J. S. Mill, Von der fundamentalen Sanktion des Nützlichkeitsprinzips – 3. Kapitel – 3. Teil.

Der Überschrift nach schließe ich jetzt auf eine rein juridische und zwangsstaatliche, politische Umsetzung des Nützlichkeitsprinzips, d. h. wie verpflichtend kann eigentlich eine Glücks- und Glückseligkeitslehre gemacht werden?

Anfangs bin ich  enttäuscht, dass J. S. MILL unter „Sanktion“ zuerst etwas 1) Psychologisches, Äußeres meint, dann 2) innere Gewissenszustände, und schließlich 3) geschichtlich gewachsene Einsichten.

Ad 1) Zur äußeren Sanktion: Meistens richtet man sich in seinem Verhalten nach der überlieferten Sitte und Gewohnheit der Regeln und Normen. Durch Erziehung kann man sie in ein utilitaristisches Prinzip überführen, d. h. in eine rationale Bestimmbarkeit und Entscheidbarkeit.

Warum sollte ich verpflichtet sein, das allgemeine Glück zu fördern?  Wenn mein eigenes Glück in etwas ganz anderem liegt, warum sollte ich dem nicht den Vorzug geben dürfen? 
Wenn die utilitaristische Auffassung von der Natur des moralischen Gefühls richtig ist, wird sich diese Schwierigkeit immer wieder ergeben,
solange nicht die Einflüsse, die den moralischen Charakter formen, sich des utilitaristischen Prinzips im gleichen Maße bemächtigt haben wie einiger seiner Konsequenzen –  solange nicht auf Grund einer verbesserten Erziehung das Gefühl der Einheit mit unseren Mitgeschöpfen (wie Christus es unzweifelhaft gewollt hat) tief in unserem Charakter verwurzelt und ein Teil unserer Natur geworden ist, […] (Hervorhebung von mir, ebd. S 81.83)

Das Streben nach Glück/Glückseligkeit ist eine allen Kreaturen zukommende, sich bewährende und erprobte Erfahrungserkenntnis und geht von selbst mit Sanktionen einher:

Dem Nützlichkeitsprinzip stehen alle Sanktionen zu Gebote – es besteht zumindest kein Grund, warum es nicht so sein sollte -,  die irgendeinem anderen ethischen System zu Gebote stehen.“ (ebd. S 83).

Mit äußeren Sanktionen meint MILL zuerst eine Art  soziale Kontrolle.

Eine äußere Sanktion kann auch die Religion bieten, damit die Beförderung des größtmöglichen Glücks durch innere Prüfung befolgt werde. (vgl. ebd. S 85)

Ad 2) Die innere Sanktion ist eine „innere Empfindung“:

Die innere Sanktion der Pflicht gleichgültig, was wir im Einzelnen für unsere Pflicht halten ist stets ein und dieselbe: ein Gefühl in uns, eine mehr oder weniger starke Empfindung der Unlust, die sich bemerkbar macht, sobald wir unserer Pflicht zuwiderhandeln, und die in einem voll ausgebildeten moralischen Charakter in schwereren Fällen so stark wird, dass er vor einer Pflichtverletzung wie vor einer schieren Unmöglichkeit zurückschreckt.[…]“ (Hervorhebung von mir, ebd. S 85)

Es ist das Wesen des Gewissens (conscience).

Das Gewissen ist dabei verschiedentlich gebildet, aber letztlich geht der verpflichtende Charakter auf eine „Gefühlsschranke (zurück), die durchbrochen werden muss, sobald wir etwas tun wollen, was unsere Norm der Rechtmäßigkeit verletzt, […]“ (ebd. S 87)

Die fundamentale Sanktion aller Sittlichkeit ist somit (abgesehen von den äußeren Motiven) ein subjektives inneres Gefühl. Deshalb sehe ich nicht ein, wieso es denen, deren Norm die Nützlichkeit ist, schwerfallen sollte, auf die Frage nach der Sanktion dieser ihrer Norm zu antworten. Zu antworten wäre: dieselbe Sanktion, die für alle anderen moralischen Normen gilt – die Gewissenhaftigkeit der Menschen.“ (ebd. S 87)

Es gibt das Gewissen, ein inneres, subjektives Gefühl der Sittlichkeit.

Ich weiß wohl, dass viele zu der Annahme neigen, dass jemand, der in der moralischen Pflicht eine transzendentale Tatsache, eine der Sphäre des ›Dings an sich zugehörige objektive Realität sieht, ihr eher Folge leisten wird als jemand, der sie für gänzlich subjektiv und im menschlichen Bewusstsein begründet hält. […]“ (ebd. S 89)

Sicherlich kann diese Stimme des Gewissens nicht so deutlich hörbar sein – aber das trifft auf alle Ethiken zu.

Es ist nicht von Belang, ob man das Gewissen als innere Sanktion und wie ein apriorisches Pflichtgefühl oder als erworben ansieht. (vgl. ebd. S 91)

Wenn es angeboren ist, so spricht das erst recht für den Utilitarismus:

Wenn es hier tatsächlich etwas Angeborenes gibt, so sehe ich nicht, warum es nicht die Rücksicht auf die Lust und Unlust anderer sein sollte. Wenn es überhaupt ein Moralprinzip gibt, das intuitiv einsichtig ist, dann, würde ich sagen, muss es dieses sein. In diesem Fall fiele die intuitionistische Ethik mit der utilitaristischen zusammen, […]“ (ebd. S 91)

Soll zusätzlich zu einem naturalen Ursprungs des Gewissens noch eine „transzendentale“ Erklärung der moralischen Pflicht geleistet werden („transcendental origin of moral obligations“), „kann dies für den Utilitarismus nur von Nutzen sein.“ (ebd. S 93).1

Sind die moralischen Gefühle andererseits nicht angeboren, sondern (wie es meine eigene Ansicht ist) erworben, so sind sie darum nicht weniger natürlich.“ (ebd.)

Ad 3) Der Begriff des Naturwesens Mensch und die Zurückführung der Gefühle auf eine naturale Basis schließt eine geschichtliche Entwicklung und Prägung der Gefühle und des Gewissens nicht aus. Ein allerdings nur künstlich-erworbenes, geschichtliches Gefühl und Gewissen würde nicht lange bestehen.

Aber welches Gefühl ist hier am stärksten und macht sich selbst im Gewissen und als inneres Gefühl bemerkbar?

Hier setzt m. E. MILL die Interpersonalität wieder richtig an, konstitutiv für jedes Vernunftwesen – wenn er sie auch nicht ableiten kann. Es ist ein soziales Gefühl, ein Gemeinschaftsgefühl. (Dies wird in den nächsten Kapitel noch weiter ausgeführt werden.)

Aber es gibt diese Grundlage in einem mächtigen natürlichen Gefühl; und das wird die Stärke der utilitaristischen Moral ausmachen, sobald nur das allgemeine Glück als ethische Norm anerkannt ist. Dieses unerschütterliche Fundament sind die Gemeinschaftsgefühle der Menschen – das Verlangen nach Einheit mit unseren Mitgeschöpfen, das bereits jetzt eine mächtige Triebkraft in der menschlichen Natur ist und glücklicherweise zu denen gehört, die, auch ohne dass sie den Menschen eigens eingeschärft werden, unter dem Einfluss fortschreitender Kultur immer stärker werden. Das gemeinschaftliche Leben ist dem Menschen so natürlich, so notwendig und so vertraut, dass er sich niemals es sei denn in einigen ungewöhnlichen Fällen oder durch einen bewussten Akt der Abstraktion anders denn als das Glied eines Ganzen denkt; und diese gedankliche Verbindung wird desto unauflöslicher, je weiter sich die Menschheit vom Zustand roher Selbstgenügsamkeit entfernt.„ (Hervorhebung von mir, ebd. S 95)

Im Zusammenwirken entstehen „Gemeinschaftsziele“ (ebd.), und es ist „selbstverständlich“ ( of course – mit Hervorhebung v. MILL) „auf die anderen Rücksicht zu nehmen.“ (ebd.)

Altruismus und die Idee der Gerechtigkeit sind logisch-praktische Konsequenzen einer von allen anerkannten gemeinsamen, naturalen und geschichtlich- gewachsenen Basis des Strebens nach Glück/Glückseligkeit.

Vernunftoptimistisch drückt sich MILL so aus: „[…] Infolgedessen werden die kleinsten Keime dieses Gefühls durch die Ansteckungskraft der Sympathie und den Einfluss der Erziehung bewahrt, genährt und durch die gewaltige Macht der äußeren Sanktionen mit einem Gewebe stützender Vorstellungen umgeben. Diese Art, uns selbst und unser Leben zu sehen, wird mit fortschreitender Kultur mehr und mehr als natürlich empfunden. Jeder Schritt voran in der Verbesserung der politischen Verhältnisse fördert diese Entwicklung, indem er die Ursachen von Interessengegensätzen beseitigt und die rechtlichen Ungleichheiten zwischen den Individuen und zwischen den Klassen ausgleicht, die es auch heute noch erlauben, das Glück großer Teile der Menschheit außer Acht zu lassen.“ (ebd. S 99)

MILL spricht von einer höheren Moral der Gemeinschaft und von einer im weitesten Sinne des Wortes politisch-geschichtlichen Umsetzung (Sanktion) der Moral des Glücks. Er spricht die Hoffnung aus:

[….]  Stellen wir uns nun vor, dieses Gemeinschaftsgefühl würde wie eine Religion gelehrt und die Macht der Erziehung, der Institutionen und der öffentlichen Meinung – wie einst im Fall der Religion – darauf verwendet, jeden von Kindheit an in einer Umgebung aufwachsen zu lassen, in der dieses Gefühl sowohl verkündet als auch praktiziert würde, so wird wohl niemand, der sich dieses vorzustellen vermag, daran zweifeln können, dass die fundamentale Sanktion der Moral des Glücks vollauf ausreichend ist.“ (Hervorhebung von mir, ebd. S 99.101)

Trotz Einsicht und Hoffnung in einen praktisch-logischen, geschichtlichen Verlauf einer Glücksmoral, „(sind wir aber in diesem) […] vergleichsweise frühen Stadium menschlichen Fortschritts“ (ebd.) noch weit von diesem Gemeinschaftsgefühl entfernt. “ (vgl. ebd. S 101)

Ansatzweise ist aber die Übereinstimmung der Menschen in den Zielen schon zu erkennen. Die „Moral des größten Glücks“ beginnt sich geschichtlich zu bewähren (vgl. ebd. S 103)

Dieses Gefühl ist bei den meisten weit weniger stark als die egoistischen Regungen, oftmals fehlt es ganz. Aber für die, die es empfinden, besitzt es alle Eigenschaften eines natürlichen Gefühls. Es stellt sich ihnen nicht als ein anerzogener Aberglaube oder als ein von der Gesellschaft despotisch auferlegtes Gesetz dar, sondern als etwas, das sie auf keinen Fall entbehren möchten. Diese Überzeugung ist die fundamentale Sanktion der Moral des größten Glücks.“ (Hervorhebung von mir, ebd.)

© Franz Strasser, 4. 10. 2023

1Der Gewissensbegriff würde mehr Ableitung verlangen! Siehe dazu z. B. meinen Kommentar zu Fichtes Sittenlehre, 5. Teil Durch das Gewissen wird der faktische Begriff des Möglichen, wiewohl er eine Differenz setzt zwischen sich und dem Unsichtbaren des Sehens, in Evidenz projiziert und objektiviert. Das Gewissen meint die aktuale Geschlossenheit der Sehensreflexion, wie das Wissen sich selbst wissen und sich selbst gewiss sein kann, wenn es etwas weiß. Ich kann z. B. mit Gewissheit sagen, dass es so ist (oder gewesen ist) und nicht anders, weil ich es so einsehe. Notwendig führt der Begriff der Einsicht in eine Evidenz des faktisch Möglichen die Gewissheit  mit sich. Diese unbezweifelbare Wissen im Gewissen ist freilich dann genau zu denken – und kann bei veränderlichen, empirischen Dingen nur sehr ungenau angesprochen werden, weil es dort nur faktische, veränderliche Evidenz und Gewissheit gibt. Es ist stets zu prüfen, wie weit das konkrete Sehen reicht. Die Ausführung des Gewissens in der Beurteilung moralischer Handlungen und Pflichten kommt dann ausführlicher ab § 15 der SL FICHTES von 1798.

Print Friendly, PDF & Email

Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser