In den 50.iger Jahren des 18. Jhd. ging KANT von der astronomisch und kosmologischen Weltbetrachtung und der Anschauung vom absoluten Raum und der absoluten Zeit nach NEWTON aus. Der absoluten Raum beweist die göttliche Allgegenwart. Die Unendlichkeit des Raumes ist aktuale Unendlichkeit Gottes. Ebenso ist auch die Zeit aktuale Unendlichkeit der göttlichen Ewigkeit.
1) Wenn KANT zwar von naturphilosophischen Fragen ausging, so galt sein eigentliches Interesse, wie HEIMSOETH schreibt, der seelisch-geistigen Substanz des Ich. Die seelisch-geistigen Substanzen und die physisch-materiellen Substanzen, wie stehen sie in einem commercium wirklicher Wechselwirkung? Ist zwischen den materiellen und den vorstellenden geistigen Substanzen ein wechselseitiger influxus realis anzunehmen? Ähnlich argumentiert bis heute die Hirnforschung und evolutionäre Erkenntnistheorie. Sie sind gläubige Materialisten. Die transzendentale Erkenntniskritik KANTS oder gar die notwendigen Handlungen des menschlichen Geistes nach FICHTE, die sind bis zu diesen materialistischen Erkenntnistheorien noch nicht vorgedrungen, d. h. sie werden ignoriert. Die Erkenntnisart des „Gegenstandes“ bzw. der ganzen Wirklichkeit aus dem Wissen und im Wissen – das wäre aber die transzendentale Selbstbesinnung auf die Bedingungen der Erfahrung bzw. auf die Bedingungen des Wissens. Es ist leider ein „Elend der Transzendentalphilosophie“ (Titel: A. Mues, Vom Elend der Transzendentalphilosophie am Beispiel Schellings. Fichte und Schelling: Der Idealismus in der Diskussion. Bd. II: Acta des Brüsseler Kongresses 2009 der Internationalen J.G. Fichte-Gesellschaft. Neuauflage), dass sie sich nicht stärker zu Wort meldet!
KANT übernimmt nicht alles von LEIBNIZ, hält aber an dem Harmoniegedanken fest, dass zwischen der materiellen und kausalen Welt und der geistigen Welt der einzelnen geistigen Substanzen ein teleologisch Aufeinander-Abgestimmtsein herrschen muss. (Später unter dem Begriff der „Physikotheologie“ in der KrV behandelt bzw. als Grundvoraussetzung eines teleologischen Erkennens in der KdU aufgenommen.) Aber wie diese Harmonie und Voraussetzung erklären? Der wechselseitige Influxus ist kein blinder, sondern ist ermöglicht durch die urbildliche Einheit der Dinge und der geistigen Substanzen im ordnenden Verstand Gottes. Auf die Dauer gesehen ist dies aber eine unbefriedigende Erklärung, denn wie kann diese supponierte, göttliche Harmonie begründet werden ohne die erkenntniskritische Basis zu verlassen? Der Nächste nimmt eine „materielle“ Harmonie an, kann das aber ebenfalls nicht begründen. Der Mechanismus und Organismus des ganzen Weltlaufes – ist er theologisch durch einen Weltenschöpfer oder Weltenbaumeister zu erklären oder ist er naturalistisch zu erklären? Gibt es eine metaphysische, göttliche Natureinrichtung – oder eine sich selbst entwickelnde, evolutionäre Natur, einen sich selbst entwickelnden Kosmos?
Die kritischen Anfragen an die Metaphysik und die nach DESCARTES erneut einsetzenden Veränderungen hin zu einer transzendental-kritischen Sicht der Wirklichkeit kamen von verschiedenen Seiten z. B. von ROUSSEAUS oder MENDELSOHNS, LAMBERTS, SULZERS.
Der Satz vom Grunde galt bis dahin als das Prinzip des Zusammenhangs und der Ordnung schlechthin. Da alles, was existiert, einen Grund haben muss, Gott aber gedacht werden kann, muss er auch existieren, weil das zu seinem Begriff gehört. Aber liegt die Existenz ebenfalls schon im reflexiven Denken des Grundes und der Folge bzw. in der gedachten Ursache und ihrer Wirkung? Bedarf es dazu nicht eines meta-logischen Übergangs? Auch lässt sich nicht alles auf den logischen Widerspruch eines Gegensatzes reduzieren ohne eigene Erkenntnisquelle der Anschauung! Dem logischen Denken nach erreicht Achill nie die Schildkröte des ZENON. Die kritisch einzufordernde empirische Anschauung und das damit zusammenhängende apperzeptive Denken sollten bei KANT erkenntniskonstitutiv werden, denn in der Anschauung holt Achill die Schildkröte sehr wohl ein!
Historisch muss leider gesagt werden: Es wurde KANT bereits zu Lebzeiten psychologisch oder rationalistisch missverstanden. Ein Schelling oder Hegel kümmerten sich weder um die kritische Erkenntnisart Kants, noch um den sittlich-moralischen Anspruch eines Sittgesetzes, das unbedingt gilt und fordert. Sie stifteten damit viel Unheil, das in totalitären Regimen bis heute währt.
Aber ebenso in den vergleichsweise friedlichen, akademischen Hörsälen wird Kants „transzendentale Erkenntnisart“ bis heute höchst kontrovers diskutiert. In der Analytischen Philosophie eines Peter F. Strawson (z. B.) sind die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis wie z. B. die kategorialen Begriffe schlicht und einfach selbst analytische Begriffe, die durch ihren Gebrauch gerechtfertigt sind. Sie sind aber nicht synthetisch-kreative Begriffe des Bildens von Erfahrung und Erkenntnis. Das ist m. E. eine der Absicht KANTS total widersprechende Auslegung! Die analytische Denkart und Auslegung kennt keine Deduktion der reinen Verstandesbegriffe aus der Apperzeption einer vorausgehenden transzendentalen Einheit, kennt keine produzierten Schemata der Begriffe (Bilder) durch Einbildungskraft und keinen Geltungsgrund der Wahrheit der behaupteten Aussagen. Die Wahrheit hängt vom Gebrauch der Freiheit und vom staunenswerten Wunder der Sprachspiele und Lebensformen ab. Es ist eine dem ursprünglichen Denkens Kants völlig verkehrte Interpretation. Ich nehme hier P. F. Strawson nur als Beispiel. Der Beispiele wären unendlich! Die von DESCARTES beschriebene „notio transcendentalis“, worin Denken und Sein als eins evidiert und gewusst und doch differenziert auseinander hervorgehen, das ist in der Analytischen Philosophie fallen gelassen. Man verbindet die kantische Urteilskraft und die Regelbefolgung der Sprache nach Wittgenstein, und schon weiß man, was Wahrheit, Bedeutung, Beziehung, Denken und Erkennen heißt. Das ist wieder alte, rationalistische Metaphysik im Kleide der Analytischen Philosophie.
2) Zurück zur Mitte des 18. Jhd.: Immer mehr tauchten die von der „Kritik der reinen Vernunft“ so genannten „unauflöslichen Begriffe“ und die „unerweislichen Grundsätze“ auf. Als letzte Grundkräfte, so jetzt das Resultat bei KANT, stellte sich die Willensfreiheit und die Naturkausalität heraus. Gibt es letztendlich zwei unhintergehbare Kausalitäten und Kräfte? HEIMSOETH beschreibt die Akzentverlagerung ab Mitte des 18. Jhd. als „inhaltliche Erschütterungen des früheren Weltgedankens“. (ebd. 92) Mit KANT wuchs das Interesse am sittlichen Tun des Menschen. Letzte theoretische Erkenntnis der Vernunft könne es gar nicht geben, weil sonst die „Reinheit“ der sittlichen Handlung aus Freiheit nicht mehr möglich wäre. Der Mensch kann nicht bloß ein spiegelndes, rezipierendes Wesen im raumzeitlichen Kosmos sein, vielmehr ragt er in seinem eigentlichen Wesen und seiner tieferen Erkenntnis in eine ganz andere Ordnung hinein: in die intellegible Welt der Freiheit und des Sittengesetzes.
Es bleibt leider bei KANT eine Dualität: Es gibt Grundprinzipien der natürlichen sinnlichen Welt und Grundprinzipien der sittlich-geistigen Welt, sie sind untereinander inkompatibel bzw. undurchsichtig harmonierend. Wie Körper im Raume gegenwärtig sind, mag geometrisch noch irgendwie verständlich zu machen sein, wie aber die Seele in der Welt gegenwärtig ist, ist eine andere Frage und kann so nicht geklärt werden. Die alte Frage nach dem Sitz der Seele im Leibe, nach dem Raum der Gegenwart Gottes u. a. brach wieder auf. Darf man dem Seelisch-Innerlichen einen Ort oder eine Bewegung im Raume zuschreiben?
KANT geht 1769/70 zur Neufassung der Metaphysik über. Kaum wörtlich aus Primärliteratur war ihm ein RENÉ DESCARTES bekannt, aber eindeutig muss gesagt werden, dass ante eventum die Transzendentalphilosophie dort schon konkrete Gestalt angenommen hat. DESCARTES hat Gedanken vorweggenommen, die in manchen Dingen sogar über KANT hinaus gehen, wenn man die „notion“ der Zeit oder die Begründung des Wissens in der „veracitas Dei“ nachliest.
Es gilt für KANT: Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind zugleich die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrungen „und haben darum objective Gültigkeit in einem synthetischen Urtheile a priori.“(KrV A 158). Sicherlich blieb KANT manchen Begründungen schuldig für diesen Glauben an die subjektiv-objektive Einheit der Erkenntnis – auf die ich noch kommen darf – aber die Richtung einer Erneuerung der Philosophie und Metaphysik war eingeschlagen.
(c) Franz Strasser, 25. 5. 2015