dass erst durch den Willen und das Wollen der Wert des Glücks/der Glückseligkeit definiert wird.
Es ist wiederum gutes, transzendentales Denken: Die Methode der Erstellung der Wissensbedingungen (von Glück/Glückseligkeit) sind zugleich verbunden mit den realen Einsichtsbedingungen. Das Wollen und der Wille scheinen der kausalen Ursache nach natural zu sein, so ist MILL wohl von den englischen Empiristen infiziert, dem Denken nach entspringen sie aber ebenso einer apriorischen Idee des Guten, sofern diese conditional und der Vernunft nach gefasst wird.
Anders gesagt: Das Wollen und der Wille ist identisch dem praktischen Streben nach Glück/Glückseligkeit, deutlich sichtbar, sofern auf der realen Ebene des materialen Glücks/der Glückseligkeit das Wollen und der Wille angeschaut wird, aber zugleich auch der transzendentalen Möglichkeit nach angeschaut wird, weil er auf eine apriorische Idee des Guten gerichtet bleibt.
Wenn die Einbildungskraft das Willensverhältnis in Bezug auf das Glück/die Lust/die Glückseligkeit bereits für verbindlich ansieht, d. h. dass das Wollen im Glück/der Glückseligkeit bereits angekommen und erfüllt ist, so heißt das nicht, dass von allen für alle zu jeder Zeit das Glück/die Glückseligkeit erreicht ist. Das Vernunftwesen ist reflexiv so verfasst, dass trotz geschlossener Wissensform im Wollen der mühevollen Weg der Realisierung und Verwirklichung erst in concreto gegangen und angewandt werden muss, d. h. dass die Idee des Glücks/der Glückseligkeit nie endgültig eingeholt werden kann.
© Franz Strasser, 5. 10. 2023