Evolutionstheorie – 3. Anfrage; über Kategorien und Verhaltensforschung.

Gemäß transzendentallogischem Erkenntnisanspruch müssen alle Wissensbedingungen der Erfahrung aufgesucht werden. Im Unterschied zu KANT betreffen die gnoseologischen Wissensbedingungen der Erfahrung aber nicht nur die sinnlich äußeren Anschauungsbedingungen, vielmehr bedingen die transzendentalen Begriffe a priori genauso die sittlich-praktischen,  interpersonal-kulturellen, religiösen und geschichtlichen  Anschauungs- und  Verstehensmuster, so FICHTE. 

Die basale Empfindung (bei Fichte Gefühl) in der sinnlichen Erfahrung, wozu ich auch die interpersonale Aufforderung zähle, und das gehemmte Streben sind der existentielle Sitz der Kategorien und der Anschauungsformen. Selbst das Nicht-Denken eines Verneinten durch Negation, verdankt sich einem eigenen Setzungsakt und einer gedachten seienden Nicht-Realität.(Siehe schon „Sophistes“ bei PLATON) „Wir stehen unter dem Gesetz der Existenz, wenn wir irgend etwas unterscheidend auffassen.“ 1

Das Beziehen wie das Unterscheiden nehmen ihre elementare Kraft vom Schweben der Einbildungskraft, das als primäre Erkenntniskraft durch Unterscheiden und Beziehen eine Empfindung und Anschauung objektiviert. Nur innerhalb des Ichs (der Ichheit) wird unterschieden und bezogen. Selbst das Nicht-Ich, das ich vom Ich unterscheide, ist nur in diesem Gegensatz über ein Ich (oder im Vergleich mit dem Ich) mit dem Ich vereinbar zu denken.

Im Unterschied zu KANT werden bei FICHTE die Kategorien nicht in ihrer Realisierung in der Anschauung stehen gelassen oder bloß faktisch aufgenommen, sondern ebenfalls aus dem Denken abgeleitet. Evolution dem Begriffe nach zu denken als eine kontinuierliche, nachhaltige Entwicklungslinie, als eine Linie von identischen und differenten Elementen (in der sinnlichen Natur oder in der menschlichen Geschichte), verlangt deshalb a) eine Ableitung und Begründung aus dem Denken überhaupt und b) in concreto bereits die reflexiven Bestimmungen der Kategorie der Substantialität, der Kategorie des geistiges Kausieren in einer zeitlicher Apposition, und die vereinte Wechselwirkung in einer Synthesis der distributiv verbundenen Zwecke. 

Angenommen jetzt für den biologischen Bereich: Eine lebendige  Substanz ändert sich im Laufe der Geschichte dahingehend, dass z. B. eine Tierart jetzt so aussieht im Vergleich zu ihrer Vorgängersubstanz vor Tausenden von Jahren. Woher haben wir kategorial den Begriff der Substanz, und den Begriff der Dauer, und der Veränderung? Die basalen Ursprünge der Kategorien liegen im Unterscheidungs- und Beziehungsgrund des Ichs, im existentiellen Schweben der Einbildungskraft und ihrem implikativen Grund-Folge-Denken und appositionellen Kausieren (Ursache-Wirkungs-Denken). Für die biologische Welt bedeutet das: Sie wird aufgebaut durch Übertragung, Entäußerung und Entfremdung – und wird so  eine objektivierte Anschauung eines zeitlich Gewordenen, oder anders ausgedrückt, eines evolutiv Gewordenen. 

Die Entwicklung  und das Werden, übertragen auf das biologische Leben, oder auf die anorganische oder gesellschaftliche Welt, ist zuerst im Werden des Ichs (der Ichheit, der Denkbarkeit und Bestimmbarkeit, der substantiellen und zugleich dynamischen Gegenwart des Bewusstseins) angesiedelt. Nur im übertragenen Sinn spreche ich von einer äußeren, evolutiven Entwicklung auf der Objektseite der Anschauung. Die sogenannte „Evolutionstheorie“ reflektiert nicht mehr diese mehrfachen Übertragungen des Ichs in seiner Einheit und in seinem Werden  auf das Nicht-Ich und nimmt  alles als Prozess an sich an. 

Aber Entwicklungen, organisch oder anorganisch, kulturell oder geistig, sind doch unleugbar?! Warum und wie kommt es zu diesen Übertragungen und Entäußerungen und Entfremdungen einer zeitlichen Linie und räumlichen Ausdehnung  – bis hin zur Vorstellung einer anscheinend an sich ablaufenden  „evolutionären“ Entwicklung?

Wir finden z. B. ein Fossil eines versteinerten Fisches. Durch Entäußerung, Übertragung und Entfremdung vom Ich auf das Nicht-Ich sehen wir in diesem Fossil eine Jahrmillionen Jahre alte Spezies, die als Vorgängerspezies eines heutigen Fisches gedeutet wird. Es wird eine Beziehung hergestellt zwischen dem Fossil und dem lebenden Tier heute. Beziehen ist ein Akt des Ichs, ein Denkakt, der auf der subjektiven Ebene der ichlich-sinnlichen Natur mit der sinnlichen Rezeptivität des Ichs beginnt, genötigt durch eine Hemmung, und durch Anschauungsformen. Durch Verstand, Reflexionsideen, Vernunft  wird zugleich auf die objektiven Ebene der sinnlichen Natur (des Nicht-Ichs) die Vorstellung der Zeit und des Gewordenseins  übertragen, bis der Vorstellungstrieb zur Befriedigung der hinreichenden Bestimmung des Objektes gelangt ist. Der Vorstellungstrieb wird theoretisch damit befriedigt.  Die bestimmte, äußerlich gelenkte Vorstellung ist  z. B. mit der Erklärung der heutigen Spezies eines Fisches aus dem Fossil eines Jahrtausendjahre älteren Fisches zufrieden.

Woher aber dieser archäologische  und paläontologische Eros? Woher der Glaube an dieses evolutionäre Gewordensein? Wenn ich eine ausgestorbene Tierspezies in einem evolutiven Prozess zu einer verwandten, gegenwärtigen Tierspezies in Beziehung setzen kann, so will ich sagen, dass die spätere Tierart in der früheren Tierart implizit als möglich angelegt war. Ich stelle einen Vergleich her, eine Homologie2 
Der Vorstellungstrieb wird  dahingehend befriedigt, dass durch ein gedanklich entworfenen Postulat  ein Zusammenhangs das jetzigen gegenwärtigen Tieres mit dem ausgestorbenen Tier  hergestellt wird – und dies so: die zeitlich frühere Spezies ist Ursache der zeitlich späteren Spezies. Aber kann tatsächlich und notwendig aus der zeitlich früheren Spezies die spätere Spezies erklärt werden?
Die Dunkelheit des zeitlichen Nacheinanders wird durch Mutation und Selektion aufgefüllt und in eine „evolutionäre“ Entwicklungslinie umgedeutet.  Aus dem post hoc eines zeitlichen Nebeneinanders (das gefundene Fossil und das jetzige Tier) wird ein propter hoc eines zeitlichen Aufeinanders, weil, ja warum?, ein gewisses, theoretisches und praktisches Erklärungsbedürfnis befriedigt werden will:  Die Bestimmung einer gegenwärtigen Tierspezies als  „evolutionär“  geworden, das scheint uns theoretisch und praktisch besser – als die Ungewissheit eines vielleicht göttlichen Schöpfungsaktes oder eines Zufalles.  Weiß der Naturforscher, welche praktische Intention  in ihm steckt, wenn er „evolutionär“ fragt und sich „evolutionäre“ Antworten gibt?  

Wie sind „Homologien“ (=Ähnlichkeiten) denkbar?
Sie sind a) nur in einer grundsätzlichen Beziehung des Denkens zum Objekt feststellbar und ableitbar, und müssen
b) in den  Anschauungsformen und Denkformen auf die Objekte in plurali und untereinander übertragen werden.
Es bleibt
notwendig immer ein Rückbezug auf das zeitliche, existentielle Dauern wie zeitliche Werden im Ich und notwendig ein kategoriales Beziehen, sonst könnte eine andere Dauer, z. B. Millionen von Jahre, und eine  Dauer eines Gewordensein als solches,  nicht gedacht und bezogen und unterschieden werden. Es sind immer Übertragungen ichlicher Momente. Es ändert sich nichts in der sinnlichen Natur selbst, als sei die sinnliche Natur oder das organische Leben (die Materie, die Gene) vitalistisch begnadet, dass sie von selbst zu einer neuen genetischen und biologischen Formation oder zu einer neuen Tier- oder Pflanzenspezies übergehen könnten. 

Dazu eine Stelle aus der SITTENLEHRE Fichtes von 1798, worin es um die diskursiv-begriffliche Bestimmtheit der anschauungsmäßig gegebenen, sinnlichen Natur geht:

Der Natur überhaupt, als solcher, ist eine Kraft der Trägheit (vis inertiae) zuzuschreiben. Es geht dies aus dem Begriffe der Wirksamkeit eines freien Wesens hervor, die nothwendig in die Zeit fallen muss, wenn sie wahrnehmbar seyn soll; und dies nicht könnte, wenn sie nicht gesetzt würde, als durch die Objecte aufgehalten. Zwar scheint der Begriff einer Kraft der Trägheit widersprechend, aber er ist nichtsdestoweniger reell; es kommt nur darauf an, dass wir ihn richtig fassen. — Die Natur als solche, als Nicht-Ich und Object überhaupt, hat nur Ruhe, nur Seyn: sie ist, was sie ist, und insofern ist ihr gar keine thätige Kraft zuzuschreiben.“ (SW IV, 199, Hervorhebung von mir)

Kleine polemische Nebenbemerkung: In Österreich erfreut sich seit den Tagen von KONRAD LORENZ die Verhaltensforschung großer Beliebtheit. Ich schrieb kürzlich einmal einen Leserbrief zu drei Artikel in der Furche: Worum es genau ging, siehe dort Furche Nr. 44. v. 29. 10. 2015, Menschen denken, Tiere auch“, zu „Rabenpolitik und Wolfsgeschichten“ und zu dem intelligenten Papagei.
Es liegt in solchen Geschichten schlicht und einfach ein Kategorienfehler. Wir als Vernunftwesen übertragen unsere geistigen Fähigkeiten als evolutionäre Erklärungsschritte auf die Tiere – und natürlich müssen wir dann Homologien (Ähnlichkeiten) des Verhaltens auf verschiedenen Ebenen finden. 

Selbst bei sinnlichen Erscheinungformen sind die evolutionären Erklärungen nicht feststellbar (siehe oben 1. Anfrage zum mexikanischen Kärpfling), a fortiori sind  bei Verhaltensähnlichkeiten noch weniger die Homologien erkennbar.
Erstens werden den Verhaltensäußerungen notwendige substantielle Gemeinsamkeiten unterstellt z. B. die bio-physische Natur und Kraft, zweitens sollen Tier und Mensch durch diese determinierte  bio-physische Einheit auch ähnlich sich verhalten?

Aber unterstelle ich der Wahrnehmung eines Selbstbewusstseins nicht doch eine ganz andere intentionale Absicht als einem Tier? Wie kann ich rücksichtslos und unbedacht a) eine Abstraktion der spezifischen Wahrnehmung Mensch und der spezifischen Wahrnehmung Tier vornehmen – und b) beiderlei Wahrnehmung zu einer bio-physischen Einheit zusammenfassen, um sie späterhin vergleichen zu können?  Ich abstrahiere ein Verhalten – und supponiere es als gleiches Verhalten bei Mensch und beim Tier?  Das ist ein klassischer Zirkelschluss. 

Ist es nicht eigentlich seltsam und wunderbar, dass es eine Wechselwirkung des Lebendigen im Ganzen der Natur gibt – und seltsam, dass es angeblich so spezifische Homologien gibt, wonach wir ähnlich handeln wie manche Tiere, und die Tiere ähnlich wie die Menschen!? Der Grund dieser prästabilierten Harmonie, soll in einer materiellen und stofflichen Parallelität des Gewordenseins liegen, d. h. in der „Evolution“ des alles miteinander zusammenhängenden, real-kausal wirkenden,  naturalen Seins? (Das ist formal gleich zu Leibniz, der als Grund der Prästabilierung der Monaden Gottes Wirken annahm.)

Das Pantoffeltierchen weiß eigentlich nicht, warum es einem Hindernis ausweicht, noch weiß der Wolf oder der Papagei, warum er so jagt oder warum die geduldige Lehrerin ihm das beibringen will, aber in besagten Fällen eines evolutionistischen und ethologischen Denkens gestehen wir ihnen plötzlich diese Art und Weise einer   „Selbstbezüglichkeit“ und einer Verwandtschaft zum Vernunftwesen zu?  Natürlich, so sagen wir dann,  bei den Tieren geschieht das spontan, instinkthaft,  aber Parallelitäten zum Vernunftwesen „Mensch“ gestehen wir ihnen doch zu?  Die Ursache des Ausweichens (des Pantoffeltierchens), des Jagens eines Wolfes, das Nachsagen des Papageis,  woher diese Ähnlichkeit?  Woher diese angeblich gleiche Steuerung und Zweckgerichtetheit?      3

Gerade weil wir als Vernunftwesen den Zweckbegriff haben, übertragen, mehr noch, unterscheiden wir uns von den „Denkleistungen“ der Wölfe, der Papageien und sämtlicher Reiz-Reaktionsschemata in der Tierwelt (oder Pflanzenwelt) – und beschreiben ihr Tun und Lassen als funktionsfähig, angepasst, ja, oft viel besser angepasst als die Natur des Menschen. Soweit wir uns als Naturwesen begreifen (ebenfalls dank der Vernunft), schreiben wir unserem Leib notwendig eine der Natur angepasste Konstitution und Triebhaftigkeit  zu, sonst könnten wir biologisch und physisch nicht leben. Im und durch den Trieb erklärt sich und erfährt sich der Mensch gebunden an die sinnliche Natur, gebunden an die Elemente, an Brot und Wasser usw.. Pflanze, Mensch und Tier teilen sich den Selbsterhaltungstrieb. Doch was bedeutet ein Selbsterhaltungstrieb? Unser Leib, unser Nervensystem etc., sie sind eingebunden in einen regulativen,  anorganischen und konstitutiv-organischen Zweckzusammenhang, den wir nicht beliebig verändern können, sonst würden wir sterben (wir vermögen das zu antizipieren). Die Erkenntnis dieses naturalen Zweckzusammenhangs dank der Triebhaftigkeit unserer Natur liegt aber weder in der  sinnlichen Natur noch in der Mimesis der Nachahmung ähnlichen Verhaltens, sondern in einer übergeordneten, geistigen, sittlich-praktischen Wertordnung und daraus folgender Weltordnung. 

In der Verhaltensforschung, so scheint mir, geschehen permanent  schwere Kategorienfehler: Welche begriffliche Möglichkeit (Zweckhaftigkeit) sollte aus einem experimentellen Postulat entspringen, wenn gesagt wird,  dass Papageien eine Vorform der Sprache haben, oder dass die Hunde dieses und jenes Verhalten der Wölfe verlernt, dafür aber Dressuren der Menschen übernommen haben? Dass also alles irgendwie anerzogen und angelernt und nachgeahmt werden kann? Wenn ich eine realistische Projektion der Sprache in den Papagei hineinlege, erkenne ich die Analogien. Aber ist nicht die Ausgangsbasis und Definition des Postulates schon verkehrt? Was soll aus den Analogien abgeleitet werden? Dass alles in langen Zeiträumen genetisch und biologisch und ethologisch erklärbar ist,  dass Sprache und Verhalten konditionierte Dinge sind, Tier und Mensch sich in  vielen Dingen ähnlich verhalten usw.?  Dass die Grußformen des Menschen eine erste Stufe der Domestizierung sind usw?
Es sind für mich von vornherein falsche Sinnbestimmungen von Sprache, von Verhalten, von Grußformen…….  Wenn ich den Sinn von vornherein so bestimme, werde ich ihn andersherum im Verhalten der Tiere ablesen können, ja klar.
 Es wird herausgelesen, was vorher an (intellektuellen) Verstandesmustern  in das ganze Interpretament der naturalen Zusammenhänge und des naturalen Verhaltens    hineingelegt wurde. 

© Franz Strasser, 16. 12. 2015

1KLAUS HAMMACHER, Kategorien der Existenz in Fichtes Eigne Meditationen über Elementarphilosophie. In: Kategorien der Existenz. Festschrift für W. Janke, hrsg. v. Klaus Held, u. Jochen Hennigfeld, Würzburg 1993, S 96.

2Siehe dazu: Adalbert Mayer, Ähnlichkeit als Prinzip der Biologie und des Bewusstseins, in: Philosophie als Denkwerkzeug, Würzburg 1998

3Warum Konvergenzen so auffallend sind – siehe download.23.10.13  Molekulare Konvergenzen in unerwartetem Ausmaß

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser