Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Ausgabe 1934 – Lektüre, 2. Teil

H. KELSEN will wissenschaftlich das Recht erkennen und begreifen, was soviel heißt wie, positiv beschreiben und beobachten, wie es zu einem Recht kommt und was Recht bedeutet.

Das Recht a) als Da-Sein existiert, ist für ihn in den Normen ablesbar, ist ein Soll (RR1, Abschnitt 11, ebd. S 20ff; ).  Dabei muss das Recht abgegrenzt werden gegen die Moral, ist unterschieden von der Idee der Gerechtigkeit, und hat eine anti-ideologische Tendenz. (vgl. RR1, Abschnitte 8 – 9, ebd. S 12 – 18.) Die Normen beziehen sich auf ein ermächtigtes oder erlaubtes oder verbotenes Verhalten.
Das Recht drückt ferne b) ein gewisses Was-Sein, eine Beschaffenheit, einen Zwang aus, und ist c) schließlich ein „Ist“, ein Sein im Sinne der Urteilskopula einer positiven Feststellung. 

Nun stellte bekanntlich ARISTOTELES ausdrücklich fest, dass es mit dem Wort „Sein“ (on/to on) so seine Tücken hat.  Ich zitiere hier M. GERTEN, Sein oder Geltung, Fichte-Studien Bd. 47, 2019, S 207.

Sein im Sinne der Urteilskopula mit der Funktion etwas (zu Bestimmendes) als etwas (Bestimmtes) durch Prädikate (Bestimmungen/Bestimmtheiten) zu bestimmen. Diese Bestimmungsfunktion enthält zwei Momente: (a) die Synthesis der bestimmenden Prädikate mit dem zu bestimmenden logischen Subjekt/Gegenstand, und (b) eine in der Regel nur implizit mitbehauptete) Geltungsprätention (Wahrheitsanspruch), denn von der Synthesis wird zugleich behauptet, dass sie ist im Sinne eben von ,gilt/wahr ist (sog. ‚veritatives Sein‘). Beispiele: „Die Erde ist eine Kugel“ (= ausformuliert: „Die bestimmende Synthesis des Planeten Erde mit der Bestimmung der geometrischen Form der Kugel gilt/ist wahr“).

In einer m. E. unkritischen Übernahme der kantischen Erkenntnistheorie, wonach kraft des Erkenntnisaktes die Bedeutung und der Sinngehalt eines Gegenstandes festgelegt und erkannt werden kann,  schreitet H. KELSEN zielbewusst auf den ideellen Gegenstandsbereich der Normen und des Rechts zu, ohne aber die Konstitutionsgenese dieser rechtlichen Gegebenheit zu durchschauen  oder darüber zu reflektieren. 

Bei KANT ist es so: Er baut mittels Verstandesbestimmungen und Grundsätzen des Verstandes den Gegenstandsbereich der sinnlichen Natur auf, und stellt unverbunden die Gesetze der praktischen Vernunft, d. h. der Moralität und Legalität, neben die theoretischen Erkenntnisleistungen. In einer nachträglichen Reflexion werden die theoretischen und praktischen Welten zwar zu verbinden gesucht, aber es bleibt eine gewisse Dichotomie. Aus diesen nicht zu vereinbarenden Zweiheit zieht H. KELSEN die Konsequenz, dass für den praktischen Bereich der Moralität und des Rechts ebenfalls die engen Grenzen der theoretischen Gegenstandserkenntnis gelten müssen. Natürlich nicht im Sinne einer sinnlichen Gegenstandserkenntnis, aber doch analog, in einer schematisierten Synthesis von Begriff und Anschauung, d. h. in dem Sinne einer Synthesis von ideellem Begriff (hier Norm) und  realem Anschauungsbereich des menschlichen Verhaltens.

Bei sehr guter Kenntnis der kantischen Kritiken entgeht jetzt m. E. H. Kelsen aber  der Primat der praktischen Vernunft über die theoretische Vernunft!?  (Wäre er noch zu FICHTE weitergegangen, so hätte er im Erkennen und praktischen Wollen und Handeln sehr wohl intelligible Erkenntnisse und Perzeptionen entdeckt, mithin die Totalität eines sittlich Guten, die Personalität des anderen, die Idee von Gerechtigkeit u. a. m.)

Die Erkenntniskritik von H. Kelsen,  abgeleitet aus der KrV,  ist, wie in der Lektüre 1. Teil schon gesagt, letztlich eine idealistische/ realistische  Denkart in der Weise, dass im Begriff der Norm plötzlich eine  Welt an sich  von „Rechten“  auftaucht,  die  äußerlich gesehen auf eine Welt des „Verhaltens“ übertragen wird. 

Dazu wieder M. GERTEN: „Nun scheint eine allgemeine Gefahr des Denkens und Sprechens, seine Tendenz zu Substantivierungen und falschen Hypostasierungen, in Verbindung mit dem Wort „Sein‘ besonders groß zu sein. Dadurch wird die natürliche‘, ohne reflexive Besinnung sich selbst überlassene Denkhaltung verleitet, aus allem ein Seiendes zu machen. Wenn aber schlechthin alles ein Seiendes ist, dann bleibt für das Nicht-Seiende nur noch die Möglichkeit, dass es, wenn es nicht ist, eben schlechthin Nichts ist. Auf diesem Standpunkt bleibt als einziger Weg, das Nicht(-gegenständlich)-,Seiende‘ vor diesem Nichts zu retten, es doch wieder zu einem „irgendwie“ Seienden zu machen. Die Hypostasierung von Begriffen, Ideen, Werten, Prinzipien, Gesetzen, Normen und ähnlichen „Enti täten‘ (hier logisch gemeint im Sinne von ,etwas überhaupt‘) zu Seiendem (on tologisch verstanden als existierende Substanzen) ergibt letztlich immer ein ontologisierendes Stockwerksdenken: einer ,sinnlichen‘, diesseitigen Welt mit existierenden, erkennbaren Gegenständen wird eine übersinnliche‘, jenseiti ge Welt entgegengesetzt, die ,besiedelt ist von mehreren existierenden, aber nur schwer oder gar nicht erkennbaren Gegenständen‘. Die Folge ist ein pe rennierender Streit, welche dieser Welten die eigentliche ist: ,materialistisch gesehen die sinnliche, oder „idealistisch‘ gesehen die übersinnliche. Solche Weltverdoppelung wird von einer transzendental-kritischen Philosophie zu Recht als dogmatisch abgelehnt.“ 1

Wie die Welt der sinnlichen Erscheinungen mittels Synthesen und Schematismen,  so ist ebenso die intelligible  und eigene Welt des Rechts in spezifischen Synthesen und  legitimatorischen Verfahrensweisen erkennbar. 2

Anders gesagt: Eine Norm wird mittels Schematisierung angewandt, und der Rechtsbegriff wird positiv oder  negativ als Zwangsrecht charakterisiert. Das durch Verfahren und Schematisierung im Denken positivistisch gesetzte Recht wird dabei entweder hautnah als angenehme Erlaubnis empfunden, oder als schmerzliche Strafe (Sanktion), oder als Ermächtigung zur Gesetzgebung und Rechtssprechung autorisiert.

Was ist aber  KANT in seiner transzendentalen Erkenntnisbegründung und in Folge H. KELSEN entgangen? Die genetische Evidenz und Wahrheit, wodurch es überhaupt zu einer Erzeugung eines Urteils und einer Erkenntnis kommen kann. Die transzendentalen Verstandesbestimmungen KANTS wie Quantität, Qualität, Kategorien der Erfahrung, Kategorien der Modalität, können als Urteilsfunktionen nicht per se Gültigkeit und Wahrheit beanspruchen, weil ihnen die genetische Erzeugung aus den höheren Reflexionsbestimmungen des Wissens fehlt, mithin die praktisch-sittliche Legitimation. 

Wie ganz anders beginnt die Naturrechtslehre bei FICHTE: Nicht die Grundsätze des Verstandes sind es, die eine personale und interpersonale Welt und damit rechtliche Welt aufbauen, sondern die Denkformen der reflektierenden Urteilskraft, die den Zweckbegriff einer eigenen wie fremden (positiven) Freiheit bilden. Wir hätten keine Personenwelt, m. a. W. keine Rechtswelt, gäbe es nicht diese Reflexionsformen – und dazu kommen noch die Reflexionsformen des freien Prinzipiierens in einer moralischen Idee und des freien Prinzipiertwerdens in einer religiösen Idee.

Bei H. KELSEN ist von vornherein alles nur durch den Modus der sinnlichen Verstandesbegriffe gefasst, in weiterer Folge aber damit alles in einem schlechten Sinne  im „platonischen“ Himmels angesiedelt, wodurch der alles entscheidende Geltungs- und Wahrheitsbegriff in der „Grundnorm“ und den weiteren Normen  ebenfalls zu Bedingungen der Grundsätze des Verstandes vergegenständlicht wird.

Was „Geltung“ heißt, das ist herabgedrückt zu einem gegenständlichen Sein und wird wie ein positiv Seiendes durch logisches Denken und  legislatives und exekutives Verfahren zu gewinnen und zu erkennen versucht. Die „Geltung und (der) Geltungsbereich der Norm“ (RR1, Abschnitt 6, ebd. S 7) kann ideell festgestellt und eingeteilt werden, sie kann begrenzt oder unendlich sein (RR1, S 8), kann sich auf einen sachlichen (oder materiellen) Bereich beziehen, oder auf eine personalen Bereich (ebd. S 8-9). Das ist für mich alles bloß äußere, historische Klassifikation – wie in der Biologie oder Zoologie. 

Die Norm mit ihrem durch den Erkenntnisakt geschaffenen Sinngehalt beschreibt und beurteilt,  statisch oder dynamisch, wie das Verhalten des Menschen zu sanktionieren ist, was sein soll oder sein darf, und was nicht sein darf. Die Norm wird zu einem Zwangsgesetz (statisch oder dynamisch) – und durch Zusammenhang der Normen in einer ideellen Einheit einer Grundnorm ist diese „platonische“ übersinnliche Verstandeserkenntnis des Rechts positiv wahr, oder, wenn wir den Verstandesgesetzen des Denkens glauben möchten, sogar verstandlich-apodiktisch wahr und gültig.

Die Konstitutionsgenese  hingegen dieser Verstandes-Sätze ist  hier so gut wie ganz entfallen, weil die Genesis der Vorstellung der Begriffe vom sinnlichen Bereich des Verhaltens herkommt und von dort ihre Legitimation bezieht. Es kann aber genetisch nicht begründet werden, warum historisch der Gehalt in einer Vorstellung gilt oder nicht gelten soll.
Ein Beispiel: Bei uns gilt Redefreiheit, in Hongkong nicht. Warum dort nicht?   Es gibt  dafür nur historische oder parlamentarisch-diktatorische Erklärungen, aber keine genetisch einsichtige Grund-Rechte oder Menschenrechte oder universale Ableitungen. 

In der GNR FICHTES umgekehrt wird ein (teilabsoluter) Geltungsgrund eines synthetischen Begriffes „Recht“ notwendig vorausgesetzt, dessen Evidenz von sich her sich als immanent wie transzendent bewährt und in einer Rechtsordnung nach praktisch-logischen Gesetzen universal ausgebaut werden kann.   Das Bild und der Begriff des Rechts und der verobjektivierte Rechtssatz entspringen  genetisch  und als phänomenologische Tatsache der übergeordneten Erscheinung (oder Freisetzung) eigener wie fremder Freiheit – und sind zu ständiger Verbesserungen und Realisierung aufgegeben.  

Dieser trans-immanente Geltungsgrund  eigener wie fremder Freiheit ist primär ein Reflexionsbegriff, der von sich und durch sich, formal wie material, im Vollzug des Wissens und in einem Gehalt eines Wertes bzw. in einer Werthierarchie, aufleuchtet und gilt und wahr ist. 

M. a. W., das „ist“ dieses Geltungsbezuges und Geltungsgrundes ist ein göttliches und interpersonales, werthaftes und veritatives Sein, – und hat natürlich eine ganz andere Bedeutung als das „ist“ eines nur positiv festgestellten Tatbestandes oder Sachverhaltes, der unter den Begriff der Norm subsumiert wird, als könnte begrifflich alleine festgesetzt  werden, was  der Inhalt dieser Norm und das Recht jedes einzelnen Vernunftwesens ist oder sein soll. 

H. KELSEN wird hier ziemlich dogmatisch und diktatorisch, wenn er den Begriff der „Geltung“, oder den „Geltungsgrund“ einführt – siehe hier in RR1, Abschnitt 6, die „Geltung und der Geltungsbereich der Norm“ (RR1, ebd. S 7).3

Wenn im Vorhergehenden von einer »Geltung« der Norm gesprochen wird, so soll damit zunächst nichts anderes ausgedrückt werden als die spezifische Existenz der Norm, die besondere Art, in der sie gegeben ist; zum Unterschied von dem Sein der natürlichen Wirklichkeit, das in Raum und Zeit verläuft.“ (ebd.)

Das klingt harmlos, ist aber das Problem dieser idealistisch/realistischen Erkenntnistheorie, dass das Da-Sein der Norm vorausgesetzt (hypostasiert) wird, ohne Rechenschaft abzulegen, woher sie kommt, wie sie gebildet ist, und warum die Vorstellung dieser (oder jener) Norm denn gelten soll? Der Geltungsbegriff in dieser Vorstellung ist nicht differenziert als solcher hervorgehoben, als Wahrheits-Wissen und Begriff der Freiheit, und ist nicht von einem bloßen Gedachten (der Norm) abgehoben. Die Erkenntnistheorie ist von der Methode überlagert.   

Die Norm als solche, nicht zu verwechseln mit dem Akt, in dem sie gesetzt wird, steht – da sie keine natürliche Tatsache ist – nicht in Raum und Zeit.“ (ebd. S 7)

Das spricht deutlich eine dogmatisch behauptete Intelligibilität  der Norm an und führt, in Parallelität dazu, weil ja irgendwie doch diese pseudo-platonische Idee mit der Realität verträglich gemacht werden soll, zu einer materialen Dialektik der Übertragung der Geltung auf Zeit und Raum und auf das „menschliche Verhalten“.

Aber da der mögliche Inhalt der Norm derselbe ist wie der mögliche Inhalt des tatsächlichen Geschehens, da sich die Norm mit ihrem Inhalt auf dieses tatsächliche Geschehen, vorallem: auf menschliches Verhalten bezieht, muß der Raum ebenso wie die Zeit, in dem das durch die Norm bestimmte menschliche Verhalten vorsichgeht, im Sinne der Norm vorsichgehen soll, im Inhalt der Norm mit bestimmt sein.“ (Hervorhebung von mir, ebd. S 7)

Der Begriff der Norm wird –  analog zu KANTS Schematismuskapitel der KrV,  in der die Begriffe auf die Anschauungsformen von Zeit und Raum (oder schlampig auf die „Realität“) übertragen werden –  zur positiven Gesetzgebung und Herrschaftsausübung  von Gesetzen und Vorschriften.
Umgekehrt ist das „Verhalten“  nicht mehr ein essentieller Gehalt einer anderen, werthaften Person oder eine andere vorausgesetzte Freiheit, sondern eine irgendwie sozial bemessene, konventionell gebildete, parlamentarisch- konditionierte Größe im Hinblick auf eine Norm. 

Anschließend möchte H. KELSEN seine normative Setzung des Rechts zwar von jeder Soziologie und Psychologie, später von allem Naturrecht und Vernunftrecht und jeder Ideologie, abgrenzen, aber die empirische Basis des „bestimmten menschlichen Verhaltens“ möchte er nicht verlassen!?

H. KELSEN geht mit der Frage der Geltung der Norm und ihrer Übertragung auf das menschliche Verhalten einfach hinweg, ohne a ) die Übertragung selbst, das Bild der Geltung in der Schematisierung der Norm auf das zwischenmenschliche Handeln, darstellen zu können  – bei FICHTE als  „Aufforderung“ und „Anerkennung“ beschrieben -, und 

b) ohne transzendentale Einsicht in einen subjektiv-objektiven Wert- und Sinnzusammenhang. Er sagt zwar, dass der Sinngehalt in der Norm liegt, weil er ihn transzendentallogisch irgendwie braucht, aber erst post festum wird eine nachträgliche Sinnerklärung geliefert z. B. um Sicherheit und Frieden zu stabilisieren.

Es wird m. E. weder c) die eigene Freiheit der Selbstbestimmung, noch die andere Freiheit in ihrer Selbstzwecklichkeit konstitutionsgenetisch aus einem höheren Geltungsgrund abgeleitet.

noch d) ein von sich und durch sich sich zeigender und bewährender Sinn und Wert gezeigt,

e) noch die grundsätzlichen, ersten Anwendungsbedingungen eines rechtlichen Verhältnisses (Leiblichkeit, Kommunikabilität) in Ansätzen beschrieben.

Die bei H. KELSEN folgenden „Anwendungsbedingungen“ des Rechts setzen bereits ein vollständiges Erkenntnissystem und ein fertiges (an sich a-soziales) Subjekt voraus – und die Rechtsverhältnisse zwischen freien Personen werden als deduktiv-nomologisches System geschildert, wie wenn von außen eine geographische Katastrierung  oder biologische Klassifizierung des Rechts vorgenommen werden könnte.  Aus der Prämisse der Norm und dem Mittelsatz des „Verhaltens“ folgt der Schlussatz einer Funktion –  Zivilrecht,  Strafrecht,  Staatsrecht (u. a. Rechtssysteme) genannt. 

Das fertige Subjekt und die fertige Sozietät sind vorausgesetzt, die Funktion ist die Gleichung von Norm und Verhalten, und so ist Recht funktional zu begründen und zu verstehen.  Es ist nicht beabsichtigt, vom Individuum auszugehen, das zuerst selbst Richter ist und in einem Ur-Rechts-Verhältnis zu einer anderen Person steht, das ferner eine Idee von Gerechtigkeit im Anerkennungsverhältnis liegt,  dass Recht und Gerechtigkeit sich bildet in Verträgen und zahlreichen anderen Folgesätzen.   
Das Recht ist nach H. KELSEN  positiv gesetzt, ist ein funktionierender Zusammenhang von Norm und „Verhalten“ – und wie es Naturwissenschafter gibt, die sich in der Natur auskennen und sie besser kennen als ein anderer, gibt es Juristen, die die Gesetzesmaterie kennen und sie den anderen erklären und vorschreiben können.  

Wodurch unterscheidet sich diese positive Rechtssprechung und das Zwangssystem des Rechts noch von den übrigen naturalen und soziologischen Parametern, unter denen wir anscheinend alle stehen? Es ist ein ständiges Neu-Unterscheiden, Neu-Differenzieren und Bestimmen – analog zu den gesellschaftlichen Bestandsaufnahmen einer Soziologie.
„Soziologische Aufklärung“ ist angesagt (N. LUHMANN), wenn die faktischen Bedingungen des Rechts gefunden und in einem faktischen System zusammengestellt werden sollen – und je nach Erwartungshaltung oder machtpolitischer Kraft wird das „Recht“ zur Geltung gebracht. 

Der Sinngehalt der Norm, gleich in welchem Rechtsbereich, ist idealistisch/realistisch vorgegeben, er ist und existiert im Formuliertsein und dem dahinterliegenden Gedachtsein.

Die Geltung der menschliches Verhalten regelnden Normen im allgemeinen und somit insbesondere der Rechtsnormen ist eine raum-zeitliche Geltung, insoferne diese Normen raum-zeitliche Vorgänge zum | Inhalt haben. Daß die Norm gilt, bedeutet stets, daß sie für irgendeinen Raum und für irgendeine Zeit gilt; das heißt, daß sie sich auf Vorgänge bezieht, die sich nur irgendwo und irgendwann abspielen können. Die Beziehung der Norm zu Raum und Zeit ist der räumliche und zeitliche Geltungsbereich der Norm. (…)“ (RR1, ebd. S 7.8)

Ich möchte wieder schließen mit M. GERTEN, der den Unterschied zwischen Geltung in sich und durch sich – oder  nur in gedachter Geltung so ausdrückt:

Die unbemerkte Nichtunterscheidung des Geltens der Geltung vom vorstellenden Gedachtsein/Begriff und der willentlichen Anerkennung der Geltung ist der Grundfehler, der notwendig zu einer Verfehlung des Geltungsgedankens (und damit auch zu einer falschen Urteilstheorie, Werttheorie, Wahrheits theorie usw.) führt. Geltendes (etwas, das gilt) verdankt zwar seinen Inhalt, seine Bestimmtheit (Objektmoment), die ich ja nur zusammen mit ihrem Gedachtsein (Subjektmoment) habe, dem Denken, seine Geltung aber eben nicht dem Gedachtsein. Das gilt auch für den Begriff der Geltung selbst: dass Geltung begrifflich vorgestellt und willentlich anerkannt wird, verdankt sie dem vorstellenden und frei wollenden Bewusstsein, dass sie gilt jedoch nur „sich selbst – die begriffliche Vorstellung der Geltung ist eben nicht die Geltung der begrifflichen Vorstellung der Geltung!“ 4

Ich möchte zugeben, die transzendentale Einsicht in die Differenz-Einheit von Objektivität und Subjektivität lässt sich nicht leicht durchhalten, wenn man zu einer konkreten Geltungserhebung schreitet, sei es zur Ermächtigung der Gesetzesgebung oder zur exekutiven Rechtssprechung oder Rechtsadministration,  sei es zu einer konkreten Erlaubnis oder zu einem Verbot, weil a) einerseits die ständige Rückbesinnung auf den intelligierenden Grund der Geltungs- und Rechtsbegründung folgen muss und b) die konkreten Umstände doch pragmatisch und vielen anderen Parametern zu klären sind.
Die  Rechtsbegründung und Rechtsanwendung zuerst in einen idealistisch/realistischen Normen-Himmel zu erheben, um sie dann auf das Verhalten anzuwenden, das achtet
nicht mehr die Freiheit jedes einzelnen und sein Ur-Recht und die daraus folgenden Grundrechte und Bürgerrechte (Bei uns im liberalen Westen vielleicht, aber woanders gelten andere Interpretationen dessen, was als Recht gilt. Das ist die Tragödie. 5

Wie der ganze Erfahrungshorizont des Wissens, inklusiv des rechtlichen und sittlichen und religiösen Wissens mittels praktischer Momente in der Erkenntnisleistung dargestellt werden kann – dazu siehe andere Blogs zur transzendentalen Erkenntnislehre FICHTES. Eine Geltung wird über eine interne, eigene, objektive, hierarchische Gliederungsordnung in Grundwerten zu einer (subjektiven) Forderung, zum Sollen, zur „Norm“, wenn man so sagen will, durch Freiheit für Freiheit. (Siehe Blog „Zur infinitas des absoluten Solls“ – nach M. Ivaldo – Link.)

Der Geltungsbegriff bei H. KELSEN scheint mir verschwunden in einem deduktiv-nomologisches System der Normen. Die Rechte (und Pflichten) sind in ihrem Geltungsanspruch umgewandelt in Verordnungen prozessual handelnder Parlamente oder direkt als Machtsprüche von  Diktatoren erlassen. 

© Franz Strasser 24. 6. 2021

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1M. GERTEN, Sein oder Geltung. Fichte-Studien Bd. 47, 2019, S 208.

2Natürlich kennt H. KELSEN auch die Fragen um die „Ding-an-sich“ Problematik. Wir haben nur die Erscheinungen, nicht die Dinge selbst. Ist das beim Recht ebenso? H. KELSEN diskutiert diese Frage an dem Ort der erkennbaren oder auch nicht-erkennbaren Willensfreiheit – vgl. RR2, Abschnitt 23, lange Anmerkung, S 102ff). Dort wird die Frage erkenntniskritisch zu lösen versucht in dieser Doppelheit wie bei KANT.

3Natürlich könnten und müssten jetzt die vielen anderen Stellen zum „Geltungsgrund“ und zur Geltung der Rechtsform angeführt werden, siehe z. B. RR2, Abschnitt 4, S 9ff; Abschnitt 6, die Rechtsordnung, S 31ff; ebd. S 38ff u. a.

4M. Gerten, ebd. S 212.

5Was H. KELSEN unter „Einheit der Grundnorm“ als Einheit der Vernunft meint, müsste extra diskutiert werden, ist aber m. E. nur äquivoke und missverständliche  Rede vom Geltungsgrund: Einmal ist in der Grundnorm anscheinend reduktiv-logisch der „Geltungsgrund“  erreicht, das anderen Mal soll deduktiv-logisch diese Einheit der Grundnorm  als „Geltungsgrund“ eingesehen werden, besagt aber hier nur administrative und exekutorische Anwendung der bereits aufgestellten Grundnorm. Ein „Geltungsgrund“ ohne freie Einsicht und Bejahung seitens jedes Vernunftwesens kann kein allgemein geltender und allgemein gültiger Geltungsgrund sein.  

Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser