Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Ausgabe 1934 – Lektüre, 2. Teil

H. Kelsen RR1, 1934 – Lektüre, 2. Teil; zum Geltungsbegriff

H. KELSEN will wissenschaftlich das Recht erkennen und begreifen, was soviel heißt wie, positiv beschreiben und beobachten, was Recht sein kann, besser gesagt, Recht IST (nach dieser Theorie). Das Recht a) als Da-Sein existiert (oder ist) für ihn in den Normen, ist ein Soll, (RR1, Abschnitt 11, ebd. S 20ff; transzendente Idee, transzendentale Kategorie).  Dabei muss das Recht abgegrenzt werden gegen die Moral, ist unterschieden von der Idee der Gerechtigkeit, und hat eine anti-ideologische Tendenz. (vgl. RR1, Abschnitte 8 – 9, ebd. S 12 – 18.) Die Normen beziehen sich auf ein ermächtigtes oder erlaubtes oder verbotenes Verhalten. Das Recht drückt b) ein gewisses Was-Sein, eine Beschaffenheit, dann als Zwangsrecht beschrieben, aus, und ist c) schließlich ein „ist“, ein Sein im Sinne der Urteilskopula.

Nun stellte bekanntlich ARISTOTELES ausdrücklich fest, dass es mit dem Wort „Sein“ (on/to on) so seine Tücken hat.  Ich zitiere hier M. GERTEN, Sein oder Geltung, Fichte-Studien Bd. 47, 2019, S 207.

„Sein im Sinne der Urteilskopula mit der Funktion etwas (zu Bestimmendes) als etwas (Bestimmtes) durch Prädikate (Bestimmungen/Bestimmtheiten) zu bestimmen. Diese Bestimmungsfunktion enthält zwei Momente: (a) die Synthesis der bestimmenden Prädikate mit dem zu bestimmenden logischen Subjekt/Gegenstand, und (b) eine in der Regel nur implizit mitbehauptete) Geltungsprätention (Wahrheitsanspruch), denn von der Synthesis wird zugleich behauptet, dass sie ist im Sinne eben von ,gilt/wahr ist (sog. ‚veritatives Sein‘). Beispiele: „Die Erde ist eine Kugel“ (= ausformuliert: „Die bestimmende Synthesis des Planeten Erde mit der Bestimmung der geometrischen Form der Kugel gilt/ist wahr“).

In einer m. E. unkritischen Übernahme der kantischen Erkenntnistheorie, wonach kraft des Erkenntnisaktes die Bedeutung und der Sinngehalt eines Gegenstandes festgelegt und erkannt werden kann,  schreitet H. KELSEN zielbewusst auf den ideellen Gegenstandsbereich der Normen und des Rechts zu, ohne aber die Konstitutionsgenese dieser rechtlichen Gegebenheit durchschauen zu können oder darüber zu reflektieren. 

Bei KANT ist es so: Er baut mittels Verstandesbestimmungen und Grundsätzen des Verstandes den Gegenstandsbereich der sinnlichen Natur auf, und stellt unverbunden die Gesetze der praktischen Vernunft, d. h. der Moralität und Legalität, neben die theoretischen Erkenntnisleistungen. In einer nachträglichen Reflexion werden die theoretischen und praktischen Welten zwar zu verbinden gesucht, aber es bleibt eine gewisse Dichotomie. Aus diesen nicht zu vereinbarenden Zweiheit zieht H. KELSEN die Konsequenz, dass für den praktischen Bereich der Moralität und des Rechts ebenfalls die engen Grenzen der theoretischen Gegenstandserkenntnis gelten müssen. Natürlich nicht im Sinne einer sinnlichen Gegenstandserkenntnis, aber doch analog, in einer schematisierten Synthesis von Begriff und Anschauung, d. h. in dem Sinne einer Synthesis von ideellem Begriff (hier Norm) und  realem Anschauungsbereich des menschlichen Verhaltens. Bei sehr guter Kenntnis der kantischen Kritiken entgeht jetzt m. E. H. Kelsen doch der Primat der praktischen Vernunft über die theoretische – und dass im praktischen Wollen und Handeln sehr wohl intelligible Erkenntnisse (die Totalität eines sittlich Guten, eine unbedingte formale Gesetzgebung, die quasi naturrechtlich einer anderen Person Selbstzweckcharakter zuspricht u. a. m.) vorausgesetzt werden müssen. 

Diese einseitige Erkenntniskritik, abgeleitet aus der KrV,  ist, wie in der Lektüre 1. Teil von mir schon gesagt, letztlich eine idealistische vice versa realistische  Denkart in der Weise, dass im Begriff der Norm, worin das Wesen des Rechts nach H. Kelsen letztlich besteht, plötzlich eine unreflektierte Welt an sich der Rechte und Gesetze auftaucht, analog zu den physikalischen Naturgesetzen – und das „Verhalten“ und tägliche Leben der Menschen wird idealistisch/realistisch an sich eingeschätzt und die Norm darauf  bezogen.

Dazu wieder M. GERTEN: Nun scheint eine allgemeine Gefahr des Denkens und Sprechens, seine Ten denz zu Substantivierungen und falschen Hypostasierungen, in Verbindung mit dem Wort „Sein‘ besonders groß zu sein. Dadurch wird die natürliche‘, ohne reflexive Besinnung sich selbst überlassene Denkhaltung verleitet, aus allem ein Seiendes zu machen. Wenn aber schlechthin alles ein Seiendes ist, dann bleibt für das Nicht-Seiende nur noch die Möglichkeit, dass es, wenn es nicht ist, eben schlechthin Nichts ist. Auf diesem Standpunkt bleibt als einziger Weg, das Nicht(-gegenständlich)-,Seiende‘ vor diesem Nichts zu retten, es doch wieder zu einem „irgendwie“ Seienden zu machen. Die Hypostasierung von Begriffen, Ideen, Werten, Prinzipien, Gesetzen, Normen und ähnlichen „Enti täten‘ (hier logisch gemeint im Sinne von ,etwas überhaupt‘) zu Seiendem (on tologisch verstanden als existierende Substanzen) ergibt letztlich immer ein ontologisierendes Stockwerksdenken: einer ,sinnlichen‘, diesseitigen Welt mit existierenden, erkennbaren Gegenständen wird eine übersinnliche‘, jenseiti ge Welt entgegengesetzt, die ,besiedelt ist von mehreren existierenden, aber nur schwer oder gar nicht erkennbaren Gegenständen‘. Die Folge ist ein pe rennierender Streit, welche dieser Welten die eigentliche ist: ,materialistisch gesehen die sinnliche, oder „idealistisch‘ gesehen die übersinnliche. Solche Weltverdoppelung wird von einer transzendental-kritischen Philosophie zu Recht als dogmatisch abgelehnt.“ 1

Kraft Erkenntnisaktes und später kraft legitimatorischen Verfahrens wird statisch oder dynamisch das Recht konstituiert, d. h. wissenschaftlich aufgebaut und bestimmt (erklärt). Wie die Welt der sinnlichen Erscheinungen mittels Synthesen und Schematismen erkennbar ist, so ebenso die „übersinnliche“ und eigenen Welt des Rechts in spezifischen Synthesen und Verfahrensweisen erkennbar und beschreibbar. 2

Die Norm wird mittels Schematisierung angewandt, und der Rechtsbegriff wird negativ als Zwangsrecht charakterisiert. Das durch Verfahren und Schematisierung im Denken positivistisch gesetzte Recht wird entweder hautnah empfunden, als angenehme Erlaubnis oder schmerzliche Strafe (Sanktion), oder als Ermächtigung zur Gesetzgebung und Rechtssprechung autorisiert.

Was ist aber damit KANT in seiner transzendentalen Erkenntnisbegründung und in Folge H. KELSEN entgangen? Die genetische Evidenz und Wahrheit, wodurch es überhaupt zu einer Erzeugung eines Urteils und einer Erkenntnis kommen kann. Die transzendentalen Verstandesbestimmungen KANTS wie Quantität, Qualität, Kategorien der Erfahrung, Kategorien der Modalität, können als Urteilsfunktionen nicht per se Gültigkeit und Wahrheit beanspruchen, weil ihnen die genetische Erzeugung aus den höheren Reflexionsbestimmungen des Wissens fehlt, mithin die praktisch-sittliche Legitimation. 

Wie ganz anders beginnt die Naturrechtslehre bei FICHTE: Nicht die Grundsätze des Verstandes sind es, die eine personale und interpersonale Welt und damit rechtliche Welt aufbauen können, sondern die Denkformen der reflektierenden Urteilskraft, die den Zweckbegriff einer eigenen wie fremden (positiven) Freiheit bilden. Wir hätten keine Personenwelt, m. a. W. keine Rechtswelt, gäbe es nicht diese Reflexionsformen – und dazu kommen noch die Reflexionsformen des freien Prinzipiierens in einer moralischen Idee und des freien Prinzipiertwerdens in einer religiösen Idee.

Bei H. KELSEN ist von vornherein alles nur durch den Modus der sinnlichen Verstandesbegriffe gefasst, in weiterer Folge aber damit alles in einem schlechten Sinne  „platonischen“ Himmel angesiedelt, wodurch der alles entscheidende Geltungs- und Wahrheitsbegriff in der „Grundnorm“ ebenfalls zu Bedingungen der Grundsätze des Verstandes vergegenständlicht wird.

Was „Geltung“ heißt, das ist herabgedrückt zu einem gegenständlichen Sein und wird, wie ein positiv Seiendes, durch logisches Denken und Verfahren zu gewinnen und zu erkennen versucht. Die „Geltung und (der) Geltungsbereich der Norm“ (RR1, Abschnitt 6, ebd. S 7) kann ideell festgestellt und eingeteilt werden, sie kann begrenzt oder unendlich sein (RR1, S 8), kann sich auf einen sachlichen (oder materiellen) Bereich beziehen, oder auf eine personalen Bereich (ebd. S 8-9) – das ist aber alles Klassifikation, Biologie oder Zoologie. 

Die Norm mit ihrem durch den Erkenntnisakt geschaffenen Sinngehalt beschreibt a priori, statisch oder dynamisch, wie das Verhalten des Menschen zu beurteilen ist, was sein soll und was nicht sein darf, was Geltung hat und was nicht. Die Norm wird zu einem apriorischen Zwangsgesetz (statisch oder dynamisch) – und durch Zusammenhang der Normen in einer ideellen Einheit einer Grundnorm ist diese „platonische“ (nichts gegen Platon!)  übersinnliche Verstandeserkenntnis des Rechts positiv wahr, oder, wenn wir den Verstandesgesetzen des Denkens glauben möchten, sogar apodiktisch wahr und gültig. (Bekanntlich hinterfragt z. B. FICHTE in der WL 1801/02 oder DESCARTES die notwendigen Denkgesetze; das könne  eine Täuschung eines genius malignus sein.)

Die Konstitutionsgenese der Verstandes-Sätze ist aber hier so gut wie ganz entfallen!, weil die Genesis der Vorstellung der Begriffe vom sinnlichen Bereich des Verhaltens her ihre Legitimation bezieht. Es kann nicht begründet werden, warum der Gehalt in einer Vorstellung gilt oder wahr sein soll

In der GNR FICHTES umgekehrt wird nicht prätentiert, die Reflexivität oder Interpersonalität eines individuellen Ichs transzendental aus einer höheren Schematisierung abzuleiten oder positiv feststellen zu können. FICHTE setzt in „metaphysischer Deduktion“ (Blog siehe dort) das reflexive und interpersonale Ich voraus, kommt aber gerade damit zu transzendentalen Anwendungsbedingungen dieses Ichs in der Leiblichkeit und Kommunikabilität. Der teilabsolute subjektive wie objektive Geltungsgrund eines synthetischen Begriffes „Recht“ wird so für sich offen gelassen, d. h. in seiner materialen Qualität und Einheit belassen – gerade nicht positivistisch bestimmt –  und kann so von sich und durch sich eine immanente wie transzendente Quelle des Wertes und der Erhabenheit offenbarenDas Bild und der Begriff des Rechts und der verobjektivierte Rechtssatz entspringen so genetisch – was noch genauer herauszuarbeiten wäre – als phänomenologische Tatsache der übergeordneten Erscheinung (oder Freisetzung) eigener wie fremder Freiheit.

Dieser trans-immanente Geltungsgrund eigener wie fremder Freiheit ist primär ein Reflexionsbegriff, der von sich und durch sich, formal wie material, im Vollzug des Wissens und in einem Gehalt eines Wertes bzw. in einer Werthierarchie, aufleuchtet und gilt und ist. 

M. a. W., das „ist“ dieses Geltungsbezuges und Geltungsgrundes ist ein fremd-personales, aber auch interpersonales, werthaftes und veritatives Sein, – und hat natürlich eine ganz andere Bedeutung als das „ist“ eines nur positiv festgestellten Tatbestandes oder Sachverhaltes, der unter den Begriff der Norm subsumiert wird, als könnte begrifflich alleine gewusst werden, was  der Inhalt dieser Norm ist.  

H. KELSEN wird hier ziemlich dogmatisch, wenn er den Begriff der „Geltung“, oder den „Geltungsgrund“ einführt – siehe hier in RR1, Abschnitt 6, die „Geltung und der Geltungsbereich der Norm“ (RR1, ebd. S 7).3

Wenn im Vorhergehenden von einer »Geltung« der Norm gesprochen wird, so soll damit zunächst nichts anderes ausgedrückt werden als die spezifische Existenz der Norm, die besondere Art, in der sie gegeben ist; zum Unterschied von dem Sein der natürlichen Wirklichkeit, das in Raum und Zeit verläuft.“ (ebd.)

Das klingt harmlos, ist aber das Problem dieser idealistisch/realistischen Erkenntnistheorie, dass das Da-Sein der Norm vorausgesetzt (hypostasiert) wird, ohne Rechenschaft abzulegen, wie sie gebildet ist, wodurch sie gebildet ist, und warum die Vorstellung dieser (oder jener) Norm denn gelten soll? Der Geltungsbegriff in der Vorstellung ist nicht differenziert als solcher und von einem bloßen Gedachten (als Norm) abgehoben.

Die Norm als solche, nicht zu verwechseln mit dem Akt, in dem sie gesetzt wird, steht – da sie keine natürliche Tatsache ist – nicht in Raum und Zeit.“ (ebd. S 7)

Das spricht deutlich eine dogmatisch behauptete Intelligibilität  der Norm an, und führt, in Parallelität dazu, weil ja irgendwie doch diese pseudo-platonische Idee mit der Realität verträglich gemacht werden soll, zu einer materialen Dialektik der Übertragung der Geltung auf Zeit und Raum und auf das „menschliche Verhalten“.

Aber da der mögliche Inhalt der Norm derselbe ist wie der mögliche Inhalt des tatsächlichen Geschehens, da sich die Norm mit ihrem Inhalt auf dieses tatsächliche Geschehen, vorallem: auf menschliches Verhalten bezieht, muß der Raum ebenso wie die Zeit, in dem das durch die Norm bestimmte menschliche Verhalten vorsichgeht, im Sinne der Norm vorsichgehen soll, im Inhalt der Norm mit bestimmt sein.“ (Hervorhebung von mir, ebd. S 7)

Der Begriff der Norm wird, wie in KANTS Schematismuskapitel der KrV, auf die Anschauungsformen von Zeit und Raum übertragen (oder schlampig auf die „Realität“) – hier auf das menschliche Verhalten. Das „Verhalten“ ist nicht eine andere Person oder eine andere vorausgesetzte Freiheit, sondern eine irgendwie sozial bemessene, konventionelle, rechtlich- konditionierte Größe im Hinblick auf eine Interpretation in einer Norm. 

Anschließend möchte H. KELSEN seine normative Setzung des Rechts zwar von jeder Soziologie und Psychologie, später von allem Naturrecht und Vernunftrecht und jeder Ideologie, abgrenzen, aber die empirische Basis des „bestimmten menschlichen Verhaltens“ möchte er nicht verlassen!?

H. KELSEN geht mit der Frage der Geltung der Norm und ihrer Übertragung auf das menschliche Verhalten – eben dann als „Recht“ bezeichnet“ – hinweg „wie der Hahn über die glühenden Kohlen“ (Sprichwort, bei KANT oder FICHTE?) –

ohne a ) die Übertragung selbst, das Bild der Geltung in der Schematisierung der Norm auf das zwischenmenschliche Handeln darstellen zu können (bei FICHTE „Aufforderung“ und „Anerkennung“ genannt) und

b) ohne transzendentale Einsicht in einen subjektiv-objektiven Wert- und Sinnzusammenhang. Er sagt zwar, dass der Sinngehalt in der Norm liegt, weil er ihn transzendentallogisch irgendwie braucht, aber erst post festum wird eine nachträgliche Sinnerklärung geliefert z. B. um Sicherheit und Frieden zu stabilisieren, zur Selbsterhaltung usw. wird das oder jenes als Gesetz erlassen und als Recht festgelegt. 

Es wird m. E. weder a) die eigene Freiheit der Selbstbestimmung, noch die andere Freiheit in ihrer Selbstzwecklichkeit konstitutionsgenetisch aus einem höheren Geltungsgrund abgeleitet – wie bei FICHTE als Vernunfteffekt in und aus der ERSCHEINUNG des Absoluten in Abstimmung mit anderer Freiheit und anderer Personalität; 

noch b) ein von sich und durch sich sich zeigender und bewährender Sinn und Wert gezeigt,

c) noch die grundsätzlichen, ersten Anwendungsbedingungen eines rechtlichen Verhältnisses (Leiblichkeit, Kommunikabilität) in Ansätzen beschrieben.

Die bei H. KELSEN folgenden „Anwendungsbedingungen“ des Rechts setzen bereits ein vollständiges Erkenntnissystem und ein fertiges (an sich a-soziales) Subjekt voraus – und die Rechtsverhältnisses zwischen freien Personen werden als deduktiv-nomologisches System geschildert, wie wenn von außen eine geographische Katastrierung vorgenommen werden würde – oder  eine botanische Klassifizierung. Aus der Prämisse der Norm und dem Mittelsatz des „Verhaltens“ folgt der Schlussatz einer Funktion – im Zivilrecht, im Strafrecht, im Staatsrecht.

Das fertige Subjekt und die fertige Sozietät sind vorausgesetzt, die Funktion ist die Gleichung von Norm und Verhalten, und so ist Recht funktional zu begründen und zu verstehen.  Es ist nicht beabsichtigt, vom Individuum ausgehend, das zuerst selbst Richter ist in einem Verhältnis zu einer anderen Person, nach der ebenfalls innewohnenden Idee der Gerechtigkeit, in Verträgen und im friedlichen Austausch, das Recht genetisch zu erzeugen und darzustellen – und damit auch genetisch zu begründen und zu rechtfertigen.  Das Recht ist immer schon positiv vorhanden, ist ein funktionierender Zusammenhang von Norm und „Verhalten“ – und manche Geisteswissenschafter, die aber hier wie Naturwissenschafter agieren, kennen diesen Geltungsbereich (als Rechtsphilosophen, als Juristen) und erklären anderen, wie Recht entsteht und gesprochen wird, d. h. wie eine Ermächtigung zur Rechtssprechung entsteht, und was Recht an Erlaubnis und an Verbot bedeutet – und andere kennen das nicht. Aber wodurch unterscheidet sich die Rechtssprechung und das Zwangssystem des Rechts noch von den übrigen soziologischen Parametern, unter denen wir anscheinend alle stehen? Es ist ein ständiges Neu-Unterscheiden, Neu-Differenzieren und Bestimmen – analog zu den gesellschaftlichen Bestandsaufnahmen einer Soziologie. „Soziologische Aufklärung“ ist angesagt (N. LUHMANN), wenn die faktischen Bedingungen des Rechts gefunden und in einem faktischen System zusammengestellt werden sollen.  

Der Sinngehalt der Norm, gleich in welchem Geltungsbereich, ist idealistisch/realistisch vorgegeben, er ist und existiert im Gedachtsein.

Die Geltung der menschliches Verhalten regelnden Normen im allgemeinen und somit insbesondere der Rechtsnormen ist eine raum-zeitliche Geltung, insoferne diese Normen raum-zeitliche Vorgänge zum | Inhalt haben. Daß die Norm gilt, bedeutet stets, daß sie für irgendeinen Raum und für irgendeine Zeit gilt; das heißt, daß sie sich auf Vorgänge bezieht, die sich nur irgendwo und irgendwann abspielen können. Die Beziehung der Norm zu Raum und Zeit ist der räumliche und zeitliche Geltungsbereich der Norm. (…)“ (RR1, ebd. S 7.8)

Ich möchte wieder schließen mit M. GERTEN, der den Unterschied zwischen Geltung in sich und durch sich – oder  nur in gedachter Geltung so ausdrückt:

„Die unbemerkte Nichtunterscheidung des Geltens der Geltung vom vorstellenden Gedachtsein/Begriff und der willentlichen Anerkennung der Geltung ist der Grundfehler, der notwendig zu einer Verfehlung des Geltungsgedankens (und damit auch zu einer falschen Urteilstheorie, Werttheorie, Wahrheits theorie usw.) führt. Geltendes (etwas, das gilt) verdankt zwar seinen Inhalt, seine Bestimmtheit (Objektmoment), die ich ja nur zusammen mit ihrem Gedachtsein (Subjektmoment) habe, dem Denken, seine Geltung aber eben nicht dem Gedachtsein. Das gilt auch für den Begriff der Geltung selbst: dass Geltung begrifflich vorgestellt und willentlich anerkannt wird, verdankt sie dem vorstellenden und frei wollenden Bewusstsein, dass sie gilt jedoch nur „sich selbst – die begriffliche Vorstellung der Geltung ist eben nicht die Geltung der begrifflichen Vorstellung der Geltung!“ 4

Ich möchte zugeben, die transzendentale Einsicht in die Differenz-Einheit von Objektivität und Subjektivität lässt sich nicht leicht durchhalten, wenn man zu einer konkreten Geltungserhebung schreitet, sei es zur Ermächtigung der Rechtssprechung, oder sei es zu einer konkreten Erlaubnis oder zu einem Verbot, das ist ständige Rückbesinnung auf den intelligierenden Grund des Geltungs- und Wahrheitsgedankens – aber die Rechtsbegründung und Rechtserklärung zuerst in einen idealistisch/realistischen  Ideenhimmel zu verschieben, um dann auf die Realität („Verhalten“, eigentlich nicht andere Freiheit?) übertragen zu werden, das verlässt definitiv die Einheit der Geltung. 5

Wie der ganze Erfahrungshorizont des Wissens, inklusiv des rechtlichen und sittlichen und religiösen Wissens mittels praktischer Momente in der Erkenntnisleistung dargestellt werden kann – dazu siehe andere Blogs zur transzendentalen Erkenntnislehre FICHTES. Eine Geltung wird über eine interne, eigene, objektive, hierarchische Gliederungsordnung in Grundwerten zu einer (subjektiven) Forderung, zum Sollen, zur Norm für Freiheit, die diese Forderung bejahen oder verneinen kann. (Siehe Blog „Zur infinitas des absoluten Solls“ – nach M. Ivaldo – Link.)

Der Geltungsbegriff bei H. KELSEN ist mir verschwunden in einem deduktiv-nomologisches System der Erklärung von  „Rechten“ und Gesetzen  und Verordnungen. Warum es genetisch zu diesem oder jenem Gesetz oder Recht kommt, ausgehend vom einzelnen, wird nicht abgeleitet und braucht anscheinend nicht begründet werden, denn „Recht“ ist wie das „menschliche Verhalten“ eine positive Wirklichkeit, über die es müssig ist zu streiten, warum es das gibt und warum es Recht geben soll und warum nicht.

© Franz Strasser 24. 6. 2021

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1M. GERTEN, Sein oder Geltung. Fichte-Studien Bd. 47, 2019, S 208.

2Natürlich kennt H. KELSEN auch die Fragen um die „Ding-an-sich“ Problematik. Wir haben nur die Erscheinungen, nicht die Dinge selbst. Ist das beim Recht ebenso? H. KELSEN diskutiert diese Frage an dem Ort der erkennbaren oder auch nicht-erkennbaren Willensfreiheit – vgl. RR2, Abschnitt 23, lange Anmerkung, S 102ff). Dort wird die Frage erkenntniskritisch zu lösen versucht in dieser Doppeltheit wie bei KANT. Aber die Frage Erscheinung und „Ding-an-sich“ wäre bereits bei der Frage der Definition der Erscheinung der Norm und der Erscheinung von Geltung zu diskutieren.

3 Natürlich könnten und müssten jetzt die vielen anderen Stellen zum „Geltungsgrund“ und zur Geltung der Rechtsform angeführt werden, siehe z. B. RR2, Abschnitt 4, S 9ff; Abschnitt 6, die Rechtsordnung, S 31ff; ebd. S 38ff u. a.

4M. Gerten, ebd. S 212.

5Was H. KELSEN unter Einheit der Grundnorm als Einheit der Vernunft meint, müsste ich extra diskutieren, ist aber ebenfalls nur die Methode eines reflexiven Denkens, die m. E. nicht den Geltungsgrund im werthaften, doxischen Sinne erreicht. KELSEN spricht zwar vom „Geltungsgrund“, meint es aber nur begrifflich. Das ist nur eine Äquivokation. 

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser