Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Ausgabe 1934 – Lektüre, 2. Teil

H. Kelsen RR1, 1934 – Lektüre, 2. Teil; zum Geltungsbegriff

H. KELSEN will wissenschaftlich das Recht erkennen und begreifen, was soviel heißt wie, positiv beschreiben und beobachten, was Recht sein kann, besser gesagt, Recht IST (nach dieser Theorie). Das Recht a) als Da-Sein existiert, ist für ihn in den Normen ablesbar, ist ein Soll (RR1, Abschnitt 11, ebd. S 20ff; ).  Dabei muss das Recht abgegrenzt werden gegen die Moral, ist unterschieden von der Idee der Gerechtigkeit, und hat eine anti-ideologische Tendenz. (vgl. RR1, Abschnitte 8 – 9, ebd. S 12 – 18.) Die Normen beziehen sich auf ein ermächtigtes oder erlaubtes oder verbotenes Verhalten. Das Recht drückt b) ein gewisses Was-Sein, eine Beschaffenheit, dann als Zwangsrecht beschrieben, aus, und ist c) schließlich ein „ist“, ein Sein im Sinne der Urteilskopula einer positiven Feststellung. 

Nun stellte bekanntlich ARISTOTELES ausdrücklich fest, dass es mit dem Wort „Sein“ (on/to on) so seine Tücken hat.  Ich zitiere hier M. GERTEN, Sein oder Geltung, Fichte-Studien Bd. 47, 2019, S 207.

„Sein im Sinne der Urteilskopula mit der Funktion etwas (zu Bestimmendes) als etwas (Bestimmtes) durch Prädikate (Bestimmungen/Bestimmtheiten) zu bestimmen. Diese Bestimmungsfunktion enthält zwei Momente: (a) die Synthesis der bestimmenden Prädikate mit dem zu bestimmenden logischen Subjekt/Gegenstand, und (b) eine in der Regel nur implizit mitbehauptete) Geltungsprätention (Wahrheitsanspruch), denn von der Synthesis wird zugleich behauptet, dass sie ist im Sinne eben von ,gilt/wahr ist (sog. ‚veritatives Sein‘). Beispiele: „Die Erde ist eine Kugel“ (= ausformuliert: „Die bestimmende Synthesis des Planeten Erde mit der Bestimmung der geometrischen Form der Kugel gilt/ist wahr“).

In einer m. E. unkritischen Übernahme der kantischen Erkenntnistheorie, wonach kraft des Erkenntnisaktes die Bedeutung und der Sinngehalt eines Gegenstandes festgelegt und erkannt werden kann,  schreitet H. KELSEN zielbewusst auf den ideellen Gegenstandsbereich der Normen und des Rechts zu, ohne aber die Konstitutionsgenese dieser rechtlichen Gegebenheit zu durchschauen  oder darüber zu reflektieren. 

Bei KANT ist es so: Er baut mittels Verstandesbestimmungen und Grundsätzen des Verstandes den Gegenstandsbereich der sinnlichen Natur auf, und stellt unverbunden die Gesetze der praktischen Vernunft, d. h. der Moralität und Legalität, neben die theoretischen Erkenntnisleistungen. In einer nachträglichen Reflexion werden die theoretischen und praktischen Welten zwar zu verbinden gesucht, aber es bleibt eine gewisse Dichotomie. Aus diesen nicht zu vereinbarenden Zweiheit zieht H. KELSEN die Konsequenz, dass für den praktischen Bereich der Moralität und des Rechts ebenfalls die engen Grenzen der theoretischen Gegenstandserkenntnis gelten müssen. Natürlich nicht im Sinne einer sinnlichen Gegenstandserkenntnis, aber doch analog, in einer schematisierten Synthesis von Begriff und Anschauung, d. h. in dem Sinne einer Synthesis von ideellem Begriff (hier Norm) und  realem Anschauungsbereich des menschlichen Verhaltens. Bei sehr guter Kenntnis der kantischen Kritiken entgeht jetzt m. E. H. Kelsen doch der Primat der praktischen Vernunft über die theoretische Vernunft – und dass im praktischen Wollen und Handeln sehr wohl intelligible Erkenntnisse vorausgesetzt werden müssen  – die Totalität eines sittlich Guten, eine unbedingte formale Gesetzgebung, die  naturrechtlich einer anderen Person Selbstzweckcharakter zuspricht  u. a. m. – zumindest nach Kant formuliert.  

Diese einseitige Erkenntniskritik, abgeleitet aus der KrV,  ist, wie in der Lektüre 1. Teil schon gesagt, letztlich eine idealistische vice versa realistische  Denkart in der Weise, dass im Begriff der Norm, worin das Wesen des Rechts nach H. Kelsen letztlich besteht, plötzlich eine  Welt an sich  von „Rechten“  auftaucht, analog zu den physikalischen Naturgesetzen – die aber äußerlich gesehen wird als Welt des „Verhaltens“. Auf das Verhalten und  tägliche Leben der Menschen wird idealistisch/realistisch  die Norm schematisiert, und so ergeben sich die synthetisch gebildeten Gesetze und Vorschriften als Sein an sich. 

Dazu wieder M. GERTEN: Nun scheint eine allgemeine Gefahr des Denkens und Sprechens, seine Tendenz zu Substantivierungen und falschen Hypostasierungen, in Verbindung mit dem Wort „Sein‘ besonders groß zu sein. Dadurch wird die natürliche‘, ohne reflexive Besinnung sich selbst überlassene Denkhaltung verleitet, aus allem ein Seiendes zu machen. Wenn aber schlechthin alles ein Seiendes ist, dann bleibt für das Nicht-Seiende nur noch die Möglichkeit, dass es, wenn es nicht ist, eben schlechthin Nichts ist. Auf diesem Standpunkt bleibt als einziger Weg, das Nicht(-gegenständlich)-,Seiende‘ vor diesem Nichts zu retten, es doch wieder zu einem „irgendwie“ Seienden zu machen. Die Hypostasierung von Begriffen, Ideen, Werten, Prinzipien, Gesetzen, Normen und ähnlichen „Enti täten‘ (hier logisch gemeint im Sinne von ,etwas überhaupt‘) zu Seiendem (on tologisch verstanden als existierende Substanzen) ergibt letztlich immer ein ontologisierendes Stockwerksdenken: einer ,sinnlichen‘, diesseitigen Welt mit existierenden, erkennbaren Gegenständen wird eine übersinnliche‘, jenseiti ge Welt entgegengesetzt, die ,besiedelt ist von mehreren existierenden, aber nur schwer oder gar nicht erkennbaren Gegenständen‘. Die Folge ist ein pe rennierender Streit, welche dieser Welten die eigentliche ist: ,materialistisch gesehen die sinnliche, oder „idealistisch‘ gesehen die übersinnliche. Solche Weltverdoppelung wird von einer transzendental-kritischen Philosophie zu Recht als dogmatisch abgelehnt.“ 1

Kraft Erkenntnisaktes und legitimatorischen Verfahrens wird statisch oder dynamisch das Recht konstituiert, d. h. wissenschaftlich aufgebaut und bestimmt (erklärt). Wie die Welt der sinnlichen Erscheinungen mittels Synthesen und Schematismen erkennbar ist, so ebenso die intelligible  und eigene Welt des Rechts in spezifischen Synthesen und  legitimatorischen Verfahrensweisen. 2

Anders gesagt: Eine Norm wird mittels Schematisierung angewandt, und der Rechtsbegriff wird positiv oder  negativ als Zwangsrecht charakterisiert. Das durch Verfahren und Schematisierung im Denken positivistisch gesetzte Recht wird entweder hautnah als angenehme Erlaubnis empfunden, oder als schmerzliche Strafe (Sanktion), oder als Ermächtigung zur Gesetzgebung und Rechtssprechung autorisiert.

Was ist aber damit KANT in seiner transzendentalen Erkenntnisbegründung und in Folge H. KELSEN entgangen? Die genetische Evidenz und Wahrheit, wodurch es überhaupt zu einer Erzeugung eines Urteils und einer Erkenntnis kommen kann. Die transzendentalen Verstandesbestimmungen KANTS wie Quantität, Qualität, Kategorien der Erfahrung, Kategorien der Modalität, können als Urteilsfunktionen nicht per se Gültigkeit und Wahrheit beanspruchen, weil ihnen die genetische Erzeugung aus den höheren Reflexionsbestimmungen des Wissens fehlt, mithin die praktisch-sittliche Legitimation. 

Wie ganz anders beginnt die Naturrechtslehre bei FICHTE: Nicht die Grundsätze des Verstandes sind es, die eine personale und interpersonale Welt und damit rechtliche Welt aufbauen können, sondern die Denkformen der reflektierenden Urteilskraft, die den Zweckbegriff einer eigenen wie fremden (positiven) Freiheit bilden. Wir hätten keine Personenwelt, m. a. W. keine Rechtswelt, gäbe es nicht diese Reflexionsformen – und dazu kommen noch die Reflexionsformen des freien Prinzipiierens in einer moralischen Idee und des freien Prinzipiertwerdens in einer religiösen Idee.

Bei H. KELSEN ist von vornherein alles nur durch den Modus der sinnlichen Verstandesbegriffe gefasst, in weiterer Folge aber damit alles in einem schlechten Sinne  des „platonischen“ Himmels angesiedelt, wodurch der alles entscheidende Geltungs- und Wahrheitsbegriff in der „Grundnorm“ und den weiteren Normen  ebenfalls zu Bedingungen der Grundsätze des Verstandes vergegenständlicht wird.

Was „Geltung“ heißt, das ist herabgedrückt zu einem gegenständlichen Sein und wird wie ein positiv Seiendes durch logisches Denken und Verfahren zu gewinnen und zu erkennen versucht. Die „Geltung und (der) Geltungsbereich der Norm“ (RR1, Abschnitt 6, ebd. S 7) kann ideell festgestellt und eingeteilt werden, sie kann begrenzt oder unendlich sein (RR1, S 8), kann sich auf einen sachlichen (oder materiellen) Bereich beziehen, oder auf eine personalen Bereich (ebd. S 8-9) – das ist alles Klassifikation – wie in der Biologie oder Zoologie, der „arbor porphyriana“ in der Rechtsphilosophie. 

Die Norm mit ihrem durch den Erkenntnisakt geschaffenen Sinngehalt beschreibt a priori, statisch oder dynamisch, wie das Verhalten des Menschen zu beurteilen ist, was sein soll, sein darf,  und was nicht sein darf, was Geltung hat und was nicht. Die Norm wird zu einem apriorischen Zwangsgesetz (statisch oder dynamisch) – und durch Zusammenhang der Normen in einer ideellen Einheit einer Grundnorm ist diese „platonische“ übersinnliche Verstandeserkenntnis des Rechts positiv wahr, oder, wenn wir den Verstandesgesetzen des Denkens glauben möchten, sogar apodiktisch wahr und gültig. (Bekanntlich hinterfragt z. B. FICHTE in der WL 1801/02 oder DESCARTES die notwendigen Denkgesetze; das könne  eine Täuschung eines genius malignus sein.)

Die Konstitutionsgenese der Verstandes-Sätze ist  hier so gut wie ganz entfallen, weil die Genesis der Vorstellung der Begriffe vom sinnlichen Bereich des Verhaltens her ihre Legitimation bezieht. Es kann aber genetisch nicht begründet werden, warum der Gehalt in einer Vorstellung gilt oder wahr sein soll, d. h. z. B. bei dieser Nation die Redefreiheit ein Grundrecht ist,  in Hongkong  nicht. Es gibt  nur historische oder parlamentarisch-diktatorische Erklärungen, aber keine Grund-Rechte oder Menschenrechte. 

In der GNR FICHTES umgekehrt wird ein  teilabsoluter  subjektiver wie objektiver Geltungsgrund eines synthetischen Begriffes „Recht“ notwendig vorausgesetzt, dessen Evidenz von sich her sich als immanent wie transzendent bewährt – und in einer Rechtsordnung ausgebaut (nach praktisch-logischen Gesetzen). Das Bild und der Begriff des Rechts und der verobjektivierte Rechtssatz entspringen  genetisch  als phänomenologische Tatsache der übergeordneten Erscheinung (oder Freisetzung) eigener wie fremder Freiheit – und natürlich zu ständigen Verbesserungen aufgegeben. 

Dieser trans-immanente Geltungsgrund einer eigenen wie fremder Freiheit ist primär ein Reflexionsbegriff, der von sich und durch sich, formal wie material, im Vollzug des Wissens und in einem Gehalt eines Wertes bzw. in einer Werthierarchie, aufleuchtet und gilt und ist. 

M. a. W., das „ist“ dieses Geltungsbezuges und Geltungsgrundes ist ein fremd-personales,  interpersonales, werthaftes und veritatives Sein, – und hat natürlich eine ganz andere Bedeutung als das „ist“ eines nur positiv festgestellten Tatbestandes oder Sachverhaltes, der unter den Begriff der Norm subsumiert wird, als könnte begrifflich alleine gewusst werden, was  der Inhalt dieser Norm ist und das Recht jedes einzelnen Vernunftwesens. 

H. KELSEN wird hier ziemlich dogmatisch und diktatorisch, wenn er den Begriff der „Geltung“, oder den „Geltungsgrund“ einführt – siehe hier in RR1, Abschnitt 6, die „Geltung und der Geltungsbereich der Norm“ (RR1, ebd. S 7).3

Wenn im Vorhergehenden von einer »Geltung« der Norm gesprochen wird, so soll damit zunächst nichts anderes ausgedrückt werden als die spezifische Existenz der Norm, die besondere Art, in der sie gegeben ist; zum Unterschied von dem Sein der natürlichen Wirklichkeit, das in Raum und Zeit verläuft.“ (ebd.)

Das klingt harmlos, ist aber das Problem dieser idealistisch/realistischen Erkenntnistheorie, dass das Da-Sein der Norm vorausgesetzt (hypostasiert) wird, ohne Rechenschaft abzulegen, woher sie kommt, wie sie gebildet ist, und warum die Vorstellung dieser (oder jener) Norm denn gelten soll? Der Geltungsbegriff in der Vorstellung ist nicht differenziert als solcher hervorgehoben, als Wahrheits-Wissen und Begriff der Freiheit, und ist nicht von einem bloßen Gedachten (der „Norm“) abgehoben. Die Erkenntnistheorie ist von der Methode überlagert.   

Die Norm als solche, nicht zu verwechseln mit dem Akt, in dem sie gesetzt wird, steht – da sie keine natürliche Tatsache ist – nicht in Raum und Zeit.“ (ebd. S 7)

Das spricht deutlich eine dogmatisch behauptete Intelligibilität  der Norm an und führt, in Parallelität dazu, weil ja irgendwie doch diese pseudo-platonische Idee mit der Realität verträglich gemacht werden soll, zu einer materialen Dialektik der Übertragung der Geltung auf Zeit und Raum und auf das „menschliche Verhalten“.

Aber da der mögliche Inhalt der Norm derselbe ist wie der mögliche Inhalt des tatsächlichen Geschehens, da sich die Norm mit ihrem Inhalt auf dieses tatsächliche Geschehen, vorallem: auf menschliches Verhalten bezieht, muß der Raum ebenso wie die Zeit, in dem das durch die Norm bestimmte menschliche Verhalten vorsichgeht, im Sinne der Norm vorsichgehen soll, im Inhalt der Norm mit bestimmt sein.“ (Hervorhebung von mir, ebd. S 7)

Der Begriff der Norm wird –  analog zu KANTS Schematismuskapitel der KrV,  in der die Begriffe auf die Anschauungsformen von Zeit und Raum übertragen (oder schlampig auf die „Realität“) werden –  auf  die Übertragung von Gesetzen und Vorschriften auf das menschliche Verhalten.  Das „Verhalten“ ist hier aber nicht mehr ein essentieller Gehalt einer anderen, werthaften Person oder eine andere vorausgesetzte Freiheit, sondern eine irgendwie sozial bemessene, konventionell gebildete, parlamentarisch- konditionierte Größe im Hinblick auf ein „rechtes“ Verhalten in einem Staate. 

Anschließend möchte H. KELSEN seine normative Setzung des Rechts zwar von jeder Soziologie und Psychologie, später von allem Naturrecht und Vernunftrecht und jeder Ideologie, abgrenzen, aber die empirische Basis des „bestimmten menschlichen Verhaltens“ möchte er nicht verlassen!?

H. KELSEN geht mit der Frage der Geltung der Norm und ihrer Übertragung auf das menschliche Verhalten – eben dann als „Recht“ bezeichnet“ –  einfach hinweg,

ohne a ) die Übertragung selbst, das Bild der Geltung in der Schematisierung der Norm auf das zwischenmenschliche Handeln, darstellen zu können  – bei FICHTE als  „Aufforderung“ und „Anerkennung“ beschrieben -, und 

b) ohne transzendentale Einsicht in einen subjektiv-objektiven Wert- und Sinnzusammenhang. Er sagt zwar, dass der Sinngehalt in der Norm liegt, weil er ihn transzendentallogisch irgendwie braucht, aber erst post festum wird eine nachträgliche Sinnerklärung geliefert z. B. um Sicherheit und Frieden zu stabilisieren, zur Selbsterhaltung usw. wird das oder jenes als Gesetz erlassen und als Recht festgelegt. 

Es wird m. E. weder c) die eigene Freiheit der Selbstbestimmung, noch die andere Freiheit in ihrer Selbstzwecklichkeit konstitutionsgenetisch aus einem höheren Geltungsgrund abgeleitet – wie bei FICHTE als Vernunfteffekt.

noch d) ein von sich und durch sich sich zeigender und bewährender Sinn und Wert gezeigt,

e) noch die grundsätzlichen, ersten Anwendungsbedingungen eines rechtlichen Verhältnisses (Leiblichkeit, Kommunikabilität) in Ansätzen beschrieben.

Die bei H. KELSEN folgenden „Anwendungsbedingungen“ des Rechts setzen bereits ein vollständiges Erkenntnissystem und ein fertiges (an sich a-soziales) Subjekt voraus – und die Rechtsverhältnisses zwischen freien Personen werden als deduktiv-nomologisches System geschildert, wie wenn von außen eine geographische Katastrierung  oder biologische Klassifizierung des Rechts vorgenommen werden könnte.  Aus der Prämisse der Norm und dem Mittelsatz des „Verhaltens“ folgt der Schlussatz einer Funktion – im Zivilrecht, im Strafrecht, im Staatsrecht.

Das fertige Subjekt und die fertige Sozietät sind vorausgesetzt, die Funktion ist die Gleichung von Norm und Verhalten, und so ist Recht funktional zu begründen und zu verstehen.  Es ist nicht beabsichtigt, vom Individuum ausgehend, das zuerst selbst Richter ist und in einem Ur-Rechts-Verhältnis zu einer anderen Person steht, ebenfalls erfüllt mit der apriorischen Idee von Gerechtigkeit, in Verträgen und im friedlichen Austausch, das Recht genetisch zu erzeugen und darzustellen – und damit auch genetisch zu begründen und zu rechtfertigen.  Das Recht ist (woher?) positiv vorhanden, ist ein funktionierender Zusammenhang von Norm und „Verhalten“ – und manche Geisteswissenschafter, die   hier wie Naturwissenschafter agieren, kennen diesen Geltungsbereich (als Rechtsphilosophen, als Juristen)   erklären, wie Recht entsteht und gesprochen wird, andere sind hier noch so bewandert und müssen diese Klassifizierungen über sich ergehen lassen,  d. h. was Recht ist und was nicht, was erlaubt und was verboten.    

Wodurch unterscheidet sich diese positive Rechtssprechung und das Zwangssystem des Rechts noch von den übrigen naturalen und soziologischen Parametern, unter denen wir anscheinend alle stehen? Es ist ein ständiges Neu-Unterscheiden, Neu-Differenzieren und Bestimmen – analog zu den gesellschaftlichen Bestandsaufnahmen einer Soziologie. „Soziologische Aufklärung“ ist angesagt (N. LUHMANN), wenn die faktischen Bedingungen des Rechts gefunden und in einem faktischen System zusammengestellt werden sollen – und je nach Erwartungshaltung oder machtpolitischer Kraft wird das „Recht“ zur Geltung gebracht. 

Der Sinngehalt der Norm, gleich in welchem Geltungsbereich, ist idealistisch/realistisch vorgegeben, er ist und existiert im Gedachtsein.

Die Geltung der menschliches Verhalten regelnden Normen im allgemeinen und somit insbesondere der Rechtsnormen ist eine raum-zeitliche Geltung, insoferne diese Normen raum-zeitliche Vorgänge zum | Inhalt haben. Daß die Norm gilt, bedeutet stets, daß sie für irgendeinen Raum und für irgendeine Zeit gilt; das heißt, daß sie sich auf Vorgänge bezieht, die sich nur irgendwo und irgendwann abspielen können. Die Beziehung der Norm zu Raum und Zeit ist der räumliche und zeitliche Geltungsbereich der Norm. (…)“ (RR1, ebd. S 7.8)

Ich möchte wieder schließen mit M. GERTEN, der den Unterschied zwischen Geltung in sich und durch sich – oder  nur in gedachter Geltung so ausdrückt:

„Die unbemerkte Nichtunterscheidung des Geltens der Geltung vom vorstellenden Gedachtsein/Begriff und der willentlichen Anerkennung der Geltung ist der Grundfehler, der notwendig zu einer Verfehlung des Geltungsgedankens (und damit auch zu einer falschen Urteilstheorie, Werttheorie, Wahrheits theorie usw.) führt. Geltendes (etwas, das gilt) verdankt zwar seinen Inhalt, seine Bestimmtheit (Objektmoment), die ich ja nur zusammen mit ihrem Gedachtsein (Subjektmoment) habe, dem Denken, seine Geltung aber eben nicht dem Gedachtsein. Das gilt auch für den Begriff der Geltung selbst: dass Geltung begrifflich vorgestellt und willentlich anerkannt wird, verdankt sie dem vorstellenden und frei wollenden Bewusstsein, dass sie gilt jedoch nur „sich selbst – die begriffliche Vorstellung der Geltung ist eben nicht die Geltung der begrifflichen Vorstellung der Geltung!“ 4

Ich möchte zugeben, die transzendentale Einsicht in die Differenz-Einheit von Objektivität und Subjektivität lässt sich nicht leicht durchhalten, wenn man zu einer konkreten Geltungserhebung schreitet, sei es zur Ermächtigung der Gesetzesgebung oder zur exekutiven Rechtssprechung oder Rechtsadministration,  sei es zu einer konkreten Erlaubnis oder zu einem Verbot, das verlangt ständige Rückbesinnung auf den intelligierenden Grund der Geltungs- und Rechtsbegründung.
Die  Rechtsbegründung und Rechtsanwendung zuerst in einen idealistisch/realistischen Normen-Himmel zu erheben, um sie dann auf das Verhalten anzuwenden, das achtet nicht die Freiheit jedes einzelnen und sein Urrecht und daraus folgenden Grundrechte und Bürgerrechte. 5

Wie der ganze Erfahrungshorizont des Wissens, inklusiv des rechtlichen und sittlichen und religiösen Wissens mittels praktischer Momente in der Erkenntnisleistung dargestellt werden kann – dazu siehe andere Blogs zur transzendentalen Erkenntnislehre FICHTES. Eine Geltung wird über eine interne, eigene, objektive, hierarchische Gliederungsordnung in Grundwerten zu einer (subjektiven) Forderung, zum Sollen, zur „Norm“, wenn man so sagen will, für Freiheit. (Siehe Blog „Zur infinitas des absoluten Solls“ – nach M. Ivaldo – Link.)

Der Geltungsbegriff bei H. KELSEN ist mir verschwunden in einem deduktiv-nomologisches System der Normen, und die Rechte und Gesetze in ihrem Geltungsanspruch sind umgewandelt in Verordnungen prozessual handelnder Parlamente.   Warum es genetisch zu diesem oder jenem Gesetz oder Recht kommen soll, das wird nicht von einer Idee des Urrechts oder der Gerechtigkeit abgeleitet bzw. nicht von der Idee der Freiheit,  sondern von den jeweiligen Bedingungen entscheidender Organe, die die Macht innehaben.  

© Franz Strasser 24. 6. 2021

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1M. GERTEN, Sein oder Geltung. Fichte-Studien Bd. 47, 2019, S 208.

2Natürlich kennt H. KELSEN auch die Fragen um die „Ding-an-sich“ Problematik. Wir haben nur die Erscheinungen, nicht die Dinge selbst. Ist das beim Recht ebenso? H. KELSEN diskutiert diese Frage an dem Ort der erkennbaren oder auch nicht-erkennbaren Willensfreiheit – vgl. RR2, Abschnitt 23, lange Anmerkung, S 102ff). Dort wird die Frage erkenntniskritisch zu lösen versucht in dieser Doppeltheit wie bei KANT.

3 Natürlich könnten und müssten jetzt die vielen anderen Stellen zum „Geltungsgrund“ und zur Geltung der Rechtsform angeführt werden, siehe z. B. RR2, Abschnitt 4, S 9ff; Abschnitt 6, die Rechtsordnung, S 31ff; ebd. S 38ff u. a.

4M. Gerten, ebd. S 212.

5Was H. KELSEN unter „Einheit der Grundnorm“ als Einheit der Vernunft meint, müsste extra diskutiert werden, ist aber m. E. nur äquivoke und missverständliche  Rede vom Geltungsgrund: Einmal ist in der Grundnorm anscheinend reduktiv-logisch der „Geltungsgrund“  erreicht, das anderen Mal soll deduktiv-logisch diese Einheit der Grundnorm  als „Geltungsgrund“ eingesehen werden, besagt aber hier nur administrative und exekutorische Anwendung der bereits aufgestellten Grundnorm. Ein „Geltungsgrund“ ohne freie Einsicht und Bejahung seitens jedes Vernunftwesens kann kein allgemein geltender und allgemein gültiger Geltungsgrund sein.  

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser