Fichtes Sittenlehre 1798 – 3. Teil – § 3 – 1. Teil

1) Die Tendenz zum Absoluten und die Zielbestimmung der inneren Tendenz zur Selbsttätigkeit um der Selbsttätigkeit willen muss in ihrem Was des Gehaltes und ihrer Idee  erhellt werden.

Es geschieht in der Form der „Deduktion“, d. h. neue Idealformen und Gesetze der Freiheit werden einerseits entworfen, andererseits ist FICHTE völlig klar, dass die Anwendung dieser Gesetze und Vorstellungen (von Freiheit, Selbstbestimmung, Sittlichkeit) zugleich die Reflexion ihrer Anwendungsbedingungen mitbedenken muss. Die fortlaufende Reflexion ist eine ständige neue Produktion von Begriffen, die die Idee von Freiheit, Selbstständigkeit, Sittlichkeit ins Unabsehbare konkretisiert.
Die Grundform der Idee wird aber nicht verlassen werden können, „denn die grundlegende Begriffsform der Idee ist nichts anderes als Nachkonstruktion der bloßen Gesetzesgenesis und ihrer reinen Begriffsfolgen (Negation, Bild.)“1

Es folgt in diesem längeren und starken § 3 (ebd. S 38 – 61) deshalb eine nächste Erhellung der Idee mit gleichzeitiger begrifflicher Anwendungsformen derselben in der Wirklichkeit. J. Widmann nennt es in seinem Buch „J. G. Fichte“ die „Erfolgungskontrolle“. „Damit eine Erfolgskontrolle möglich ist, müssen verschiedene Momente erfüllt sein: 1. Das freie Ich muss die Aufgabe wirklich in Angriff nehmen – 2. es muss die Aufgabe tatsächlich lösen – 3. die Lösung der Aufgabe muss ihm bewusst werden.“2

Ich möchte den nächsten § 3 in zwei Abschnitten  paraphrasieren. Er ist derartig dicht gedrängt in manchen Aussagen, dass ein höher gebildeter Leser (als ich es bin) zu jedem Absatz eine philosophiegeschichtliche Querverbindung herstellen könnte. Die herkömmlichen Begriffe der Philosophie werden neu bestimmt aus genetischer Ableitung.

1. 1) § 3: Die innere Tendenz soll für das Bewusstsein sein. Wie ist dieses Bewusstsein seiner Form nach beschaffen?

Wir möchten bei einer ursprünglichen Reflexion des Ichs ankommen, wodurch das Wesen des Ich bestimmt werden kann. (ebd., S. 39 ) Die gegenwärtige Reflexion ist der Möglichkeit nach erst zu begründen – was als Philosophieren überhaupt gelten kann.

Die gesetzte Tendenz äußert sich notwendig als Trieb auf das ganze Ich. So denkt nicht das ursprüngliche Ich, so denkt die Philosophie. (ebd., S. 39)

Die Tendenz ist gesetzt als Wesen des Ich. Sie ist gesetzt als bloße Tendenz, als Trieb – reeller innere Erklärungsgrund einer wirklichen Selbsttätigkeit.

Trieb, der treibt, das ist seine Äußerung. Das Ich, in welchem der Trieb ist, und auf welches er sich äußert, wird hier bloß objektiv gedacht – im Unterschied zum subjektiven Ich. (Das Ich ist aber immer beides, objektives und subjektives Ich.)

Im triebhaften, objektiven Ich wird, sobald die Bedingung eintritt, dessen Selbsttätigkeit bewirkt.(S 40 )

Das Ich soll hier subjektiv und objektiv gedacht werden. Vorher hieß es, dass die Tatkraft unter die Botmäßigkeit des Begriffes kommen solle; jetzt hängt die Möglichkeit der Reflexion und Intelligenz  von der Tatkraft und dem Vorhandensein eines Triebes ab. (S 40)

Der Begriff der Ichheit ist absolute Identität des Subjektiven und Objektiven. Die Identität selbst kann man dabei nicht denken, man unterscheidet zwischen Subjektivem und Objektiven und nacheinander.

Nun soll auch das individuelle Ich als eins gedacht werden: Ich denke mich, weil ich bin, ich bin, weil ich mich denke. Es ist die Einheit  einer Aufgabe X. (S 41)

Das ganze Ich, nicht einzeln Subjekt und nicht einzeln Objekt, sondern Subjekt-Objekt, hat in sich eine Tendenz zur absoluten Selbsttätigkeit.

Der Trieb wird auf das ganze Ich bezogen. Hier geschieht momentan eine Teilung des Ich in ein Objektives und Subjektives. Im Objektiven ist ein Trieb, durch die Reflexion wird aber auch im Subjektiven ein Trieb gesetzt. Da das Ich in der Vereinigung beider besteht, ist ein Trieb auf das ganze Ich anzunehmen. (S 42)

Wie aber dieser Trieb auf das ganze Ich sich äußert, lässt sich hier schlechthin nicht bestimmen. Nur negativ lässt sich sagen, dass er nicht nur mit Notwendigkeit und mechanischem Zwange treiben könne, da ja das Ich auch Subjektives ist, und es seine Tatkraft unter die Botmäßigkeit des Begriffes (freiwillig) bringen kann. Ein Begriff ist nur durch sich selbst bestimmbar. (S 42)

1. 2) Aus dieser Äußerung des Triebes erfolgt noch kein Gefühl, „wie man der Regel nach erwarten sollte“ (ebd. S 42), denn das Gefühl ist Beziehung des Objektiven auf das Subjektive. Das allein Objektive im Ich wird ja ohne alles Zutun durch Freiheit bewegt, bestimmt, verändert, gerade so wie das Ding. (ebd. S 42. 43)

Es ist hier noch kein Bewusstsein des Denkenden, keine innere Agilität, das aber bei  der Vorstellung der Fall ist. (S 43) Weiter unten zeigt sich dann ein objektives Ich – und auch ein Gefühl. Hier sollen noch Subjektives und Objektives eins sein.

Das Was der Bestimmung ist noch nicht verstanden. Wir beginnen mit dem Subjektiven. (S 44) Es gilt aber auch: Das Ich wird als Intelligenz durch den Trieb unmittelbar bestimmt. Wie gehen Trieb und Gedanke (als Selbstbestimmung der Intelligenz) zusammen?

a) Der Form nach: Der Gedanke ist ein bestimmtes Denken. (S 44)  Geschieht das durch das Dasein eines Objektes oder durch ein anderes Gedachtes? Weder noch. Der Gedanke hier ist durch gar nichts außer sich bedingt, nur durch sich selbst. Das wirkt noch befremdend. Das Denken ist hier seiner Form nach absolut. (S 45) Nur im Philosophieren haben wir den Gedanken durch einen Trieb begründet. Das gilt aber nicht für das gemeine Bewusstsein. Es geht nicht von den transzendental aufgestellten Gründen aus. (ebd))

Hier wird der Gedanke so gedacht, er ist seinem Inhalte nach absolut. (S 46) Dieses Denken soll das absolute Prinzip unseres Seins sein. Dadurch konstituieren wir unser Wesen. Das ist in wirklicher, intellektueller Anschauung (S 46) einsichtig – der Form nach.

Dieses Denken dem Gehalte nach heißt dann:  Das ganze Ich ist bestimmt durch den Trieb der absoluten Selbsttätigkeit. (S 47) Aber das ganze Ich lässt sich nicht begreifen. Man denkt hier das Subjektive durch das Objektive bestimmt, die Intelligenz gibt sich hier „das unverbrüchliche Gesetz des absoluten Selbsttätigkeit“.(ebd.)

Umgekehrt gilt es aber auch: Das Objektive wird durch das Subjektive bestimmt, d. h. es geschieht ein Setzen eines absoluten, aber unbestimmten Vermögens der Freiheit. Beides soll durcheinander bestimmt werden: Gesetz und Freiheit.

Dieser Gedanke der Wechselseitigkeit drängt sich nicht auf. Es ist aber die notwendige Weise, unsere Freiheit zu denken. (S 48) Dieser Gedanke gründet sich auf einen Trieb. Dieser Charakter müsse beibehalten werden. Es ist der Charakter eines Postulats.

Wir sind genötigt zu einem Denken des Bewusstseins einer ursprünglichen Tendenz zu einer absoluten Selbsttätigkeit. (ebd.) Wenn ein vernünftiges Wesen angenommen werden solle, aus dem System der Vernunft heraus, so müssen wir diesen Gedanken denken, dass wir auf eine gewisse Weise handeln sollen. (ebd. S 48)

Durch diese Deduktion (sc. aus einer Idee des Solls) gewinnen wir den Vorteil einer Einsicht in die Moralität unseres Wesens und in eine Begreiflichkeit des noch dunkel erscheinenden Kategorischen Imperativs Kants. (S 49)

Das vernünftige Wesen ist absolut selbstständig, schlechthin der Grund seiner selbst. Es ist, was es werden soll. Diese Existenz muss dem Wesen zugesprochen werden. Es ist eine Existenz der Intelligenz in und mit Begriffen, eine Bestimmtheit der freien Intelligenz aus einem  notwendigen Denken der Intelligenz.  Die Selbstständigkeit der freien Intelligenz wird durch eine Norm vorgegeben.

In der Idee der Selbstständigkeit liegen Gesetz und Vermögen synthetisch vereint (S 51). Das gilt für jedes vernünftige Wesen und für den Repräsentanten der Vernunft, dem ursprünglichen Ich. Denkt es sich selbstständig, dann notwendig frei. (S 51)

Beides soll eins sein, Gesetz und Freiheit ein und derselbe Gedanke, eine vollständige Wechselwirkung und Synthesis zwischen beiden muss es hier geben – wie Kant das Sittengesetz (nur) faktisch feststellte als Bedingung der Freiheit. (S 52)

Das Prinzip der Sittlichkeit ist der notwendige Gedanke der Intelligenz, dass sie ihre Freiheit nach dem Begriffe der Selbstständigkeit bestimmen solle. „Freiheit ist das einzige wahre Sein, und der Grund alles anderen Seins; (der Satz) ist ein ganz anderer, als der ich erscheine mir als frei. (…) Ich bin wirklich frei, ist der erste Glaubensartikel, der uns den Übergang in eine intelligible Welt bahnt…“ (ebd. S 53)

Das Wesen der Freiheit beruht im Begriffe. Der Begriff ist aber absolut unbestimmbar durch irgend etwas außer ihm selbst. Es geht um eine Freiheit, die mit einer Regel durch die Intelligenz entworfen ist. Ein kategorisches Sollen. (ebd. S 54)

Das Merkmal des Sollens kann hier noch nicht erklärt werden. Man hat diese Gesetzgebung „Autonomie“ genannt, Selbstgesetzgebung. Der Inhalt ist absolute Selbstständigkeit, absolute Unbestimmbarkeit durch irgendetwas außer dem Ich. (S 55)

Das Ich bringt sich in seiner Gesetzmäßigkeit ins Spiel, sie ist durch sich selbst bestimmend ihre Tätigkeit. Eine Tätigkeit bestimmen oder praktisch sein, ist ganz dasselbe. (S 56)

Die praktische Vernunft ist dieselbe wie die theoretische. Die praktisch Dignität der Vernunft ist ihre Absolutheit. (ebd.) Dies gewährt Aussichten auf das Ganze der Philosophie. Die Vernunft bestimmt durch sich selbst ihr Handeln.3

Für eine Sittenlehre heißt das: Das Handeln wird bezogen auf das Wollen und Wirken. Das gilt auch für das prinzipielle Handeln in der Vorstellung, wobei das auf transzendentalem Gesichtspunkt gefundene notwendige, praktische Handeln der Intelligenz im Vorstellen nicht notwendig befolgt werden muss, „weil es sich ja an die Freiheit richtet“ (S 57)

Das ganze System der Vernunft ist nach ihren eigenen Gesetzen zusammengestellt – und insofern auch analysierbar. (ebd).

1. 3) Da der Inhalt dieses Gesetzes der Vernunft und der Freiheit hier noch nicht weiter expliziert werden, nennt es FICHTE „Beschreibung“ des Prinzips der Sittlichkeit. (S 58)

Das Prinzip der Sittlichkeit ist der notwendige Gedanke der Intelligenz, dass diese ihre Freiheit nach dem Begriffe der Selbstständigkeit bestimmen solle. Der Inhalt ist ein Gedanke, (nicht) ein Gefühl, ein Sollen. (ebd.)

Die transzendentale Ansicht (neben der Beschreibung) dieser Deduktion besagt: Wir sind vom Wesen des Ichs ausgegangen. Die Selbstständigkeit konnte unter aufgezeichneten Bedingungen als wirklich bestimmt werden, als Tendenz zur Selbstständigkeit. Das Vernunftwesen setzt sich absolut selbstständig, weil es selbstständig ist, und es ist selbstständig, weil es sich so setzt. Es ist in dieser Beziehung Subjekt-Objekt = X. (S 59)

Es ist dieser Zusammenhang nicht auf dem gemeinen Gesichtspunkte erkennbar, aber transzendental. (ebd.) Durch die philosophische Abstraktion haben wir uns zu dieser Allgemeinheit erhoben und bei bestimmten Handlungen, – „es versteht sich reelle, nicht etwa lediglich ideale – denke man sich als frei.“(S 60) Eine Ableugnung dieses Sittengesetzes, wenn es rein äußerlich und faktisch verstanden würde, ist möglich, aber auf transzendentalem Standpunkte ist sie nicht möglich. (ebd.)

A. Schmidt beschreibt diesen Charakter der Selbstständigkeit in der Sittlichkeit als sowohl freien, wie rationalen Vorgang. Die Selbstsetzung des Ichs ist, wenn sie denn ist, nur rational erklärbar, aber so auch gerechtfertigt. (Das erinnert mich an den Abschluss der WL 1804/2, 27. Vortrag.)

„Wenn Fichte also angesichts dieser Überlegung an der Selbstsetzungslehre festhalten will, dann muss er behaupten, dass es sich bei der Selbstsetzung um einen singulären Akt vernünftiger Freiheit handelt, der sich dadurch auszeichnet, dass er nichts voraussetzt, sondern seine eigenen Möglichkeitsbedingungen als immer schon vorausgesetzte allererst hervorbringt: um einen voraussetzungslosen Akt der Zustimmung zum Gesetz, Vernunftautonomie zu realisieren, der zugleich dafür sorgt, dass es wahr ist, dass diese Zustimmung aufgrund der Einsicht in die rationale Unabweisbarkeit dieses Gedankens erfolgt und daher gerechtfertigt ist und als gerechtfertigter Akt auch hätte unterlassen werden können.“4

 

(c) Franz Strasser, 30. 1. 2021

1J. Widmann, Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens, a. a. O. , 1977, S 164.

2J. Widmann, J. G. Fichte, a. a. O., 1982, S 181.

3Vgl. dazu den wesentliche Bedeutung der SL von 1798 für die Grundlegung der WL selbst – von Daniel Breazeale, siehe Buch, a. a. O., Anm. 15, Teil 1, S. 267-293.

4A. Schmidt, Die Deduktion des Prinzips der Sittlichkeit (§§ 1- 3), a. a. O., ebd. S 54.

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser