Stichworte zur Anweisung seligen Lebens, 9. – 10. Vorlesung, 6. Teil

S 523 – Neunte Vorlesung

„(…) Wie hingegen der Mensch durch die höchste Freiheit seine eigene Freiheit und Selbstständigkeit aufgiebt und verliert, wird er des einigen wahren, des göttlichen Seyns und aller Seligkeit, die in demselben enthalten ist, theilhaftig.“ (ebd. S 524)

Durch die moralische Weltsicht wird die sinnliche Denkart nicht apathisch, teilnahmslos und uninteressiert behandelt – wie auf dem zweiten gesetzhaften Standpunkt – sie wird als Mittel fĂĽr das „in ihm sich erfĂĽllende göttliche Werk gesehen.“ (ebd.)

Fichte beschreibt diese Sicht weiter: „Es ist das innere Seyn Gottes selber, wie es durch sich selbst und in sich selbst schlechthin ist, unmittelbar, rein und aus der ersten Hand, ohne durch irgend eine in der Selbstständigkeit des Ich liegende, und eben darum beschränkende Form bestimmt, und dadurch verhĂĽllt und getrĂĽbt zu seyn; nur noch in der unzerstörbaren Form der Unendlichkeit gebrochen.“ (ebd. S 525) –

Dieses „innere Seyn Gottes“ bleibt aber nur faktisch wahrnehmbar, eine „nie aufzulösende oder zu endende Form der Unendlichkeit“ (ebd.)
In der ausschließenden Negation (aus dem Absoluten) lässt es sich indirekt charakterisieren:

„Alles Seyn führt seinen Affect bei sich und seine Liebe; und so auch das in der Form der Unendlichkeit heraustretende unmittelbare göttliche Seyn. Nun ist dies, so wie es ist, nicht durch irgend ein anderes, und um irgend eines anderen willen, sondern durch sich selbst und um sein selbst willen: und wenn es eintritt und geliebt wird, wird es nothwendig rein und lediglich um sein selbst willen geliebt, und gefällt durch sich selbst, keinesweges aber um eines anderen willen, und so nur als Mittel für dieses andere, als seinen Zweck“ (ebd.)

Es ist die Idee der „Vollkommenheit“ (ebd. S 526), die uns in dieser Liebe um seiner selbst willen, ohne noch weitere Abhängigkeiten und Mittelbarkeiten zu kennen, begegnet.

Es werden Beispiele gebracht werden, die zweifellos mit Sinn und Freude erfüllen können, aber sind diese „religiös“ zu nennen?

„Ich sage: Gottes inneres und absolutes Wesen tritt heraus als Schönheit; es tritt heraus als vollendete Herrschaft des Menschen über die ganze Natur; es tritt heraus als der vollkommene Staat und Staatenverhältniss; es tritt heraus als Wissenschaft: kurz, es tritt heraus in demjenigen, was ich die Ideen im strengen und eigentlichen Sinne nenne und worüber ich (…)“ (ebd. S 526)

Es folgt das Beispiel eines Gemäldes (der Mutter Gottes) (vgl. ebd. S 527); das „Talent für Kunst, für Regierung, für Wissenschaft u. s. w.“ (ebd. S 528), das Talent für ein handwerkliches Tun, das mit Freude erfüllen kann, weit mehr als sinnliches Begehren oder „genusslose Apathie“ (ebd. S 528); die Freude am Tun und das Hervorbringen von etwas kann Selbstzweck sein, ist innerer, „geistiger Lebensgenuss“ (ebd. S 529), selbst bei Scheitern des Produktes und Rückschlägen:

„So lange die Freude an dem Thun sich noch mit dem Begehren des äussern Products dieses Thuns vermischt, ist selbst der höher moralische Mensch in sich selber noch nicht vollkommen im Reinen und Klaren; und sodann ist in der göttlichen Oekonomie das äussere Mislingen seines | Thuns das Mittel, um ihn in sich selbst hineinzutreiben, und ihn auf den noch höhern Standpunct der eigentlichen Religiosität, d.i. des Verständnisses, was das eigentlich sey, das er liebe und anstrebe, heraufzuerheben.“ (ebd. S 529.530).

Wiederum Frage: Ist das „religiös“ zu nennen? Grenzt das Tun an Heiliges?

Fichte möchte jetzt einen Art Zusammenfassung der bisherigen Sichtweisen bringen:

Da wäre a) der genetische Zusammenhang der Äußerung des Absoluten in der Spaltung der Reflexion der Unendlichkeit nach. Diese Spaltung trägt den teleologischen Zweck eines „vollendeten Systems“ (ebd. S 530) in sich, „von Ichen und Individuen“ (ebd.)

Diese erste Form der Äußerung des Absoluten ist bereits eine werthafte Individualität, die sich zur Interpersonalität hin öffnen kann. Die Liebe ist hier „gleichsam ausgetheilt“ (ebd.)

„Jedes Individuum hat daher in seiner freien, durch die Gottheit selbst nicht aufzuhebenden Gewalt die Möglichkeit der Ansicht und des Genusses aus jenen fünf Standpuncten seines, dasselbe als reales Individuum charakterisirenden Antheils an dem absoluten Seyn. So hat |jedes Individuum zuvörderst seinen bestimmten Antheil an dem sinnlichen Leben und seiner Liebe; welches Leben ihm als das absolute und als letzter Zweck erscheinen wird, so lange die im wirklichen Gebrauche befindliche Freiheit darin aufgeht. (…) (ebd. S 530.531)

Vom gesetzhaften Leben kann sich das Individuum zur „höheren Moralität“ erheben. (ebd. S 531)

Jedes Individuum hat notwendig durch seinen Eintritt in die Wirklichkeit Anteil am übersinnlichen, göttlichen Sein, und individuell ist jeweils die Aufgabe der Fortentwicklung abgesteckt. Das göttliche Wesen ist dabei nicht selbst zerteilt, sondern integriert in allen Individuen und in integraler Einheit erscheint es. Das Sein = A in der Form B eines Systems von Individuen (vgl. ebd.)

„2) Diesen seinen eigenthümlichen Antheil am übersinnlichen Seyn kann nun keiner sich erdenken oder aus einer andern Wahrheit durch Schlüsse ableiten, oder von einem andern Individuum sich bekannt machen lassen, indem dieser Antheil durchaus keinem andern Individuum bekannt zu seyn vermag, sondern er muss ihn unmittelbar in sich selber finden; auch wird er dies nothwendig ganz von selbst, sobald er nur allen eignen Willen und alle eignen Zwecke aufgegeben und rein sich vernichtet hat.“ (ebd. S 532)

Diese eigene, individuell zugemessene Bestimmung zu erkennen und zu finden ist die höchste Moralität:

„Und so ist es denn der allererste Act der höhern Moralität, welcher auch unausbleiblich, wenn nur der eigne Wille aufgegeben ist, sich findet, dass der Mensch seine ihm eigenthümliche Bestimmung ergreife, und durchaus nichts anderes seyn wolle, als dasjenige, was er, und nur Er, seyn kann, was er, und nur Er, zufolge seiner höhern Natur, d.i. des Göttlichen in ihm, seyn soll: kurz, dass er eben gar nichts wolle als das, was er recht im Grunde wirklich will. Wie könnte denn ein solcher jemals mit Unlust etwas thun, da er nimmermehr etwas anderes thut, als dasjenige, woran er die höchste Lust hat? Was ich oben von dem natürlichen Talente sagte, gilt noch weit mehr von der durch vollendete Freiheit erzeugten Tugend; denn diese Tugend ist die höchste Genialität; sie ist unmittelbar das Walten des Genius, d.h. |derjenigen Gestalt, welche das göttliche Wesen in unserer Individualität angenommen.“ (ebd. S 532 u. 533)

Auf der Stufe der höchsten Moralität tun wir das, was wir tun sollen als unser eigenes Wollen. „(…) wolle seyn, was du seyn sollst, was du seyn kannst, und was du eben darum seyn willst, — ist das Grundgesetz der höhern Moralität sowohl, als des seligen Lebens.“ (ebd. S 533)

Die höchste moralische Bestimmung, „in ungeteilter Liebe umfasst“, geht zuerst auf das Handeln, dann auch auf einen Erfolg in der Sinnenwelt. Letzterer Erfolg ist aber nicht Bedingung des Sollens und Wollens, vielmehr kann auch im Misslingen die Klarheit des eigentlichen Endzweckes liegen, d. h. ebenfalls eine göttliche Liebe.

Fichte beschreibt eine Art Ergebung in Gottes Willen.

„(…) Es sey die Entwickelung des göttlichen Seyns und Lebens (sc. die eigentliche Kraftquelle des Handelns) in ihm, diesem bestimmten Individuum, die er zunächst und eigentlich anstrebe; und hierdurch wird denn sein ganzes Seyn und seine eigentliche Liebe ihm vollkommen klar werden, und er von dem dritten Standpuncte der höhern Moralität, in welchem wir ihn bisher festgehalten haben, sich erheben in den vierten der Religiosität.“ (ebd. S 534)

Meine Frage wiederum: Dieses EinĂĽben der Ergebenheit in den Willen Gottes – ist das „Religion“ zu nennen, „Vollkommenheit“?

Fichte verspricht in „künftiger Rede“ die soeben „berührte Materie“ (ebd. S 535) noch zu verdeutlichen.

„4) Alles, was dieser moralisch-religiöse Mensch will und unablässig treibt, hat ihm nun keinesweges an und für sich Werth, — wie es denn auch an sich keinen hat, und nicht an sich das Vollkommenste, sondern nur das in diesem Zeitmomente Vollkommenste ist, das in der künftigen Zeit durch ein noch Vollkommeneres verdrängt wird, — sondern es hat für ihn darum Werth, weil es die unmittelbare Erscheinung Gottes ist, die er in ihm, diesem bestimmten Individuum, annimmt. Nun ist ursprünglich Gott auch in jedem andern Individuum ausser ihm gleichfalls in einer eigenthümlichen Gestalt; ohnerachtet er in den mehreren, durch ihren eigenen Willen und aus Mangel an höchster Freiheit, verdeckt bleibt, und so weder ihnen selbst, noch in ihrem Handeln anderen wirklich erscheint. In dieser Lage ist nun der moralisch Religiöse, — von seiner Seite freilich eingekehrt in seinen Antheil am wahren Seyn, — von den Seiten anderer Individuen, von den zu ihm gehörigen Bestandtheilen des Seyns abgeschnitten und getrennt, und es bleibt in ihm ein wehmüthiges Streben und Sehnen, sich zu vereinigen und zusammenzuströmen mit den zu ihm gehörenden Hälften: nicht zwar, dass dieses Sehnen seine Seligkeit störe, denn dies ist das fortdauernde Loos seiner Endlichkeit und seiner Unterwürfigkeit unter Gott, welche letztere selbst mit Liebe zu umfassen ein Theil seiner Seligkeit ist.
Wodurch nun würde jenes verborgene innere Seyn, wenn es in dem Handeln der andern Individuen herausträte, Werth erhalten für den vorausgesetzten religiösen Menschen? Offen|bar nicht durch sich selbst, wie auch sein eigenes Wesen ihm dadurch nicht Werth hat, sondern weil es ist die Erscheinung Gottes in diesen Individuen.“
(ebd. S 535 u. 536)

Das transzendierende und projizierende Setzen eines unbegreiflichen Absoluten, wie es im transzendentalen Sich-Wissen als absoluter Geltungsgrund aufscheint, mithin ein berechtigtes ObjektivationsbedĂĽrfnis darstellt und zur Projektion eines transzendenten Gottes fĂĽhrt, vermag es in der Form der Individuen und in Form einer interpersonalen Wert-Liebe erfahrbar und sichtbar zu werden?

Ich darf wieder meine Skepsis äußern: Es wird alles angedeutet, aber im entscheidenden Moment doch wieder geflüchtet in allgemeine Ausdrücke wie „Erscheinung“ Gottes, „nichts ausser ihm“, d. h. es wird ausgewichen in die bloße Idealform der Möglichkeit der Liebe zu Gott, aber nicht konkret wird eine interpersonale Liebe gedacht, geschweige eine positive Offenbarung, die den allgemeinen Sinn von Religion und Gottesbegriff erfüllen könnte!?

„Und so haben wir denn nunmehr einen allgemeinen äusseren Charakter des moralisch-religiösen Willens, inwiefern derselbe aus seinem innern, ewig in sich verborgenen Leben herausgeht nach aussen. Zuvörderst ist der Gegenstand dieses Willens ewig nur die Geisterwelt der vernünftigen Individuen; denn die sinnliche Welt der Objecte ist ihm längst zur blossen Sphäre herabgesunken. Sein positiver Wille aber an diese Geisterwelt ist der, dass in jedes Individuums Handeln rein diejenige Gestalt erscheine, welche das göttliche Wesen in ihm angenommen, und dass jeder Einzelne in aller übrigen Handeln Gott erkenne, wie er ausser ihm erscheint, und alle übrigen in dieses Einzelnen Handeln gleichfalls Gott, wie er ausser ihnen erscheint; dass daher immer und ewig fort, in aller Erscheinung, Gott ganz heraustrete, und dass er allein lebe und walte, und nichts ausser ihm; und allgegenwärtig, und nach allen Richtungen hin ewig nur Er erscheine dem Auge des Endlichen.„ (ebd. S 536)

Vom äußeren Elend darf man sich nicht blenden lassen, es zählt die Ergebung in Gottes Willen, es zählt das Innerste der Gesinnung der göttlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe. (vgl. ebd. S 557)

S 538 ff Zehnte Vorlesung

Fichte stellt nochmals den grundsätzlichen Zusammenhang zwischen der Äußerung des Absoluten und dem Dasein her, d. h. vom absoluten Sein bis zur Spaltung desselben durch die Reflexion in die Unendlichkeit. Dieser Zusammenhang enthält in sich eine Grund-Folge-Ordnung besonderer Art, die genetische Form einer geschaffenen, unableitbaren Zahl von Individuen, die sich durch ein Soll-Aufforderungsverhältnis als solche individuell finden können.
Diese Form der Spaltung und Interpersonalität bleibt immer – und die folgende Bestimmung des höchsten Standpunktes der Religion nimmt deshalb stets moralische, interpersonale und werttheoretische Züge an!

Ein eigenes Problem wird es geben, wenn die andere Person nicht zu einem Liebesschluss zustimmen will. Davon wird aber die prinzipielle individuelle Liebesfähigkeit nicht gestört. 1

„Wir mussten freilich gestehen, dass, wegen der durch das Reflexionsgesetz unabänderlich gesetzten Trennung des Einen göttlichen Wesens in mehrere Individuen, jedes besondern Individuums Handeln nicht umhin könne, einen von ihm allein nicht abhängenden Erfolg ausser sich in der übrigen Welt der Freiheit anzustreben; dass jedoch auch durch das Aussenbleiben dieses Erfolges die Seligkeit dieses Individuums nicht gestört werde, (…) (ebd. S 538.539)

Das Sein als Dasein wird reflektiert, als Wesen.

Es ist damit „niemals das Seyn an sich, sondern das Seyn in unserer Form als Wesen.“ (ebd. S 539). Das Band zwischen absolutem Sein und Dasein bleibt, liegt höher als jede Reflexion (vgl. ebd. S 540)

„In dieser Begleitung der Reflexion ist dieses Band — Empfindung; und, da es ein Band ist, Liebe, und, da es das Band des reinen Seyns ist und der Reflexion, die Liebe Gottes. In dieser Liebe ist das Seyn und das Daseyn, ist Gott und der Mensch Eins, völlig verschmolzen und verflossen (…)“ (ebd. S 540)

Es ist durchaus eine Affekttheorie hier gefasst, die Liebe wird erfahren und gespürt, genetisch gedacht und transzendental erklärt als übereinstimmende Liebe des Ichs mit sich selbst in Ergebenheit in den göttlichen Willen (in die göttliche Liebe). Eigentlich ist es die göttliche Liebe selbst, die sich in uns, unter Bedingungen der Freiheit, bejaht und liebt: „(…) des Seyns Tragen und Halten seiner selbst in dem Daseyn, ist seine Liebe zu sich; die wir nur nicht als Empfindung zu denken haben, da wir sie überhaupt nicht zu denken haben.“ (ebd.)

Kraft dieser Bedingung der Wissbarkeit der göttlichen Liebe erkennen wir erst, was die Liebe ist, ebenfalls diese „(….) unsere Liebe zu ihm; oder, nach der Wahrheit, seine eigne Liebe zu sich selber in der Form der Empfindung; indem wir ihn nicht zu lieben vermögen, sondern nur er selbst es vermag, sich zu lieben in uns.“ (ebd.)

Alles transzendentale Wissen von Gott, alle Kraft und Form der Reflexivität, alle in unserem Wollen liegende Triebhaftigkeit, leitet sich ab von dieser Transzendenz der Liebe Gottes:

„Diese, nicht die seinige, noch die unsrige, sondern diese erst uns beide zu zweien scheidende, so wie zu Einem bindende Wechselliebe, ist nun zuvörderst die Schöpferin unseres oft erwähnten leeren Begriffs eines reinen Seyns oder eines Gottes. Was ist es denn, das uns hinausführt über alles erkennbare und bestimmte Daseyn, und über die ganze Welt der absoluten Reflexion? Unsere durch kein Daseyn auszufüllende Liebe ist es.“ (ebd.)

Der Begriff im Denken ist dabei schwach, nur nachträgliches Begreifen, ausschließende Negation der Begreifbarkeit.

„Was ist es denn, das uns Gottes gewiss macht, ausser die schlechthin auf sich selbst ruhende und über allen nur in der Reflexion möglichen Zweifel | erhabene Liebe? Und was macht diese Liebe auf sich selber ruhen, ausser das, dass sie unmittelbar das Sichtragen und Sichzusammenhalten des Absoluten selber ist? — Nicht die Reflexion, E.V., welche vermöge ihres Wesens sich in sich selber spaltet, und so mit sich selbst sich entzweit; nein, die Liebe ist die Quelle aller Gewissheit, und aller Wahrheit und aller Realität. (ebd. S 540. 541)

Der Begriff und das Denken ist nachträgliche Deutung. Ja, es ist, so muss gefolgert werden, die Liebe selbst der Grund der nur möglichen Reflexibilität und Deutungsmöglichkeit des Denkens, „(…)weil sie ja nichts anderes ist, als das Sichselbsthalten des absoluten Seyns.“ (ebd. S 541)

In der Reflexion und im Denken kommt es zur Sichtbarkeit und Deutung des Gehaltes und des Stoffes der Liebe ins Unendliche hinaus.

„Dieser Gehalt und Stoff der Liebe nun ist es, welchen die Reflexion des Lebens zuvörderst zu einem stehenden und objectiven Wesen macht, sodann, dieses also entstandene Wesen in die Unendlichkeit fort wiederum spaltet und anders gestaltet, und so ihre Welt erschafft. Ich frage: was giebt denn für diese Welt, an der die Form des Wesens und die Gestalt offenbar das Product der Reflexion sind, den eigentlichen Grundstoff her? Offenbar die absolute Liebe; die absolute: — wie Sie nun sagen wollen — Gottes zu seinem Daseyn, oder — des Daseyns zum reinen Gotte. Und was bleibt der Reflexion? — ihn objectiv hinzustellen und ins unendliche fortzugestalten. Aber selbst in Absicht des letzteren, was ist es, das die Reflexion nirgends stillstehen lässt, sondern sie unaufhaltsam forttreibt von jedem Reflectirten, bei dem sie angekommen ist, zu einem folgenden, und von diesem zu seinem folgenden? Die unaustilgbare Liebe ist es zu dem, der Reflexion nothwendig entfliehenden, hinter aller Reflexion sich verbergenden, und darum nothwendig in alle Unendlichkeit hinter aller Reflexion aufzusuchenden, reinen und realen Absoluten; diese ist es, welche sie forttreibt durch die Ewigkeit, und sie ausdehnt zu einer lebenden Ewigkeit. Die Liebe daher ist höher, denn alle Vernunft, und sie ist selbst die Quelle der Vernunft und die Wurzel | der Realität, und die einzige Schöpferin des Lebens und der Zeit;“ (ebd. 541. 542)

Es kommt zum Begriff der Wahrheit und der Gewissheit und zum Begriff der Wissenschaft. Wenn sich die Reflexion und das Denken vollständig klar werden, erkennen sie die Liebe als Quelle ihrer selbst:

„ Vollendete Wahrheit ist Wissenschaft: das Element aber der Wissenschaft ist die Reflexion. So wie nun diese letztere sich selbst klar wird als Liebe des Absoluten, und dasselbe, wie sie nun nothwendig muss, erfasset als schlechthin über alle Reflexion hinausliegend und derselben in jeder möglichen Form unzugänglich, geht sie erst ein in die reine, objective Wahrheit; so wie sie eben dadurch allein auch fähig wird, die Reflexion, die sich ihr vorher noch immer mit der Realität vermischte, rein auszuscheiden und aufzufassen, und alle Producte derselben an der Realität erschöpfend aufzustellen und so eine Wissenslehre zu begründen. — Kurz, die zu göttlicher Liebe gewordene und darum in Gott sich selbst rein vernichtende Reflexion ist der Standpunct der Wissenschaft; (…)“ (ebd. S 542)

Fichte kommt wieder auf den Johannes-Prolog zu sprechen: Er deutet das „im Anfange“ und das „Wort“ als das Dasein der Liebe.

„(…) das wahre aber und absolute Daseyn in seiner eigen|thümlichen Form (haben wir) als Liebe (sc. deduziert): sprechen wir jene Worte also aus: im Anfange: höher denn alle Zeit und absolute Schöpferin der Zeit, ist die Liebe, und die Liebe ist in Gott, denn sie ist sein Sichselbsterhalten im Daseyn: und die Liebe ist selbst Gott, in ihr ist er und bleibet er ewig, wie er in sich selbst ist. Durch sie, aus ihr, als Grundstoff, sind vermittelst der lebendigen Reflexion alle Dinge gemacht, und ohne sie ist nichts gemacht, was gemacht ist; (…)“ (ebd. S 543)

Per theoretischer Idealform wird die Möglichkeit universaler oder göttlicher Liebe objektiviert – und nach dem Vorbild 1. Johannesbrief beschrieben:

„Inwiefern daher der Mensch die Liebe ist, — und dies ist er in der Wurzel seines Lebens immer und kann nichts anderes seyn, obwohl er die Liebe seiner selbst seyn kann; — und inwiefern insbesondere er die Liebe Gottes ist, bleibt er immer und ewig das Eine, Wahre, Unvergängliche, so wie Gott selbst, und bleibet Gott selbst; und es ist nicht eine kühne Metapher, sondern es ist buchstäbliche Wahrheit, was derselbe Johannes sagt: wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott, und Gott in ihm.“ (ebd. S 543)

Diese Idealform der Liebe kann nur individuell und interpersonal gelebt, aber nicht selbst direkt angeschaut werden, insofern Gottes Erscheinungs-Wirklichkeit und die Reflexionsform des Denkens den Gehalt der göttlichen Liebe in sich selbst verdeckt.

„Seine Reflexion nur ist es, welche dieses sein eignes, keinesweges ein fremdes Seyn ihm erst entfremdet, und in der ganzen Unendlichkeit zu ergreifen sucht dasjenige, was er selbst, immer und ewig und allgegenwärtig, ist und bleibt. Es ist daher nicht sein inneres Wesen, sein eigenes, ihm selbst, keinem fremden angehöriges, das da ewig sich verwandelt, sondern nur die Erscheinung dieses Wesens, welches im Wesen der Erscheinung ewig unerschwinglich bleibt, ist es, was sich verwandelt. Das Auge des Menschen verdeckt ihm Gott und spaltet das reine Licht in farbige Strahlen, haben wir zu seiner Zeit gesagt; jetzt sagen wir: Gott wird durch des Menschen Auge ihm verdeckt, lediglich darum, weil |er selbst sich durch dieses sein Auge verdeckt wird, und weil sein Sehen nie an sein eigenes Seyn zu reichen vermag.“ (ebd. S 543.544)

Es folgen interessante Erklärungen grundsätzlicher Art transzendentalen Erkennens: Die Reflexion und Reflexibilität, die Transzendentalität und das Sich-Wissen, sie sind nur durch die göttliche Liebe ermöglicht. Gerade das ist der Zugang zu einer übersinnlichen Welt:

„Die Liebe tritt nothwendig ein in der Reflexion und erscheinet unmittelbar als ein Leben, das eine persönlich sinnliche Existenz zu seinem Werkzeuge macht, also als ein Handeln des Individuums; und zwar als ein Handeln in einer durchaus ihr eignen, über alle Sinnlichkeit hinaus liegenden Sphäre, in einer völlig neuen Welt.“ (ebd. S 544)

Der deduktive Zusammenhang zum genetischen Ursprung in und aus der Liebe Gottes ist konstitutiv fĂĽr alles Erkennen und moralische Handeln:

„Wo die göttliche Liebe ist, da ist nothwendig diese Erscheinung; denn so erscheint die erstere durch sich, ohne ein dazwischentretendes neues Princip; und wiederum, wo diese Erscheinung nicht ist, da ist auch die göttliche Liebe nicht. Es ist durchaus vergeblich, dem, der nicht in der Liebe ist, zu sagen: handle moralisch; denn nur in der Liebe geht die moralische Welt auf, und ohne sie giebt es keine; und ebenso überflüssig ist es, dem, der da liebt, zu sagen, handle: denn seine Liebe lebet schon durch sich selbst, und das Handeln, und das moralische Handeln, ist bloss die stille Erscheinung dieses seines Lebens.“ (ebd.)

Das Handeln entfließt der Liebe. Man kann an das scholastische Prinzip denken: „agere sequitur esse“.

Auch die Spaltung der göttlichen Liebe in die Mehrheit von Individuen muss in der Erscheinung und für die Erscheinung zurückgenommen werden auf die Form eines einzigen Prinzips:

„Darum ist auch — hierdurch kommen wir zu dem Puncte zurück, bei welchem wir in der vorigen Rede stehen blieben, — darum ist auch die Spaltung des Einen göttlichen Lebens in verschiedene Individuen keinesweges in der Liebe, sondern sie ist lediglich in der Reflexion. Das sich unmittelbar als handelnd erscheinende Individuum sonach und alle ausser ihm erscheinende Individuen sind lediglich die Erscheinung der Einen Liebe, keinesweges aber die Sache selbst. In seinem eigenen Handeln soll die Liebe erscheinen, ausserdem wäre sie nicht da: das moralische Handeln anderer aber ist nicht die ihm unmittelbar zugängliche Erscheinung der Liebe; „(ebd. S 545).

Bemerkenswert scheint mir hier, dass Fichte unter der gelebten und praktizierten Liebe keineswegs nur eine romantische, gelungene Liebe beschreibt, eine „Alles-gut-Mentalität.“ Es gilt ebenso die Form der Anerkennung anderer Freiheit bereits als (bescheidene) Form der Liebe:


„(…) desselben Ermangeln beweiset gar nicht unmittelbar die Abwesenheit der Liebe; darum wird, wie wir schon in der vorigen Rede uns ausdrückten, die Moralität und Religiosität anderer nicht unbedingt gewollt, sondern mit der Bescheidung in die Freiheit anderer; und die Abwesenheit dieser allgemeinen Moralität stört nicht den Frieden der durchaus auf sich selber ruhenden Liebe.“
(ebd.)

Die Form der werthaften Liebe in und durch die Interpersonalität zeigt klare, wahrheitsgemäße Grenzen auf, die durch Reflexion festgelegt werden.

 

„Die Moralität und Religiosität des ganzen übrigen Geisterreichs hängt mit dem Handeln jedes besondern Individuums zunächst zusammen, wie zu bewirkendes mit seiner Ursache. Der moralisch Religiöse will Moralität und Religion allgemein verbreiten. Die Absonderung aber zwischen seiner und der andern Religiosität ist lediglich eine Absonderung in der Reflexion. Seine Affection durch den Erfolg oder Nichterfolg muss daher nach dem Gesetze der Reflexion erfolgen. Aber wie wir schon oben bei einer andern Gelegenheit ersehen haben, der eigenthümliche Affect der Reflexion ist Billigung oder Misbilligung, welche freilich nicht eben kalt seyn muss, sondern die um so leidenschaftlicher wird, je liebender der Mensch überhaupt ist.“ (ebd. S 545)

„ Zuvörderst ist von dieser religiösen Menschenliebe nichts entfernter, als jenes gepriesene gut seyn und immer gut seyn und alles gut seyn Lassen. Die letzte Denkart, weit entfernt die Liebe Gottes zu seyn, ist vielmehr die in einer frühern Rede sattsam geschilderte absolute Flachheit und innere Zerflossenheit eines Geistes, der weder zu lieben vermag, noch zu hassen. — Den religiösen Menschen kümmert nicht — es sey denn sein besonderer Beruf, für eine würdige Subsistenz der Menschen Sorge zu tragen, — die sinnliche Glückseligkeit des Menschengeschlechts, und er will kein Glück für dasselbe ausser in den Wegen der göttlichen Ordnung. (…)“ (ebd. S 546)

„Ihr wähnet, sagt Jesus, ich sey gekommen, Frieden zu bringen auf Erden, — Frieden: eben jenes Gutseynlassen alles dessen, was da ist; — nein, da ihr nun einmal seyd, wie ihr seyd, bringe ich euch das Schwert. Auch ist der religiöse Mensch weit entfernt von dem gleichfalls bekannten und oft empfohlenen Bestreben derselben erwähnten Flachheit, sich über die Zeitumgebungen etwas aufzubinden, damit man eben in jener behaglichen Stimmung bleiben könne; sie umzudeuten und ins Gut, eins Schöne hierüber zu erklären. Er will sie | sehen, wie sie sind in der Wahrheit, und er sieht sie so, denn die Liebe schärft auch das Auge; er urtheilt streng und scharf, aber richtig, und dringt in die Principien der herrschenden Denkart.“ (ebd. S 546.547)

Psychologisch sehr feinsinnig beschreibt Fichte: Es ist ein selbstgemachtes Elend, kennt man die göttliche Liebe nicht; es ist „der Fanatismus eigener Verkehrtheit“ (ebd. S 547), es ist eine Art Narzissmus u. a. m. (vgl. ebd. S 547).

Es bleibt diese beständige Hoffnung und Liebe(1 Kor 13) :

„Endlich, ganz entschieden, unveränderlich und ewig sich gleich bleibend, offenbaret im Religiösen die Liebe zu seinem Geschlechte sich dadurch, dass er schlechthin nie und unter keiner Bedingung es aufgiebt, an ihrer Veredlung zu arbeiten, und, was daraus folgt, schlechthin nie und unter keiner Bedingung die Hoffnung von ihnen aufgiebt. Sein Handeln ist ja die nothwendige Erscheinung seiner Liebe; wiederum aber geht sein Handeln nothwendig nach aussen und setzt ein Aussen für ihn, und setzt seinen Gedanken, dass in diesem Aussen etwas wirklich werden solle.“ (ebd. S 548)

Die Liebe Gottes ist unveränderlich, unerschĂĽtterlich – und sobald der Mensch will, „ (kann er) den sichersten Frieden und die unzerstörbarste Ruhe einladen (…) in seine Brust, sobald er ihrer begehrt.(…)“ (ebd. S 548)

„Endlich — und wo ist denn das Ende? — endlich muss doch alles einlaufen in den sichern Hafen der ewigen Ruhe und Seligkeit; endlich einmal muss doch heraustreten das göttliche Reich, und seine Gewalt und seine Kraft und seine Herrlichkeit.
Und so hätten wir denn die Grundzüge zu dem Gemälde des seligen Lebens, soweit ein solches Gemälde möglich ist, in einen Punct vereinigt. Die Seligkeit selbst besteht in der Liebe und in der ewigen Befriedigung der Liebe, und ist der Reflexion unzugänglich: der Begriff kann dieselbe nur negativ ausdrücken, so auch unsere Beschreibung, die in Begriffen einhergeht. Wir können nur zeigen, dass der Selige des Schmerzes, der Mühe, der Entbehrung frei ist; worin seine Seligkeit selbst positiv bestehe, lässt sich nicht beschreiben, sondern nur unmittelbar fühlen. „ (ebd. S 549)

Paränetisch-aufmunternd spricht er die Hörer und Leser nochmals an: Unselig macht uns nur der Zweifel. „Der Religiöse ist der Möglichkeit des Zweifels und der Ungewissheit auf ewig entnommen. In jedem Augenblicke weiss er bestimmt, was er will und wollen soll; denn ihm strömt die innerste Wurzel seines Lebens, sein Wille unverkennbar ewig fort unmittelbar aus der Gottheit:“ (ebd. S 549)

In stoizistischer Weise fügt sich der gläubige, gottergebene Mensch:

„In ihm ist keine Furcht über die Zukunft, denn ihn führt das absolut Selige ewig fort derselben entgegen; keine Reue über das Vergangene, denn inwiefern er nicht in Gott war, war er nichts, und dies ist nun vorbei, und erst seit seiner Einkehr in die Gottheit ist er zum Leben geboren; inwiefern er aber in Gott war, ist recht und gut, was er gethan hat. Er hat nie etwas sich zu versagen, oder sich nach etwas zu sehnen, denn er besitzt immer und ewig die ganze Fülle alles dessen, das er zu fassen vermag. (…)“ (ebd. S 550)

Im Schlussabsatz weist Fichte nochmals darauf hin, dass seine Ausführungen in keine Weltflucht enden mögen. Er wollte eben mit den Mitteln der Philosophie und der Erkenntnis die Prinzipien des Handelns aufzeigen.

„Es ist sehr wahr, dass man über diesen Gegenstand noch lange fortreden könnte, und dass es besonders sehr interessant seyn würde, den moralisch-religiösen Menschen, nachdem man ihn im Mittelpuncte seines Lebens kennen gelernt hat, von da aus zu begleiten in das gewöhnliche Leben, bis auf die gemeinsten Angelegenheiten und Umgebungen, und da ihn anzuschauen in seiner ganzen, wahrhaft rührenden Liebenswürdigkeit und Heiterkeit.“ (ebd.)

(c) Franz Strasser, 25. 7. 2023 

1Wie eine konkrete Werttheorie in der Liebe zum Nächsten inklusiv konflikthaft-prekäre Beziehung aussehen kann –siehe dazu R. Lauth, Ethik, Stuttgart 1969.

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser