Dies ist ein Exzerpt aus einer erneuten Lektüre der WLnm, rein aus persönlichem Interesse, getan für’s eigene Denken und Schreiben. Da ist mir die herausragende Bedeutung des Zweckbegriffes wieder bewusst geworden. Er vermittelt zwischen reduktivem Aufstieg zur höchsten Einheit des Willens und vermittelt gleichfalls in der Anwendung der höchsten Ideen. Warum?
Kant hat in der KdU (1790) den Zweckbegriff in seiner großen Bedeutung und Sinnhaftigkeit herausgearbeitet, aber dann eher verdunkelt mit dem Ausdruck, dass wir ihn „regulativ“ verwenden. Er ist eine subjektive Maxime, weder Naturbegriff noch Freiheitsbegriff, „weil er gar nichts dem Objecte (der Natur) beilegt (…)“
Wie ist das „regulativ“ zu verstehen, wenn nicht letztlich doch wieder anschauungsbezogen und konstitutiv?
„Dieser transscendentale Begriff einer Zweckmäßigkeit der Natur ist nun weder ein Naturbegriff, noch ein Freiheitsbegriff, weil er gar nichts dem Objecte (der Natur) beilegt, sondern nur die einzige Art, wie wir in der Reflexion über die Gegenstände der Natur in Absicht auf eine durchgängig zusammenhängende Erfahrung verfahren müssen, vorstellt, folglich ein subjectives Princip (Maxime) der Urtheilskraft; daher wir auch, gleich als ob es ein glücklicher unsre Absicht begünstigender Zufall wäre, erfreuet (eigentlich eines Bedürfnisses entledigt) werden, wenn wir eine solche systematische Einheit unter bloß empirischen Gesetzen antreffen: ob wir gleich nothwendig annehmen mußten, es sei eine solche Einheit, ohne daß wir sie doch einzusehen und zu beweisen vermochten.“ (KdU, Einleitung, Ausgabe W. Weischedel, Bd V, 184.)
Eindeutig und klar wird alles bei FICHTE. Ich verweise hier beispielhaft auf die WLnm (1796-1799): Diese Wissenschaftslehre mit ihrem zugestandenen realistischen Gegenstandsbereich des empirischen Bewusstseins1, geht von einer Synthesis des Lebens aus, die im aufsteigenden Sinne analysiert wird: Es wird mit einem Zwangs- und Kraftgefühl auf der realen Seite und einem Streben und einem Trieb der Selbstbestimmung auf der idealen Seiten ausgegangen. Es wird vermittelt zwischen sinnlichem und geistigem Trieb – analytisch-synthetisch und zweckhaft.
KANT verwunderte sich über die Notwendigkeit, eine solche Maxime der Zweckgerichtetheit in die lebendige Natur hineinlegen zu müssen (siehe Zitat oben aus der Einleitung der KdU), deren Rechtsgrund er aber nicht angegeben konnte. Von FICHTE her muss umgekehrt gesagt werden, dass ohne konstitutiven Zweckbegriff weder eine Einheit des Lebens in einer sinnlichen Welt, noch die Einheit der intelligiblen Welt im Bereich des Rechts, der Moral und der Religion, möglich wären. Der Zweckbegriff ist überall konstitutive Analyse und Anwendungsform der Geltungsform „Ich“, sei es für den sinnlichen Bereich, oder für das Begreifen einer Intention und Intelligenz.
Im Unterschied zu KANTS „Kritik der Urteilskraft“ wird von Fichte aus vier Gründen der Zweckbegriff als konstitutiv für unser Erkennen und Handeln herausgestellt. Siehe dann unten. Zuerst noch zur allgemeinen Einordnung:
Die SL wirft ein bemerkenswertes Licht a) auf ein metaphysisch vorgegebenes, kategorisches Soll, das gefunden werden kann, und zugleich b) transzendental gedacht und entworfen werden muss im zeitlichen Werden und teleologischen Denken. Der Freiheitsgebrauch zeigt sich gerechtfertigt in einem absoluten Soll (kategorisch) und teleologisch begründet in einem transzendentalen Anwendungsverfahren. Dazu M. Ivaldo:
„Der praktische Vollzug des Ich wird durch den intuitus (=spontanes Bewußtwerden) dessen herausgefordert, was in der Bewusstseinseinheit der aktive, der Hemmung entgegengesetzte Faktor ist. Mit einem anderen Wort: die Freiheit. Ein solches Freiheitsbewsstsein wird vom einen mit der Freiheit kompatiblen Begriff vermittelt, nicht also vom Vorstellungsbegriff, sondern vom Zweckbegriff. Dieser hat eine „kategorische“ und eine „teleologische“ Dimension. Eine kategorische, weil das Bewusstsein der Freiheit von dem Sollensgedanken ermöglicht wird. Die sittlich-praktische Regel ist uns die notwendige Art und Weise, unter welcher allein sich die Freiheit denken lässt. (….)
Das Kategorische und Teleologische fallen nicht auseinander noch sind sie einander entgegengesetzt. Beide gelten als konstitutive Bestimmungen des praktischen Freiheitsbewusstseins, als solche sind sie in dieses integriert, ohne vermischt zu werden. Der kategorische Faktor betrifft die Rechtfertigung des Prinzips der Sittlichkeit (warum soll ich?), der teleologische die Konkretion des Prinzips selbst (was soll ich?)“.2
Bei Kant kommt das Kategorische vom „kategorischen Imperativ“. Dieser zeigt sich in seinen drei typischen Definitionen a) aus dem Handeln eines allgemeinen Vernunftgesetzes b) aus der Selbstzwecklichkeit anderer Personen und c) aus der Autonomie des Individuums.
a) Die erste Formel des KI lautet: „… handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ (GMS, Akad. Ausgabe., IV 421),
b) Weil aber die Form der Materie des Sittengesetzes, d. h. dessen, was wir tun sollen, die Vernunftsubjekte selber sind, sind sie „Zwecke an sich selbst“. Die Freiheit des anderen ist unantastbar, wenn es darum geht, eine plurale Freiheit miteinander zu vereinbaren. Kant stellt fest, dass „vernünftige Wesen Personen genannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, d.i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet, mithin so fern alle Willkür einschränkt (und ein Gegenstand der Achtung ist). (Und er begründet weiter:) (…) weil ohne dieses überall gar nichts von absolutem Werthe würde angetroffen werden; wenn aber aller Werth bedingt, mithin zufällig wäre, so könnte für die Vernunft überall kein oberstes praktisches Princip angetroffen werden. (GMS, Akad. A. IV, S 428
Man kann hier Kant mit seiner Einführung eines „kategorischen Imperativs“ natürlich verteidigen und ihn stark gegen die Vorwürfe eines bloßen Formalismus, den Kant behauptet haben soll, oder sogar gegen des Vorwurfs des Solipsismus, weil ja im „kategorischen Imperativ“ anscheinend noch keine anderen Personen vorkommen, absichern, wie es B. Grünewald tut.3
Bleibt der „kategorische Imperativ“ unverständlich? Mit Verlaub gesagt, er wirkt ziemlich rigoros und künstlich aufgesetzt verglichen jetzt mit seinem Herkommen bei Fichte in der SL – siehe dort besonders § 13.
(Es gäbe dann noch eine dritte Formulierung des „kategorischen Imperativs“ bei Kant – c) Er ist die Begründung der Autonomie.)
Zurück zu meinem rigoros und aufgesetzt:
Bei Fichtes SL 1798 entspringt er als natürliches Suchen und Fragen nach der besten und intelligentesten Verwirklichung von Freiheit, er ist nicht schon vorgegeben, er wird erst als Regel gebildet, das absolute Soll vernünftig zu erkennen und zu realisieren. Dieses Erkennen und Realisieren verläuft in einer Wechselbestimmung von sinnlichem und geistigen Trieb, ist ein relativ pragmatisches und heuristisches Prinzip, eben ein teleologisches Prinzip bei bereits vorausgesetzter Wahlfreiheit.
Siehe jetzt das Zitat aus § 3, also relativ früh in der SL, ehe der Zweckbegriff durchgehend zur Anwendung kommt. Fichte sucht einen Deduktionspunkt, d. h. einen Begriff, aus dem er alle Tätigkeit ableiten kann. Wie muss ein Vernunftwesen gedacht werden, in seiner ganzen transzendentalen Natur, damit es sich frei und selbstbewusst realisieren kann?
Um das zu finden, muss es a) bereits wahlfrei wählen können, d. h. etwas als notwendig annehmen, anderes als zufällig, und es muss b) daraus zweckhaft und pragmatisch und klug seine Schlüsse ziehen.
„Das freie Wesen handelt als Intelligenz, d. i. nach einem vor der Wirkung vorher von der Wirkung entworfenen Begriffe. Das zu Bewirkende muss daher wenigstens so beschaffen sein, dass es überhaupt durch die Intelligenz gedacht werden könne, und insbesondere, dass es als seiend oder nichtseiend, (als zufällig seinem Sein nach) gedacht werde, unter welchem Sein oder Nicht-Sein desselben dann die freie Intelligenz bei Entwerfung ihres Zweckbegriffs wähle. Hierdurch ist uns schon eine Sphäre angezeigt, in welcher allein wir das durch unsere Kausalität physisch Mögliche aufzusuchen haben, indem ein beträchtlicher Teil des Seienden durch die gemachte Bemerkung ausgeschlossen wird.“ (Hervorhebungen von mir, SL, § 3, ebd. S 65.66)
Das Vernunftwesen handelt überall und jederzeit zweckhaft, weil es seine transzendentale Natur verlangt. Es setzt konstitutiv den Zweckbegriff an, sei es im sinnlichen Bereich der Natur, oder in der Anerkennung anderer Personen, (als „Zwecke an sich selbst“ oder als „Reich der Zwecke“), in der Moralität oder in der Liebe zum höchsten „Worumwillen“ (Platon, Lysis). 4
Jetzt kurz zusammengefasst zur vierfachen Anwendung des Zweckbegriffes als konstitutiv:
1) Der Zweckbegriff ist im naturphilosophischen Bereich besonders einsichtig. Wir könnten keinen Leib und kein Leben in seinen Funktionen verstehen ohne Zweckbegriff. Auch die sich unabhängig von einer höheren Teleologie gebärdende Entwicklungstheorie „Evolution“ könnte ohne Rekursion auf den Zweckbegriff bzw. auf eine Selbstbezüglichkeit des Lebens nicht verständlich sein.
2) Der Zweckbegriff ist konstitutiv für den rechtlichen und interpersonalen Bereich – siehe dazu genau zu diesem Thema den Blog: Zweckrealisation im praktischen Bereich – Interpersonalität – Link: 5
3) Schließlich leitet und bestimmt der Zweckbegriff das sittliche Tun und Handeln im moralischen Bereich. Siehe dazu die ganze SL selbst ab § 3.
4) Der Zweckbegriff im religiösen Bereich wird von Fichte als Hingabe und Seligkeit beschrieben – siehe die PRINZIPIEN DER GOTTES-, SITTEN- UND RECHTSLEHRE, 1805 und die ANWEISUNGEN ZUM SELIGEN LEBEN 1806. Weil m. E. der Religionsbegriff hier unzureichend beschrieben ist, so kann die Notwendigkeit einer positiven Offenbarung wohl ebenfalls nur durch einen Zweckbegriff der Satisfaktion und Restitution hinreichend abgeleitet werden.
Zusammengefasst: Die ganze Argumentationsform der WLnm von 1796-1799 verläuft phänomenologisch nach dem Zweckbegriff: Die analytisch-synthetische Einheit des Sich-Wissens wird durch ein aufforderndes Soll (von Ewigkeit her, zeitlos) dargestellt, vermittelt als intelligible Struktur eines „reinen Willens“, der sich verzeitend ausschematisiert in den Selbstbewusstseins-Setzungen der verschiedenen Wirklichkeitsbereiche wie Natur, Sittenlehre, Rechtslehre und Religionslehre – zu ergänzen wäre noch Geschichte und Sinnidee – in der Reflexivität des Ichs.
Anders ausgedrückt: Das bei Kant im sittlichen Bereiche anzutreffende notwendige Zweckdenken wird Prinzip der ganzen Wirklichkeitserkenntnis. Die Vorstellungsgesetze der ursprünglich produzierenden Einbildungskraft und die Gesetze des Denkens sind von sich her zweckhaft gerichtet, sichtbar werdend durch die reflektierende Urteilskraft in theoretischer wie praktischer Funktion.
Nochmals anders formuliert: Bei Kant kommt der Wertbegriff explizit vor im Zusammenhang der „Zwecke an sich“ der anderen Personen (vgl. ebd. Ausgabe Weischedl, GMS, Bd. VII, S 60.61); bei Fichte ist der Wert begründet in der Geltungseinheit einer stets auf einen absoluten Geltungsgrund bezugnehmenden Reflexion – und in der teleologischen Darstellung dieser kategorischen Rückbezüglichkeit. Zur genaueren Ausführung dieses sittlich-praktischen und pragmatischen Denkens – siehe Literatur.6
Zur WLnm insgesamt – Kommentar –WLnm
(c) Franz Strasser, 25. 5. 2015
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1FICHTE grenzt sich in der Einleitung von beiden einseitigen Sichtweise des Realismus und Idealismus ab [GA IV, 2, 17 – 27] und betont in der „vorläufigen Anmerkung“ [GA IV, 2, 28 – 32] eine transzendental-kritische Einheit des Denkens. Es bleibt aber bei einer realistischen Einseitigkeit – aus Gründen, wie er selbst sagt, weil es ihm um die „Ableitung des empirischen Bewusstseins“ [GA IV, 2, 32 – 266] geht.
2 Marco Ivaldo, Die systematische Position der Ethik nach der Wissenschaftslehre nova methodo und der Sittenlehre 1798. In: Fichte-Studien, Bd. 16, 1999, S. 246.
3Bernward Grünewald, Form und Materie der reinen praktischen Vernunft. Über die Haltlosigkeit von Formalismus und Solipsismus-Vorwürfen und das Verhältnis des kategorischen Imperativs zu seinen Erläuterungsformeln. Erschienen in: Metaphysik und Kritik. FS für Manfred Baum, hrsg. v. S. Doye. M. Heinz, U. Rameil, Würzburg 2004, S. 183- 201. Ein kategorischer Imperativ ist ein „synthetisch- praktischer Satz a priori“ (z. B. ebd. Akademieausgabe IV, 420). Der (nicht explizit genannte) Subjektsbegriff dieses synthetischen Satzes ist der Begriff des „Willens eines vernünftigen Wesens“ (ebd. u. IV, 440); der Prädikatsbegriff besteht in dem Gehalt des Imperativs, in der ersten Formulierung der GRUNDLEGUNG : „…handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (IV, A 421)
4Giovanni Cogliandro, Die Dynamik der Fünffachheit in der Wissenschaftslehre nova methodo, in: in: Der transzendentalphilosophische Zugang zur Wirklichkeit. Beitrage aus der aktuellen Fichte-Forschung. (Hrsg von E. Fuchs, M. Ivaldo, G. Moretto). Frommann-Holzboog 2001, pp. 167-198. Dankenswerterweise auch ins Internet gestellt – abgerufen am 11. 12. 2015. – siehe pdf-download: https://www.academia.edu/8239773/Die_Dynamik_der_Fünffachheit_in_der_Wissenschaftslehre_nova_methodo
5 Es heißt sinngemäß in § 12 der Wlnm – nach Vorlesungen v. F. Bader: Das reine Wollen, das seinen Rechtsgrund in sich hat, wird zuerst gedacht als ichliche Einheit, als Gedanke meiner selbst, und so werde ich personal individuiert. Der Individuation liegt aber die ursprüngliche Bestimmtheit eines Reiches vernünftiger anderer Wesen zugrunde. Im existentiellen Vollzug meiner selbst werde ich mir a) einer Identität einer sowohl apriorischen Bestimmtheit durch ein Reich vernünftiger Wesen, wie b) einer apriorischen Spezifikation meiner Individualität durch den substantiellen Denk- und Selbstbestimmungsakt der Freiheit bewusst. Im realen Vollzug des Denkens setze ich notwendig, zweckhaft, andere vernünftiger Wesen außer mir an und muss notwendig (zweckhaft) mich selbst aus der allgemeinen Bestimmtheit zu einer individuellen Bestimmbarkeit und Bestimmtheit spezifizieren, will ich mich frei selbst bestimmen.
6 Z. B. Marco Ivaldo, Sittlicher »Begriff« als wirklichkeitsbildendes Prinzip in der späten Sittenlehre. Fichte-Studien Bd. 32, 2009, 189-201.